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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1147–1151

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hossfeld, Frank-Lothar [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. 289 S. 8 = Quaestiones disputatae, 185. Kart. ¬ 24,50. ISBN 3-451-02185-4.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Die aufschlussreichen Referate der Jahrestagung 1999 der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen katholischen Alttestamentler berühren 1. die traditionellen Hauptthemen der neueren alttestamentlichen Theologie (Referat II-IV) und 2. Diskussionen über das Verhältnis der Testamente - jüdisch von Tora und Talmud - bzw. den christlichen Gebrauch des Alten Testaments (Referat V-IX). Sie spiegeln in spezifischer Weise die augenblickliche Diskussionslage auf diesem Gebiet wider.

Nach F.-L. Hossfelds Einleitung (7-12): "Fundamentalhermeneutische Verschiebungen" geht es um die Einsicht in den doppelten Ausgang der Schrift in Judentum und Christentum, die Neuinterpretation des Zusammenhangs zwischen AT und NT und die doppelte Leserichtung zwischen den Testamenten (8). Vor, während und nach der Tagung entwickelte sich eine echte Diskussion unter den Referenten (vgl. u. a. 11; 111, Anm. 3).

N. Lohfink stellt in seinem Beitrag "Alttestamentliche Wissenschaft als Theologie. 44 Thesen" (13-47) eine durchlaufende Kommentierung den eigentlichen Thesen (38-43) voran. Das erlaubt auch eine kontinuierliche Lektüre. L. schlägt als Lösung für das Grundproblem, wie eine biblische Theologie angesichts der Vielfalt alttestamentlicher Schriften unterschiedlicher Prägung zu einer Einheit finden kann, vor, zwischen einer historischen und einer systematischen Aufgabe zu unterscheiden. Begriffsuntersuchungen, Exegese von alttestamentlichen Schriften, Textvorstufenuntersuchungen, auch kanonredaktionelle Forschungen rechnet L. zur historisch-kritischen Exegese. Dagegen, zusammenfassend zu untersuchen, was AT, NT oder die ganze Bibel zu sagen haben, ist eine (bibelorientierte) systematisch-theologische Aufgabe (vgl. zu Gabler, 27). Richtig gesehen wird, dass ein solches Unternehmen an eine "kirchliche Kontextualisierung" gebunden ist (27). Damit wird allerdings das Vorgehen W. Brueggemanns und H. Räisänens mit ihrer Entgrenzung von Interpretationsgemeinschaft und Kanon (vgl. 26) als radikale Säkularisierung entlarvt! Nach L. ist deshalb auf dieser Ebene eine getrennte "Theologie des AT" und des NT unmöglich (These 38). Das Grundsatzproblem des Verhältnisses zwischen historischen und dogmatischen Wahrheiten, das schon Gabler thematisierte, wird damit neu angeschnitten. Allerdings müsste man im Kontext wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik fragen, ob es eine rein historische ("objektive"?) Darstellung überhaupt geben kann. Der postulierte Gegensatz verschöbe sich dann auf das Gegenüber zweier Wirkungsgeschichten - einer kirchlichen und einer säkularen. Erstere würde dann freilich eine auch für Juden lesbare Theologie des AT (R. Rendtorff) vom Ansatz her ausschließen.

L. Schwienhorst-Schönberger, "Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?" (48-87), argwöhnt zu diesem viel behandelten Problem, die Suche nach einer "Mitte" der Schrift sei der "verzweifelte Versuch" (53) der historisch-kritischen Wissenschaft, die durch die Verschiebung des Offenbarungsverständnisses seit dem Deismus verlorene Einheit der Schrift mit exegetischen Mitteln wiederzugewinnen.

S. Herrmanns literaturwissenschaftlicher Vorschlag, ein alttestamentliches Buch (das Dtn) als "Sinnmitte" der Schrift zu wählen ("Die konstruktive Restauration" - FS von Rad, 1971), und W. Zimmerlis theologische Position (VT 1963), gegen von Rads Absage an eine "Mitte", JHWH als den "perspektivischen Fluchtpunkt" zu sehen, sind Kontrastbeispiele. "Moderne Exegese und postmoderne Hermeneutik" (62-68) nennt zwei moderne Prämissen, die nach S.-S. beide "fallen bzw. stark modifiziert werden" müssten: 1. "Der Text der Bibel ist eindeutig." 2. Subjekt der Auslegung ist nicht mehr die "Interpretationsgemeinschaft" (Synagoge, Kirche), sondern das Individuum. Einsichten der Rezeptionsästhetik über die Vieldeutigkeit von Texten ("Konstanzer Schule", H. R. Jauß), ja, des Dekonstruktivismus,1 führen S.-S. zurück zur patristischen und mittelalterlichen Bibelauslegung (62-66). Allerdings: Der zwei- bis vierfache Schriftsinn war keineswegs "ergebnisoffen", sondern durch inhaltliche Vorgaben festgelegt! Außerdem geht auch für die Rezeptionsästhetik der sensus auctoris allen ableitbaren sensus zeitlich und sachlich voran.2 Das schränkt in Wahrheit den regressus ein!

