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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1139–1146

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Friedrich

Titel/Untertitel:

LER in Brandenburg - am Ende des Streits?

Bilanz und Perspektiven nach der "einvernehmlichen Verständigung"

Im Sommer dieses Jahres ist nach mehr als zehn Jahren der Streit um das Brandenburger Schulfach "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" zu einem zumindest vorläufigen Ende gekommen. Erreicht wurde dies vor allem durch zwei Schritte: Im Dezember 2001 legte das Bundesverfassungsgericht (BVG) den an den verschiedenen Verfassungsklagen gegen LER Beteiligten den Vorschlag für eine "einvernehmliche Verständigung" vor. Auf der Grundlage dieses Vorschlags kam es im Juli 2002 zu einer Vereinbarung zwischen Staat und Kirchen, die ihrerseits inzwischen zu einer entsprechenden Novellierung des Schulgesetzes in Brandenburg geführt hat. Auch wenn, wie aus der Presse zu erfahren war, einzelne Eltern sich nicht mit dieser Verständigung zufrieden geben und an ihrer Klage festhalten, ist doch davon auszugehen, dass der Streit um LER jedenfalls insofern an ein vorläufiges Ende gekommen ist, als die nunmehr getroffenen Regelungen die Zustimmung wenigstens von Staat und Kirche finden.

Es darf wohl ohne Übertreibung gesagt werden, dass der Streit um LER mit seinen rechtlichen, politischen, pädagogischen, religionspädagogischen und theologischen Dimensionen zu den Meilensteinen auf dem Weg der Entwicklung der Schule in ihrem Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften und zu Religion als Bildungsinhalt gezählt werden muss. Insofern steht er in einem direkten Sachzusammenhang nicht nur mit dem sich an die Trennung von Staat und Kirche 1918/19 anschließenden Streit um den Religionsunterricht bzw. dessen Abschaffung oder mit den Auseinandersetzungen um den schulischen Religionsunterricht in den ersten Jahren nach der Gründung der DDR, sondern dieser Streit gehört auch in die lange Reihe der immer wieder neu aufbrechenden politischen und pädagogischen Proteste gegen einen unter Beteiligung der Religionsgemeinschaften erteilten Religionsunterricht in der Schule, für die symbolisch der Bremer Schulstreit zu Beginn des 20. Jh.s stehen kann. Insofern lohnt es sich, noch einmal auf den Streit um LER zurückzublicken - in bilanzierender Absicht und mit der Frage nach Perspektiven für die Weiterarbeit.

Angesichts der leicht greifbaren Einzeldarstellungen und Sammelbände1 zum Verlauf des Streits soll allerdings keine erneute Darstellung solcher Fragen versucht werden, sondern sollen zunächst lediglich noch einmal die Kernfragen im Streit um LER benannt werden. In weiteren Schritten wird es um eine Würdigung des vom BVG vorgelegten Vorschlags gehen sowie und vor allem um ungelöste Probleme und offene Fragen. Am Ende stehen Überlegungen zu Perspektiven für die Weiterarbeit.

1. Noch einmal: Worum es ging und geht

Wie sehr die Darstellung geschichtlicher Entwicklungen eine Frage der Perspektive ist, wird im vorliegenden Falle gleichsam exemplarisch deutlich. Vergleicht man beispielsweise die aus evangelischer Sicht geschriebene Darstellung von K. E. Nipkow "Die Herausforderung aus Brandenburg"2 mit dem vom Wissenschaftlichen Beirat LER vorgelegten Bericht "Der historische und fachliche Kontext von LER"3, dann treten die Unterschiede in der Problemwahrnehmung der wesentlichen Streitfragen mit aller Deutlichkeit vor Augen. So steht auch die vorliegende Darstellung unter dem Vorbehalt einer perspektivischen Betrachtungsweise, die dem Urteil der künftigen historischen Forschung nicht vorgreifen kann.

