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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1151–1153

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Neumann, Klaus

Titel/Untertitel:

Das Fremde verstehen - Grundlagen einer kulturanthropologischen Exegese. Untersuchungen zu paradigmatischen, mentalitätengeschichtlichen, ethnologischen und soziologischen Zugangswegen zu fremden Sinnwelten. Bd. 1 und Bd. 2 (Anhang und Anmerkungen).

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 632 S. u. S. 633-1123 m. Abb. 8 = Theologie, 18. Kart. ¬ 61,90. ISBN 3-8258-4261-4.

Rezensent:

Christian Strecker

Theoriedebatten haben derzeit Hochkonjunktur. Quer durch die Disziplinen der Geistes- respektive Kulturwissenschaften ist eine zunehmende Theoretisierung der fachwissenschaftlichen Diskussionen konstatierbar. Die bei Wolfgang Stegemann angefertigte und 1999 von der Augustana-Hochschule angenommene Dissertation von Klaus Neumann fügt sich diesem Trend im Raum der Theologie ein. Ihr spezielles Anliegen ist es, eine grundlegende Orientierung über jenes breite Diskursfeld der Sozialwissenschaften zu bieten, "aus dem eine kulturanthropologische oder mentalitätengeschichtliche Exegese ihre Modelle schwerpunktmäßig bezieht" (14). Die Untersuchung versteht sich dabei im Näheren als "ein Stück Grundlagenforschung", woraus sich für N. eine besondere "Anwendungsferne" (13) ergibt. Dementsprechend finden sich hier weder exegetische Forschungen noch das Alte oder Neue Testament selbst eingehender behandelt. N. geht es vielmehr allein um eine kritische Würdigung diverser sozialwissenschaftlicher Modelle und Theorien aus den Bereichen der Mentalitätengeschichte, der Soziologie und der Ethnologie, um auf diese Weise die "Voraussetzungen" für eine interdisziplinär ausgerichtete Exegese abzuklären. Den zahlreichen behandelten Theorien geht er dabei mit großer Akribie nach. Die zweibändige Studie erhält dadurch nahezu den Charakter eines sozialwissenschaftlichen Kompendiums. Die folgende Wiedergabe des Aufbaus der Arbeit vermag den beeindruckenden Reichtum der diskutierten Personen und Positionen so auch nur ansatzweise widerzuspiegeln.

Der erste Band untergliedert sich in sechs Hauptabschnitte: Er wird eröffnet (1.) mit einer detaillierten Darstellung der Entstehung und Entwicklung der historiographischen Annales-Schule (19-54). Es folgt (2.) eine eingehende Erörterung paradigmatischer Konzeptionen der Mentalitätengeschichte, die von E. Durkheim, L. Lévy-Bruhl und M. Mauss als Wegbereitern einer histoire des mentalités über deren klassische Vertreter (M. Bloch, L. Febvre, R. Mandrou, G. Duby und J. Le Goff) bis zu Ph. Ariès und den jüngeren Richtungen der "seriellen Geschichte", der microstoria und der "ethnologischen Geschichte" reicht (55-147). Im folgenden Abschnitt (3.) wendet sich N. dann der Ethnologie und Anthropologie im 20. Jh. zu. Nach einigen terminologischen Abklärungen werden hier die klassischen Positionen des Evolutionismus, der französischen Durkheimschule, der deutschen Völkerkunde, der amerikanischen Kulturanthropologie, des britischen (Struktur-)Funktionalismus sowie das Werk von E. Evans-Pritchard besprochen (149-258). Das 4. Kapitel befasst sich mit Modellen der soziologischen Handlungstheorie und der verstehenden Soziologie. Diskutiert werden Thesen von V. Pareto, Th. Geiger, M. Weber, T. Parsons, A. Schütz, G. H. Mead, H. Blumer, P. L. Berger, Th. Luckmann, E. Goffman u. a. (259-392). Ein eigenes Kapitel (5.) befasst sich dann mit der Entwicklung des Strukturalismus von C. Lévi-Strauss über P. Bourdieu bis zu M. Foucault (393-509). Der Band schließt (6.) mit einer Erörterung von Modellen aus dem Bereich der sog. Symbolanthropologie wie sie namentlich durch E. Leach, M. Douglas, V. Turner, C. Geertz und M. Sahlins vertreten wird (510-631). Ein abschließendes Fazit unterbleibt bewusst. Der zweite Band enthält neben Anmerkungen, ausführlichen Literaturhinweisen zu den einzelnen Abschnitten des ersten Bandes und einem aufwendigen Literaturverzeichnis noch zwei Anhänge: ein Florilegium aus Definitionen zum Mentalitätsbegriff und eine Abhandlung zu mathematischen Verfahren der Statistik.