In den anschließenden "Thesen zur biblischen Hermeneutik" (66-68) spannt sich der Bogen von der Polysemie der biblischen Texte (Th.1) über den Kanon als literarischen zu der Interpretationsgemeinschaft als lebensweltlichem Kontext (Th. 2- 6.9-11). Katholisch-ekklesialer Hintergrund zeigt sich in Th.12 über "die Notwendigkeit eines von der Rezeptionsgemeinschaft akzeptierten Verfahrens der Sinnbegrenzung", u. a. durch das Kirchliche Lehramt (68).

Der "Lösungsvorschlag" (68-80) unterscheidet zwischen "Mitte" im Sinn von Thema, Bedeutungskern, Sinn (Literaturwissenschaft) und "Mitte" als Einheit (Theologie; "auktoriales" und christologisches Verständnis). Die Einheit (nicht Einheitlichkeit) begründet sich beim Leser der Schrift durch die Christuserfahrung und deshalb die Hinzufügung des NT zum AT. Der Glaube richtet sich auf Gott. "Die Schrift ist letztlich nur ein Medium" (78). - "Zusammenfassung" (80-82): Literaturwissenschaftlich ist für S.-S. der Begriff "Mitte" bei (durchaus sinnvollen) systematisierenden Interpretationen literarischer Werke entbehrlich. "Auktoriales" Verständnis von "Mitte" wird "unter voller Rezeption einer durch Semiotik operationalisierten Rezeptionsästhetik" (81) aufgenommen.

Othmar Keel, "Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?" (88-109), debattiert die Sammelbände JBTh 10 (1995) und von Janowski/Köckert (Religionsgeschichte Israels. Formale und materiale Aspekte. Gütersloh 1999). Das alternative "Oder" in dem ihm gestellten Thema lehnt er ab. Die differenziertere Frage: "Wie sollte eine Religionsgeschichte Israels bzw. eine Theologie des Alten Testaments aussehen bzw. was sollte sie leisten?" beantwortet er in einer - stark polemisch getönten- Begriffsanalyse:

I. "Altes Testament" (89-92): a) An N. P. Lemche (JBTh 10, 83 f.), der das AT nach der "external evidence" der ältesten Handschriften in hellenistisch-römischer Zeit ansetzt, kritisiert er mechanisches Vorgehen und das Fehlen innerer Kriterien. Entsprechend würde die Ilias aus dem 10. Jh. nach Christus stammen! b) "Das Alte Testament ist kein Buch" (91). Es "wird m. E. am angemessensten als Schriftensammlung einer kulturellen Einheit verstanden." - K. verwirft in II. "Theologie" R. Albertz' Definition (JBTh 10, 183) als barthianisch-christlich. Das sei "unangebracht" in einer multikulturellen, ja, weithin nachchristlichen Welt. - Wirklich? Ist T. Sundermeiers religionswissenschaftliche Definition (JBTh 10, 198 f.), weil bis zum a-theistischen Buddhismus hin "praktikabel", besser? K. unterscheidet selbst zwischen "Theologie als historischer Disziplin [...] und Theologie als Sinnstiftung". Gleich darauf stellt er jedoch fest, dass es voraussetzungslose Wissenschaft nicht gibt. Wieder geht die Unklarheit letztlich auf Gablers aufklärerische Trennung zwischen biblischer = historischer und systematischer Theologie zurück. - Auch in III. "Theologie des Alten Testaments" findet sich die gleiche Grundtendenz, das theologische Verständnis der alttestamentlichen Schriften nicht auf die "amtskirchliche Einbahnstraße" (98) zu begrenzen. Der Rückgriff auf die "Vorstellung von Gott als dem Schöpfer aller Menschen" erlaubt einen uneingeschränkten multikulturellen Dialog (einbegriffen Feminismus u. a.) im Sinne der Nächstenliebe. Dies alles erinnert verdächtig an Lessing und seinen "Nathan"! - Zur "Religionsgeschichte (Israels)" (V.) listet K. eine ganze Reihe von Forderungen auf, u. a. stärkere Berücksichtigung archäologischer Funde zum täglichen Leben. Albertz' Werk sei eine "Theologiegeschichte". "Eine Religionsgeschichte Israels ist erst noch zu schreiben" (100).