Zumindest der äußere Verlauf des Streits um LER bzw. der Entwicklungen, die letztlich zum Schulfach LER in seiner heutigen Gestalt geführt haben, können aber nicht strittig sein. Mit der Deutschen Vereinigung von 1990, die rechtlich als Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzogen wurde, traten auch die grundgesetzlichen Regelungen hinsichtlich des Religionsunterrichts für die Neuen Bundesländer in Kraft. In allen diesen Ländern, mit Ausnahme Brandenburgs, ist anerkannt, dass dies Religionsunterricht nach Art. 7,3 GG (Religionsunterricht als "ordentliches Lehrfach", das "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften" erteilt wird) bedeutet, wobei hier von den z. T. noch immer großen Schwierigkeiten der entsprechenden Einrichtung von Religionsunterricht im Einzelnen nicht berichtet werden kann. Hingegen entschloss sich das Land Brandenburg nicht zu einem konfessionellen, nach Konfessionen oder Religionen getrennten Religionsunterricht, sondern verfolgte zunächst die Idee eines Lernbereichs "Lebensgestaltung - Ethik - Religion", wie er im Grundsatzpapier des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport dieses Landes von 1991 greifbar wird.4 Als leitende Gesichtspunkte werden damals u. a. genannt, dass "die weltanschauliche Trennung der Schülerinnen und Schüler, insbesondere in einem Lernbereich, in dem es um wesentliche Fragen des Lebens und menschlichen Zusammenlebens geht, den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gerecht wird" und dass stattdessen "das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit bieten" solle, "Verständnis und Toleranz für Fremdes und Dialogfähigkeit zu fördern". In der später klarer ausformulierten rechtlichen Begründung wird vor allem Art. 141 GG für die Möglichkeit eines solchen, von Art. 7,3 GG abweichenden Lernbereichs in Anspruch genommen (die sog. "Bremer Klausel" lautet: "Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand"). Ein mehrjähriger Modellversuch zu LER schloss sich an, auch mit wissenschaftlicher Begleitung.5 Im Gesetz über die Schulen im Land Brandenburg vom 12. April 1996 wird die Einführung des Faches Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde festgelegt, wobei zweierlei bemerkenswert ist: Zum einen ist nun von "Religionskunde" die Rede, nicht mehr von "Religion" (in der Zeit des Schulversuchs war zum Teil auch von "Religionen" gesprochen worden), was zum Ausdruck bringen soll, dass, wie es in 11, Absatz 3 des Schulgesetzes heißt, LER "bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet" wird. Gleichwohl räumt das Schulgesetz in 141 eine Befreiungsmöglichkeit von LER ein, unter der Voraussetzung, dass ein "hinreichender Unterricht" gewährleistet ist - was vom Ministerium im Blick auf den kirchlichen Unterricht anerkannt wird.6 In 9,2 wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften zudem das Recht eingeräumt, "in den Räumen der Schule nach ihrem Bekenntnis zu unterrichten (Religionsunterricht)", d. h. einen von der Kirche verantworteten Religionsunterricht zwar in den Räumen der Schule, aber eben außerhalb der Stundentafel und damit nicht als Teil der Schule zu erteilen.