Bemerkenswert ist, wie es N. im Verlauf seiner Darlegungen immer wieder gelingt, die vorgestellten Positionen miteinander ins Spiel zu bringen. Dadurch entsteht insgesamt ein profundes Bild sozialwissenschaftlicher Forschung im 20. Jh. in all ihren komplexen Verflechtungen. Allerdings verlangen manche Ausführungen dem/der Lesenden etwas Geduld ab, so z. B. die außerordentlich breit angelegte Betrachtung der segmentären Gesell- schaft der Nuer nach Evans-Pritchard (230 ff.) oder der Verwandtschaftssysteme bei Lévi-Strauss (404 ff.). Interessanter und vermutlich auch nutzbringender sind da die Kommentierungen etwa zu Geertz, Turner, Bourdieu und Foucault, und zwar gerade auch deshalb, weil die maßgeblich mit diesen Namen verbundenen Konzepte der "dichten Beschreibung", der "Ritualtheorie", der "Praxeologie" und der "Diskursanalyse" im gegenwärtigen intellektuellen Feld eine bedeutende Rolle spielen und zumal der Exegese viele neue Impulse geben können. Das erhebliche Potential dieser Ansätze indiziert nicht zuletzt auch die Geltung, die diesen inzwischen in der Geschichts- und Literaturwissenschaft zukommt. Gut wäre es vielleicht noch gewesen, wenn N. im Foucault-Teil (476-509) etwas ausführlicher auf dessen Erwägungen zu den antiken Selbstpraktiken und die These von der christlichen "Pastoralmacht" eingegangen wäre, sind diese doch für die ntl. Ethik von besonderem Interesse.

Gewinnbringend ist u. a. aber auch die Darstellung der Diskussion um die Bedeutung und das Verhältnis von Religion und Magie in der älteren Ethnologie (158 ff. u. ö.), die zumal in der Wunderfrage noch in der heutigen exegetischen Diskussion eine Rolle spielt. Bedauerlicherweise ist diese indes, wie auch manch anderer Schatz, im Inhaltsverzeichnis nicht eigens angezeigt. Man muss sich die betreffenden Stellen selbst zusammensuchen. Ein Sachregister wäre hier eine große Hilfe gewesen.

Erwähnt sei ferner, dass N. trotz der eingangs konzidierten "Anwendungsferne" die exegetische Forschung nicht völlig ausblendet. Neben einigen wenigen, freilich sehr knappen Seitenblicken auf das Neue Testament (z. B. 355: kurze Applikation der Rahmentheorie Goffmans auf Act 2,12-17) streift er diese zumindest in zwei von mehreren Exkursen: Zum einen steuert er einen interessanten Vergleich zwischen der Anthropologie um die Jahrhundertwende und Bultmanns Entmythologisierungsprogramm bei (168 ff.), zum anderen stellt er im Anschluss an Evans-Pritchard einige Überlegungen zur Bedeutung der Sühnopfermetaphorik in der protestantischen Exegese an (252 ff.).

Insgesamt lässt sich festhalten: Wer - durch den Haupttitel freilich leicht dazu verleitet - eine methodische Grundlegung kulturanthropologischer Exegese oder eine Auswertung explizit hermeneutischer Modelle des Fremdverstehens für die Interpretation der Bibel erwartet, wird seine Erwartungen sicherlich nicht erfüllt sehen. Wer indes nach einer gründlichen Darbietung sozialwissenschaftlicher Forschung als Anregung für die eigene exegetische und theologische Arbeit sucht, wird das Buch mit Gewinn als Inspirationsquelle und Nachschlagewerk verwenden können.