Die Zusammenfassung (VI.; 107 f.) des im Einzelnen schwer überschaubaren Beitrags unterscheidet noch einmal eine, historisch definierte, "Theologie des Alten Testaments" als Teil der "Religionsgeschichte Israels/Judas" und einen glaubenstheologischen Zugang vom Neuen Testament aus. Glaubenstheologie und Religionsgeschichte werden sich nach K. aber immer wieder vermischen.

Auch in dem Beitrag von W. Groß, "Ist biblisch-theologische Auslegung ein integrierender Methodenschritt?" (110-149), geht es - in ausdrücklichem Gespräch mit Lohfink - um das Nebeneinander von "historischer" biblischer Theologie und einem "systematische[n] Bedenken des u. a. in der Bibel grundgelegten Glaubens der Kirche" (142). G. fragt, ob und wie "kanonische" Exegese - als "synchrone Auslegung des auf einen bestimmten Rahmen bezogenen Endtextes" (111) in die exegetischen Methodenschritte eingeordnet werden kann. Das Ergebnis ist eher negativ: Angesichts einer unüberwindbaren Vielfalt der biblischen Bücher (Büchergruppen) - der Kanon hilft hier inhaltlich nichts! (144 f.) - und ihrer Autoren/Redaktoren (142) sei der Exeget bei einer aktuell aussagbaren Systematisierung "heillos überfordert" (143). Allenfalls in Zusammenarbeit mit u. a. der Systematik sei eine Lösung denkbar. Auch hier gilt jedoch: Die Trennung zwischen "historisch" und "systematisch" ist hermeneutisch längst überholt. Der Exeget müsste selbst wieder mehr Theologe werden!

Im Beitrag von B. Janowski, "Verstehst du auch, was du liest? Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel" (150- 191), ist gerade das offensichtlich beabsichtigt. Ausgehend von Apg 8,26-40 verfolgt er das Modell einer "kanonischen Dialogizität" (E. Zenger; vgl. Anm. 19) oder "Kontinuität" (B. S. Childs), d. h. einer doppelten Fragerichtung zwischen den Testamenten, wobei die neutestamentlichen Autoren das Christusereignis im Horizont des Alten Testaments zu verstehen suchen (I.; 151-61). J. spricht - unter Ablehnung der gängigen Typologie und eines "traditionsgeschichtlichen Kontinuums" - von "gemeinsamen Tiefenstrukturen beider Testamente" (182). Am Beispiel des Gebrauchs der Psalmen in der Markuspassion (162-171) für "gesamtbiblische Intertextualität" (II.; 161-179) wird gezeigt, wie "Jesus als leidender Gerechter unter Rekurs auf die Psalmen Israels dargestellt" (172) wird. Die "Sinnrichtung des Psalters" - der als "privates" Meditationsbuch (173) allerdings wohl nur in einem Aspekt gewürdigt wird - sucht dessen eigene Gesamtaussage unter den Aspekten der "Messianisierung" und "Davidisierung" (176-179) zu beschreiben. Die durch Redaktionsarbeit entstandene "Multiperspektivität" (177 f.) der Bibel soll auch das Miteinander von "Ich"- und "Wir"-Perspektivität lösen helfen.3 Die "Schlußüberlegungen" (179-184) betonen die "zweifache Leserichtung der christlichen Bibel" (181), die "Ursprungssinn" und "Rezeptionssinn" unterscheidet (182). Trotz "kontrastiver" "Einheit in der Sache" beider Testamente (184) ermutigt J. - die "Bibel Israels" als kanonische Schrift des Judentums respektierend (181) -, die christliche Bibel als Einheit zu lesen.

E. L. Ehrlich, "Die Bedeutung des Talmud für die Verbindlichkeit der Tora" (192-199), beschreibt undialogisch die bekannte jüdische Position.