Gegen die Regelungen des Schulgesetzes von 1996 richteten sich die von verschiedenen Seiten erhobenen Verfassungsbeschwerden (u. a. verschiedener katholischer Bistümer und der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg) bzw. der Normenkontrollantrag (getragen von 279 Abgeordneten des Deutschen Bundestages). In diesen Verfahren äußerte sich das BVG erst in dem eingangs genannten Vorschlag zu einer "einvernehmlichen Verständigung" vom Dezember 2001. In diesem Vorschlag, der es den Beteiligten überlässt, eine Verständigung zu erreichen, blieb und bleibt ungeklärt, ob das Land Brandenburg tatsächlich Art. 141 GG für sich in Anspruch nehmen kann - was vor allem im Blick auf die fehlende Kontinuität in der Existenz dieses Landes bezweifelt werden kann (die Länder wurden zur Zeit der DDR aufgelöst und erst später wieder neu gegründet - nach der "Bremer Klausel" hätte jedoch am 1. Januar 1949 in Brandenburg eine "andere landesrechtliche Regelung" bestanden haben müssen, was Kontinuität des Landes voraussetzt), ebenso unklar ist, ob LER in seiner jetzigen Gestalt tatsächlich mit der Verpflichtung des Staates zur weltanschaulichen Neutralität und Wahrung der Religionsfreiheit zu vereinbaren ist - und dagegen spricht die vom Brandenburger Gesetzgeber vorgesehene Befreiungsmöglichkeit selbst dann, wenn die Auslegung durch den Staat dies zu verbergen sucht ("Die Befreiungsmöglichkeit wird im Grunde sogar wegen der weltanschaulichen Neutralität und Bekenntnisfreiheit von LER eröffnet"7). Ebenfalls offen ist nach wie vor die Frage, ob es auch nach Auffassung des BVG so etwas wie ein individuelles "Grundrecht auf Religionsunterricht" gibt8 und schließlich ob das immer wieder beanspruchte Argument, dass ein Religionsunterricht, der "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" wird, eine mehrheitliche Kirchenmitgliedschaft in der Bevölkerung voraussetzt oder ob er als Ausdruck der positiven Religionsfreiheit so nachhaltig in den Freiheitsgarantien des Grundgesetzes verankert ist, dass seine Berechtigung jedenfalls nicht ohne weiteres von soziologischen Erwägungen abhängig gemacht werden kann. Alle diese offen gebliebenen Fragen betreffen wichtige Zukunftsperspektiven für Religionsunterricht und Schule, aber auch für Kinder sowie für die Kirche. Insofern kann es nicht begrüßt werden, dass das BVG sich nicht auf eine Entscheidung einlassen bzw. ein Urteil fällen wollte, von dessen Begründung zukunftsweisende oder zumindest klärende Impulse zu erwarten gewesen wären.

Wenn sich die Kirchen gleichwohl auf den vom BVG vorgelegten Vorschlag eingelassen haben, so dürfte dies vor allem aus politischen Erwägungen heraus geschehen sein und namentlich in Folge der Erwartung, dass auch von einem Rechtsentscheid des BVG keineswegs mehr zu erwarten gewesen wäre als von einer außergerichtlichen Einigung. Immerhin enthält bereits der Vorschlag des BVG Bedingungen für den kirchlichen Religionsunterricht in Brandenburg, durch die dieser Unterricht zumindest in seiner Praxis gestärkt und aufgewertet werden kann oder soll. Der Inhalt des vom BVG vorgelegten Vorschlags soll nun in einem zweiten Schritt etwas genauer beleuchtet werden.

2. Der Vorschlag des BVG: Wirklich ein Kompromiss?

Eine vom Gericht vorgeschlagene "einvernehmliche Verständigung" zwischen den Beteiligten lässt einen Kompromiss erwarten. Wenn sich die Streitenden vor- oder außergerichtlich einigen können, braucht das Gericht kein Urteil zu fällen. Einen solchen Kompromiss versucht das BVG durch seinen Vorschlag für eine entsprechende Vereinbarung anzubahnen. Was enthält dieser Vorschlag und wie sind die darin vorgesehenen Regelungen einzuschätzen?