Stark polemische Begriffsreflexionen charakterisieren den Beitrag von H. Frankemölle, "Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeit und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers" (200-278). Ausgangspunkt ist die "historische" Frage, "ob die terminologisch heute festgelegten Begriffe auch für das 1. Jh. nach Chr. zutreffend sind" - "bzw. damaligen und heutigen jüdischen Glauben angemessen wahrnehmen oder das Judentum wissenschaftlich-exegetisch erneut enterben" (207). Die Tendenz ist sofort klar. Den Begriff "Kommentar" bezeichnet F. aus gewichtigen Gründen als für das Verhältnis von AT zu NT "zu undifferenziert" (209) und hermeneutisch defizitär (214).

Auch innerhalb des AT seien Propheten- und Weisheitsbücher nicht "Kommentar" der Tora, auch nicht die jüdische Halacha zur Zeit Jesu. Die mündliche Tora sei selbständig neben der schriftlichen. Einzig die Pescharim von Qumran (und ggf. die Midraschim) entsprächen diesem Typ (213).

Anschließend handelt F. ausführlichst über die Problematik der "biblischen" Theologie (215-274). Radikal kritisiert er die übliche Begrifflichkeit. F. versetzt sich bewusst (s. o.) in das 1. Jh. n. Chr., in die "Perspektive der ersten Leser" (216) zurück. Begriffe wie "Neues Testament" (217 f.), "Altes Testament" und "Bibel", "biblische Theologie" (218-233) werden anachronistisch, weil es damals weder ein abgeschlossenes Neues Testament noch einen alttestamentlichen Kanon (225-30) gab. Der dahinter verborgene Einwand des Antijudaismus etwa gegen eine "Theologie des Alten Testaments" (231) ist m. E. in dieser Form nicht begründet.

Dürfen wir Begriffe wie "Kanon" wissenschaftlich nicht gebrauchen, weil sie "patristisch" sind? Natürlich reden wir in der Sprache unserer Zeit und kommentieren im Kontext einer langen christlichen Rezeptionsgeschichte. F.s Feststellungen zum 1. Jh. n. Chr. sind zwar für das historische Verständnis der neutestamentlichen Rezeption alttestamentlicher Schriften wichtig, nicht jedoch für den von späteren Entwicklungen gesetzten Rahmen, den wir legitim mit "Kanon" und "Bibel" bezeichnen.

Ist dieser Rundumschlag abgewehrt, können die im Übrigen wertvollen Beobachtungen F.s. angemessen gewürdigt werden. Unumstritten ist z. B. der hier wiederholte Hinweis auf den Hintergrund des NT in "Erfahrungen konkreter Menschen und ihrer Glaubensgemeinschaft, eine auf den Glauben an Gottes Handeln in und durch Jesus von Nazaret begründete Identität zu finden", und zwar zuerst innerhalb des jüdischen Glaubens (237). Auch Jesus habe sich nicht von ihm getrennt, sondern sei als Toralehrer zu verstehen (246 f.). Kein Zweifel, dass die Öffnung zu den Heiden erst auf Paulus zurückgeht! Ebenso, dass die "Schrift" für die ersten Christen keine Einheit war, sondern "eine Vielfalt divergenter Prätexte" (Beispiel: unterschiedliche Rezeption von Gen 15,6 in Jak 2,23, Gal 3,6; Röm 4,3; 239). Weitere Themen sind die Wandlungen des Jesusbildes in den Evangelien, die Übereinstimmung zwischen Rezeptionsweisen wie Verheißung und Erfüllung, Typologie und Allegorie zwischen anderen jüdischen Gruppen und neutestamentlichen Autoren (245). Kritik übt F. an H. Hübners (u.a.: Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1-3, Göttingen 1990-95 [Bd. 4 in Vorbereitung]) Einschränkung der Funktion des Alten Testaments (F.: "der heiligen Schriften Israels") auf ausdrückliche Zitate. Fraglich ist die Forderung F.s, die "übliche Christus-allein-Theologie bei der Auslegung des Neuen Testamentes aufzugeben und durch eine Gott-Christus-Theologie zu ersetzen" (248, Gegenstimmen Anm. 136). Wenn ja, müsste man trinitarisch formulieren!