Grundsätzlich geht der BVG-Vorschlag davon aus, dass der im Schulgesetz von 1996 festgelegte Rahmen, wie er oben beschrieben wurde, bestehen bleibt (LER als Pflichtfach, jedoch mit Befreiungsmöglichkeit; kirchlicher Religionsunterricht). Innerhalb dieses Rahmens soll jedoch die Stellung des Religionsunterrichts gestärkt werden. Im Einzelnen geht es um Folgendes:

- Als untere Grenze für die Einrichtung von Religionsunterricht wird eine Teilnehmerzahl von 12 Schülerinnen und Schülern festgelegt. Dies kann einerseits als ein gewisses Entgegenkommen gewertet werden, andererseits erscheint die Mindest- größe von zwölf etwa im Vergleich zu Leistungskursen, die in manchen Bundesländern auch mit wesentlich geringeren Teilnehmerzahlen durchgeführt werden, doch relativ hoch. Eine flexiblere Regelung wäre für eine erfolgreiche Praxis jedenfalls zu wünschen.

- Der Religionsunterricht soll in die regelmäßige Unterrichtszeit integriert werden, und dies so, dass eine Teilnahme an LER die zusätzliche Teilnahme am Religionsunterricht nicht ausschließt. Auch diese Bestimmung kann als Schutz für den Religionsunterricht gelesen werden - die Schülerinnen und Schüler sollen auch dann am Religionsunterricht teilnehmen können, wenn sie sich nicht gegen LER entscheiden (vermieden wird also eine Situation der erzwungenen Wahl, wie sie in der frühen Zeit der DDR zwischen Konfirmation und Jugendweihe bestand). Zugleich macht sie eine Kooperation zwischen LER und Religionsunterricht besonders schwer, da der Unterricht ja nicht zum selben Zeitpunkt stattfinden kann.

- Die Bereitstellung von Lehrkräften für den Religionsunterricht soll dadurch erleichtert werden, dass staatliche Lehrkräfte sich bis zu acht Unterrichtsstunden auf ihr Deputat anrechnen lassen können, dass ihnen die Teilnahme an der religionspädagogischen Fort- und Weiterbildung ermöglicht und auch den kirchlichen Religionslehrkräften das Recht eingeräumt wird, an den Beratungen der schulischen Mitwirkungsgremien teilzunehmen. Diese Bestimmung stärkt den Religionsunterricht besonders hinsichtlich der erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen, ändert jedoch nichts daran, dass der Religionsunterricht kein Teil der Schule ist.

- Leistungen im Religionsunterricht sollen benotet werden. Das BVG lässt ausdrücklich offen, ob diese Noten auch versetzungserheblich sein sollen. Dieser Aspekt des Vorschlags lässt besonders deutlich die Grenze zwischen einem schulischen und einem bloß in der Schule stattfindenden Religionsunterricht erkennen: Eine Versetzungserheblichkeit der Religionsnote würde bedeuten, dass entsprechende Leistungen Folgen bis hin zu Schulabschlüssen haben - aber genau dies lässt das BVG offen!

- Weiterhin wird ausdrücklich die Befreiungsmöglichkeit von LER bestätigt und eine festzulegende Beteiligung des Staates an den Kosten für den Religionsunterricht gefordert.

Wie immer der Vorschlag des BVG politisch einzuschätzen sein mag, eines jedenfalls steht fest: Trotz aller Aufwertung des kirchlichen Religionsunterrichts wird ein "ordentliches Lehrfach" (Art. 7,3 GG) auf diese Weise nicht erreicht. Vor allem aber werden auch alle prinzipiellen Erwägungen, die in der entsprechenden Diskussion und insbesondere in der Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht von 19949 formuliert werden, in diesem Vorschlag gar nicht reflektiert. Dies gilt für die Erwägungen zur positiven Religionsfreiheit ebenso wie für die Stellung der Schule in einer kulturell, religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft sowie insgesamt für das Staatskirchenrecht mit seiner freiheitlichen Grundausrichtung.10 Insofern kann wohl kaum von einem Kompromiss gesprochen werden und ist auch nicht ohne weiteres klar, worin denn ein Kompromiss überhaupt bestehen könnte. Der Gedanke einer kompromisshaften "einvernehmlichen Verständigung" legt sich dann nahe, wenn der Streit um LER und auch die entsprechenden Verfassungsbeschwerden als politische Auseinandersetzung interpretiert werden, die nicht zuletzt von Machtansprüchen gesteuert wird. Eben dies wird den angesprochenen Fragen, u. a. der (positiven) Religionsfreiheit in ihrem prinzipiellen Gehalt, aber gerade nicht gerecht. Insofern bleibt der Vorschlag des BVG unbefriedigend. Sollte er in der Absicht formuliert worden sein, das BVG aus politischen Auseinandersetzungen herauszuhalten, indem entsprechende Konflikte wieder an die Politik zurückgegeben werden, so erreicht der Vorschlag faktisch das Gegenteil: Er unterstützt in seiner Tendenz die Umdeutung von Rechtsfragen in politische Probleme - und schwächt auf diese Weise nicht zuletzt das Grundgesetz und damit seine wichtigste eigene Grundlage.

Ehe ich darauf genauer eingehe, noch ein Hinweis zu den entsprechenden Änderungen des Brandenburgischen Schulgesetzes, die im August 2002 in Kraft getreten sind: Durch diese Änderungen werden die Vorschläge des BVG im Wesentlichen übernommen. Zusätzlich wird die Frage offen gehalten, wie im Falle einer Unterschreitung der Mindestgruppengröße beim Religionsunterricht verfahren werden soll. Noch nicht geregelt ist dort auch, "welche Bedeutung die Religionsnote für die Versetzung der Schülerin oder des Schülers und für den Erwerb von Abschlüssen und Berechtigungen hat" ( 9,6). Hier zeichnet sich ab, dass strittige Fragen zwischen Staat und Kirche weiterhin offen sind und Raum für entsprechende Verhandlungen bleibt.

3. Ungelöste Probleme - offene Fragen

Der Streit um LER hat zu Recht bundesweite und z. T. internationale Beachtung gefunden. Er berührt zahlreiche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung. Vier dieser Fragen, die für Kirche und Theologie von besonderem Interesse sind, möchte ich im Folgenden hervorheben:

1) Die im letzten Abschnitt beschriebenen Entwicklungen werfen insbesondere die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Recht sowie nach der Verlässlichkeit rechtlicher Bestimmungen im Blick auf Religion auf. Auch jenseits rechtlicher Einzelfragen, die dem juristischen Diskurs überlassen bleiben müssen, ist schon das lange Abwarten des BVG im Blick auf eine Behandlung der Verfassungsbeschwerden als problematisch zu bezeichnen. Wenn mehr als fünf Jahre verstreichen, ehe sich ein Gericht überhaupt äußert, steht zu erwarten, dass die jedenfalls möglicherweise rechtlich problematischen Zustände an Dynamik gewinnen oder sich zu einer Realität verfestigen, an der zu rütteln auch Gerichte sich dann scheuen mögen. Weiterhin kann der Kompromissvorschlag des BVG den Eindruck hinterlassen, es komme letztlich gar nicht darauf an, ob die Entscheidungen der Politik wirklich rechtmäßig im Sinne des Grundgesetzes sind oder eben nicht. Die Minimierung von politischen Konflikten und der Ausgleich konkurrierender Ansprüche in pragmatischen Verfahren sind im Alltag zwar unerlässliche Prinzipien, als oberste Kriterien, an denen auch das Verfassungsrecht zu messen wäre, taugen sie jedoch nicht. Politik ist häufig eine Frage bloß des Tages - das Verfassungsrecht sollte genau dazu niemals werden.