Die Adversus-Judaeos-Theologie nachneutestamentlicher Rezipienten des jetzt existierenden Alten Testaments will F. nicht als Wirkungsgeschichte, sondern "als Geschichte ihrer Rezeption" (254) verstehen. Innerhalb dieses Abschnittes (IV. Hermeneutische Aspekte der Rezeption der heiligen Schriften Israels, 254-274) werden auch Probleme behandelt wie "Intertextualität" (Kritik: Autor und Leser würden ausgeblendet, 256, ähnlich auch zur "kanonischen Dialogizität", vgl. o.), der "Text an sich" (258 eine berechtigte Kritik am historischen Objektivismus), mit Mußner (Traktat über die Juden, München 1979) wird die Eigenwertigkeit der "heiligen Schriften Israels" betont, Themen wie Monotheismus, Schöpfungsglauben usw. als Glaubenserbe Israels aufgezählt (259). Gegen den "doppelten Ausgang des Alten Testaments in Judentum und Christentum" (K. Koch) setzt F. die Vielfalt der Rezeptionen in verschiedenen jüdischen und christlichen Gruppen (262 f.). Er fordert die "Bereitschaft der Christen, den Absolutheitsanspruch des Christentums zu relativieren und die theologisch gleichrangige Dignität und Eigenständigkeit der jüdischen Rezeptionsgeschichte der heiligen Schriften Israels in Mischna und Talmud anzuerkennen." (263). Dahinter steht das Problem der Relativierung jeder existentiellen Wahrheit!

Nach einem Abschnitt über die "Rezeptionsperspektive urchristlicher Theologen" (264-271) wird abschließend nach der Rolle des Exegeten heute gefragt. Das Rezeptionsmodell rechnet mit einem Dialog "von Rezipienten in je unterschiedlich konkreten lebensgeschichtlichen Situationen" (272). "Auschwitz", der dadurch ausgelöste jüdisch-christliche Dialog, ist dabei für F. zentral (273). Das wird weiter zu diskutieren sein.

Der Beitrag des Systematikers K. Lehmann "Das Alte Testament als Offenbarung der Kirche" (279-289) bietet dazu einen Ansatz. L. sieht in der doppelten Wirkungsgeschichte des Alten Testaments "die Herausforderung (Hervorhebung von mir) des doppelten Verstehens des ersten Teils der christlichen Bibel". Es gehe nicht um einen interreligiösen Dialog: "Hier kann man sich der Konfrontation mit Israel und dem Judentum nicht entziehen" (281). Auch L. sieht durch den Holocaust allerdings "die Frage nach dem Eigenwert des Alten Testaments verstärkt" (ebd.) und nennt entsprechende Themen zum "Reichtum des Alten Testaments". Er fürchtet aber auch den Verlust des Propriums des Neuen Testaments. Es müsse "nach einer neuen Balance in der Spannung zwischen Altem und Neuem Testament gesucht werden." (283). Das Alte Testament hat eine eigene Bestimmtheit: Die doppelte Lese- und Interpretationsrichtung der christlichen Bibel, bei der es zuerst allein, dann noch einmal vom Neuen Testament her gelesen wird. Im Alten Testament sei selbst "ein stetiges Sich-Überschreiten des jeweiligen Textes zu einer neuen Deutung" (vgl. von Rad!) anzutreffen. "Diesen dynamischen Überschuss des Alten Testaments" möchte L. auch auf frühjüdische Auslegungen der Schrift ausdehnen. So erschließt sich ein "verborgener Zielsinn des Alten Testaments". "Es gibt meines Erachtens eben doch eine durch Jesus Christus und in ihm allein geschehende Erfüllung alttestamentlicher Prophetien und Verheißungen" (287), wobei L. noch die ausstehende eschatologische Erfüllung hinzufügt.

Alle Beiträge enden mit einer guten Bibliographie. Der Glanz des anregenden Bandes wird leider durch die teilweise schlechte Druckausführung etwas gemindert. U. a. Textlücke S. 255; Doppeldruck 175/6. Willkürliche Umschriften, die man nur verstehen kann, wenn man das Original kennt.

Fussnoten:

1) In seinen Thesen 6-9 (s. u.) grenzt sich S.-S. allerdings gegen den Dekonstruktivismus entschieden ab.

2) S.-S. spricht nur von Gott als dem Urheber (auctor) der Schrift, 70.

3) Zu erinnern wäre an die Forschungsgeschichte des 19. Jh.s, in der die Psalmen generell kollektiv verstanden wurden, bis E. Balla, Das Ich der Psalmen (1912), die Individualdeutung populär machte.