2) Für die Kirchen und auch für andere Religionsgemeinschaften am gravierendsten sind wohl die Fragen, die das Verhältnis zwischen Religion und Öffentlichkeit betreffen. Vergleicht man den allein kirchlichen Religionsunterricht in Brandenburg (oder Berlin), der nicht Teil der staatlichen Schule ist, mit dem Religionsunterricht als "ordentlichem Lehrfach" nach Art. 7,3 GG unter diesem Aspekt, so folgt der kirchliche Religionsunterricht tendenziell einem Verständnis von Religion als Privatangelegenheit. Demnach wird Religion bzw. dem Religionsunterricht in der Öffentlichkeit bestenfalls Raum zur freien Äußerung gegeben, aber stets unter Hervorhebung der zu wahrenden Grenzen zwischen dem öffentlich-staatlichen und dem privat-religiösen Bereich. Insofern unterstützt der Ausgang des Streits um LER eine weitere Privatisierung von Religion und Kirche, weil dieser Ausgang eine allgemeine, die Öffentlichkeit insgesamt betreffende (nicht: verpflichtende) Bedeutung von Religion in Frage stellt oder sogar ausschließt. Ein solches Verständnis entspricht nicht der deutschen Tradition, wohl aber der rigiden Trennung zwischen Staat und Kirche in den USA oder in Frankreich, wo die Religionsfreiheit rein negativ ausgelegt wird - mit erheblichen Folgeproblemen, über die man weder in den USA noch in Frankreich heute ohne weiteres glücklich ist. Dies spiegelt sich auch in einer weiteren Hinsicht:

3) Dialog und Verständigung in der Pluralität sollen, dem mit LER verbundenen Verständnis zufolge, nicht aus entsprechenden Bemühungen der Religionsgemeinschaften oder weltanschaulicher Gruppen erwachsen, sondern werden von einer konsequenten Ausweitung des weltanschaulich neutralen Bereichs erwartet. Nicht Theologie oder unterschiedliche Theologien sollen daher Bezugswissenschaft für LER sein, sondern eben allein die Religionskunde, die sich - den Auffassungen des Wissenschaftlichen Beirats LER zufolge - aus der "Distanz" des Abstrahierens von Wahrheitsansprüchen mit Religion beschäftigen soll. Genau dies - und allein dies - ermögliche den Dialog: "Allein die vorübergehend von sich selbst abstrahierende, Glaubensaussagen auf eine vergleichbare Begrifflichkeit bringende, Darstellung der je eigenen und der fremden Religion ermöglicht einen verstehenden Dialog und ein werteklärendes Gespräch zwischen unterschiedlichen religiösen Positionen"11. Beurteilt man diese Sichtweise auf Grund der von diesem Beirat vorgelegten Darstellung, so wird man sagen müssen: Offenbar enthebt dieses Verständnis von Dialog und Verständigung auf der Grundlage von Distanz und Abstraktion die daran Teilnehmenden schon der Pflicht einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit theologischen oder religionspädagogischen Auffassungen. Jedenfalls lässt diese Darstellung jeden Ansatz dazu vermissen und behandelt konfessionelle oder religiöse Bindungen von vornherein gleichsam als Befangenheit. Vorbild für einen dialogischen Umgang mit oder zwischen den Religionen wird dies kaum sein können.

4) Die Alternative zwischen einer allein vom Staat getragenen Religionskunde und einem in Zusammenarbeit mit den Religionsgemeinschaften erteilten Religionsunterricht kann auch unter dem Aspekt der Subsidiarität betrachtet werden. Damit ist das Verhältnis zwischen Staat und Erziehung angesprochen. LER folgt einem Denken, das in bestimmter Hinsicht eigentümlich unzeitgemäß ist und sich eher den Tendenzen einer immer weiteren Verstaatlichung von Erziehung und Schule im 19. Jh. verdankt, als dass es den Herausforderungen einer als Bürgergesellschaft zu gestaltenden Demokratie im 21. Jh. gerecht würde. Eine Selbstzurücknahme des Staates dort, wo u. a. bei der Erziehung andere Träger kompetent und initiativ sind, kann - in einer demokratietheoretischen Neuinterpretation des Verständnisses von Subsidiarität12 - als Ausdruck und Konsequenz einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft verstanden werden. Gleichsam exemplarisch zeigt wiederum die bereits mehrfach zitierte Darstellung des Wissenschaftlichen Beirats LER, wie wenig solche Gesichtspunkte zumindest in manchen Bereichen der Erziehungswissenschaft auch nur reflektiert oder gar gewürdigt werden. Auch das BVG hat die diesbezügliche Relevanz der auf LER bezogenen Verfassungsbeschwerden offenbar nicht allzu hoch eingeschätzt.

4. Perspektiven für die Weiterarbeit

Bereits die im letzten Abschnitt angesprochenen Probleme und Fragen markieren Aufgaben im weiteren Sinne, sowohl für Religionspädagogik und Theologie als auch für die Kirche. In diesem Abschnitt soll es hingegen direkt um den schulischen Religionsunterricht, seine Einrichtung und Praxis in der Schule gehen. Dazu noch vier Aspekte:

Eine erste Aufgabe, der in der Praxis vordringliche Bedeutung zukommt, liegt in der Ausweitung des religionsunterrichtlichen Angebots in Ausschöpfung der durch das neue Schulgesetz gebotenen Möglichkeiten. Soweit dies noch nicht geschehen ist, muss Religionsunterricht an Schulen eingerichtet und muss seine Stellung dort gefestigt werden, nicht zuletzt auch durch Angebote der Fort- und Weiterbildung, die in Zusammenarbeit zwischen Theorie und Praxis angeboten werden sollten. Zu begrüßen wäre in diesem Zusammenhang auch eine wissenschaftliche Begleitung, wie sie bislang in Brandenburg nur für LER verfügbar war.

Eine zweite Perspektive ergibt sich aus einer Schwäche, die in empirischen Untersuchungen zu LER wiederholt diagnostiziert worden ist.13 Die selbst gesteckten Ziele erreicht LER besonders wenig im Blick auf Religion. Weder scheint es zu gelingen, die Jugendlichen für religiöse Themen zu interessieren, noch weist der entsprechende Anteil des Unterrichts eine ausreichende Qualität auf (was m. E. bereits auf in dieser Hinsicht unzureichende curriculare Vorgaben zurückzuführen ist). Es wäre daher m. E. sinnvoll, den Religionsunterricht religionspädagogisch zu profilieren, d. h. seine Leistungsfähigkeit im Blick auf religiöse Bildung deutlich zu konturieren. Dabei sollte auch weiter geklärt werden, ob die mehrfach diagnostizierte Schwäche von LER im Blick auf Religion tatsächlich nur ein pragmatisches Problem darstellt oder ob sie nicht doch aus dem eben nur scheinbar überlegenen religionskundlichen Ansatz erwächst. Anders gefragt: Kann Religion überhaupt lebendig, interessant und bildungsrelevant unterrichtet werden, wenn sie in religionswissenschaftliche Schemata gepresst und nicht aus persönlicher Überzeugung heraus zur Darstellung gebracht wird?

Seit der EKD-Denkschrift von 1994 ist - drittens - die Frage der Kooperation und der Einrichtung einer Fächergruppe mit Religionsunterricht, Ethikunterricht usw. auf der Tagesordnung.14 Sie sollte auch im Blick auf LER nicht aufgegeben werden, selbst wenn immer wieder auf die (aus für mich nicht wirklich aufgeklärten Gründen) gescheiterten Kooperationsversuche in der Erprobungsphase hingewiesen und eine Kooperation durch die gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich unterschiedlicher Angebotszeiten für LER und Religionsunterricht - eventuell ganz ungewollt - erschwert wird. Das Anliegen einer Verständigung in der Pluralität bleibt bestehen und muss sich in der Praxis bewähren.

Schließlich: Im Streit um LER ist eine Reihe von Desideraten deutlich geworden, die den Religionsunterricht weit über Brandenburg hinaus betreffen. Dazu zählt auf der einen Seite eine klare theologische Identität des Religionsunterrichts, ohne die er seine Plausibilität verlieren müsste, weil er gegenüber LER, Ethikunterricht usw. nicht mehr abgrenzbar wäre. Ebenso wichtig ist aber die im Religionsunterricht zu fördernde Verständigungsfähigkeit mit anderen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen, die bislang für den Religionsunterricht zwar in Anspruch genommen wird, in der Praxis sowie in den Lehrplänen aber noch nicht genügend deutlich ausgewiesen und konsequent als Aufgabe festgehalten ist.

Der in der Öffentlichkeit ausgetragene Streit um LER mag nun tatsächlich an sein Ende gekommen sein. Die dabei aufgebrochenen Fragen und Probleme werden - und sollten - uns aber noch lange beschäftigen!

Summary

In the summer of the year 2002, the struggle over the Brandenburg school subject LER (Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde) which was first introduced after the German unification in 1990, has come to a certain resolution. Following a recommendation by the German "Supreme Court" (BVG), state and church have come to an agreement concerning the future status of religious education in the Brandenburg schools. The present article looks back at the struggle over LER, summarizes the main points of debate, and offers a critical evaluation of the court's suggestion for a compromise. In addition to this, the article discusses a number of comprehensive perspectives concerning the place of religion in state schools and the meaning of different models of religious education in relationship to church, state, education, and society. The article concludes with suggestions for future work in theory and praxis.

Fussnoten:

1) Vgl. bspw. J. Lott (Hg.), Religion - warum und wozu in der Schule? Weinheim 1992, K. E. Nipkow, Bildung in einer pluralen Welt. Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh 1998, D. Fauth, Religion als Bildungsgut. 2 Bde., Würzburg 1999, W. Edelstein u. a., Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs. Analysen und Empfehlungen, vorgelegt vom Wissenschaftlichen Beirat LER, Weinheim/Basel 2001.

2) In: ZThK 93 (1996), 124-148.

3) W. Edelstein/I. Hillerich/J. Lott, Der historische und fachliche Kontext von LER. In: Edelstein u. a., a. a. O., 19 ff.

4) Dokumentiert in: EvErz 45 (1993), 25-29.

5) A. Leschinsky, Vorleben oder Nachdenken? Bericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Modellversuch zum Lernbereich "Lebensgestaltung - Ethik - Religion", Frankfurt/M. 1996.

6) Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Das brandenburgische Schulgesetz - was steckt hinter ..., Potsdam 1996, 28.

7) Ministerium, Das brandenburgische Schulgesetz, a. a. O., 27.

8) Vgl. U. Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht. Eine Untersuchung zum subjektiven Rechtsgehalt des Art. 7, Abs. 3 GG, Tübingen 2000, s. auch F. Schweitzer, Das Recht des Kindes auf Religion, Gütersloh 2000.

9) Evangelische Kirche in Deutschland, Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität, Gütersloh 1994.

10) Auf diesen Zusammenhang hat in zahlreichen Veröffentlichungen und Stellungnahmen bes. Martin Heckel hingewiesen.

11) Edelstein u. a., a. a. O., 114.

12) Im Blick auf Schulen in kirchlicher Trägerschaft vgl. K. E. Nipkow/ F. Schweitzer (Hg.), Zukunftsfähige Schule - in kirchlicher Trägerschaft? Die Tübinger Barbara-Schadeberg-Vorlesungen, Münster u. a. 2002.

13) A. Leschinsky, a. a. O., S. Gruehn, Das Unterrichtsfach LER im Spiegel einer empirischen Untersuchung. In: W. Edelstein u. a., 255 ff.

14) Vgl. dazu jetzt F. Schweitzer/A. Biesinger, Gemeinsamkeiten stärken - Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Freiburg/Gütersloh 2002.