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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1121–1124

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Plieth, Martina

Titel/Untertitel:

Kind und Tod. Zum Umgang mit kindlichen Schreckensvorstellungen und Hoffnungsbildern.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. XX, 396 S. m. Abb. 8. Kart. ¬ 29,90. ISBN 3-7887-1850-1.

Rezensent:

Michael Herbst

Von kindlichen Schreckensvorstellungen und Hoffnungsbildern handelt dieses Buch der westfälischen Theologin und Pädagogin Martina Plieth. Bilder spielen angesichts der Bildsamkeit des Menschen, des Kindes im Besonderen, eine große Rolle für den Zugang der Autorin zum Thema "Kind und Tod". Darum ist es auch ein Bild, das dieses sehr komplexe Werk zu erschließen hilft: Der 10-jährige Sebastian (Bild Nr. 13) malt einen Menschen im Grab, rechts neben sich ein Baum mit Blättern, links ein kahler Baum. Ebenso doppelt darüber der Himmel: ein schwarzer Himmel und darüber ein goldener, der "Paradieshimmel". Der Junge erklärte, die Seele des Toten steige ja auf in den Himmel. Darum findet sich über dem goldenen Himmel ein liegendes Kreuz, das Jesus symbolisiert, und daneben ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte: das Symbol der Pfadfinder. Es bedeutet: "Ich habe meine Aufgabe erfüllt und bin nach Hause gegangen." Das kann Jesus sagen. Und darum (!) stimmt das andere auch, das mit dem grünenden Baum und mit dem goldenen Himmel. Ein Bild, in dem sich kindliches Wissen um die Todesrealität und Gewissheit eines Todes-Danach ausdrücken können!

Kindliches Nachdenken über den Tod ist ein in den letzten Jahren häufig bedachtes Thema. In der Arbeit von Martina Plieth werden die bisherigen Studien gesichtet, kritisch gewürdigt und in einem eigenen Entwurf weitergeführt. Einige Stichworte zeigen, welcher Ansatz dabei gewählt wird:

Kinder sollen angesichts herandrängender und hereinbrechender Todeswirklichkeit nicht vertröstet, sondern vergewissert werden, sie sollen getrost der Zukunft entgegenleben können. Eine ganzheitliche Sinnkommunikation soll sie befähigen, Kontingenz zu bewältigen und ein "persönlichkeitsspezifisches Credo" (K. Winkler) zu entwickeln. Ihr "Möglichkeitssinn" (R. Musil) ist zu fördern: Gegenwärtiges Erleben soll ihnen Anlass geben zu "fundierten Vermutungen", die Vertrauen und Hoffnung auf Gott erlauben, ja wenn auch nicht Wissen über ein Todes-Danach, so doch Gewissheit über Gottes Treue (VIII-XI).

"Grundzüge einer orthopraktischen Thanatagogik im evangelischen Feld" will die Vfn. vorlegen. Thanatagogik ist nach H. Petzold das Lernen des Sterbens im Leben und das Lernen für das Sterben im Leben, aber auch das Lernen des Lebens im Sterben (XIII). Es ist eine universale Entwicklungsaufgabe, die damit gestellt ist. "Agogisch" meint dabei die Bemühung um eine begleitende Förderung. Letztlich geht es um eine praxisrelevante theologische und pädagogische Reflexion, also um Orthopraxie. Sie geschehe im evangelischen Feld, also immer im Blick auf das Evangelium als befreiende Botschaft, und immer bezogen auf die vielfältigen Agenturen von Bildung und Erziehung in Familie, Schule, Kirche u. a. (XIII-XV).

Von diesem Ansatz aus geht die Vfn. einen langen, sorgfältig erarbeiteten Weg mit den Leserinnen und Lesern. Einige Stationen dieses Weges seien erwähnt:

Die Vfn. betrachtet Kinder nicht nur als noch nicht erwachsene Menschen; sie sieht in der Kindheit einen vollgültigen, ja einen vorzüglichen Modus des Menschseins (2 f.). Kinder sind natürlich in vielem abhängig von ihrer sozialen Mitwelt, aber sie sind zugleich in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und in typischen Grundhaltungen (z. B. Daseinsbetroffenheit, Hingabebereitschaft, Ursprünglichkeit des Denkens und Fühlens, Gegenwartsbezogenheit usw.) ernst zu nehmen (4-8), was wiederum ihre Entwicklungsbedürftigkeit nicht ausschließt (10). Der Glaube der Kinder, wird er adäquat durch religiöse Impulse genährt, lebt vom Urvertrauen, dass Gott für Sinnstiftung und notfalls auch für Sinnreparation sorgen wird (14-16).

Die "Bildsamkeit" des Kindes ist ein wesentlicher Aspekt der vorliegenden Arbeit (2. Kapitel): Kinder (und teilweise auch Erwachsene) eignen sich die Welt in Bildern an und drücken sich durch Bilder aus. Bilder sind keine Zufallsprodukte, sie sind immer "Ganzausdruck". Bilder können sich verselbständigen und ein Eigenleben entfalten, in dem Überraschendes sich ereignet. Damit Kinder von Bildern nicht überflutet werden, brauchen sie kommunikative Bildräume, in denen Bilder Gespräch ermöglichen und in die auch Gegenbilder (etwa der Hoffnung gegen den Tod) eingebracht werden können (17-24). Auch Bilder als "Medium christlicher Botschaft" (R. Volp) tragen so zum Bildungsgeschehen beim Kind bei (25-34): Durch sie wird im Diesseits Gottes Jenseits evident (27), jedenfalls wenn in ihnen Leid nicht verdrängt wird, sondern der Sinn für ein Getragensein durch den Tod ins Leben eröffnet wird (30).

Im 3. Kapitel (35-100) werden kindliche Todeskonstrukte vorgestellt. Dabei wird gegenüber naiven Phasenmodellen die Individualität der Entwicklung kindlicher Todesvorstellungen herausgearbeitet, ihre Bedingtheit durch indirekte (etwa filmische) oder direkte Todeserlebnisse. Wie kindliche Ängste sich etwa durch euphemistische Todesbezeichnungen in der Kommunikation Erwachsener verstärken, kann die Vfn. eindrucksvoll zeigen. Die allmähliche Entdeckung der Irreversibilität, Kausalität und Universalität des Todes wird nachgezeichnet. Besonders eindrucksvoll sind die Bilder von Kindern einer vierten Grundschulklasse, die zeichnen sollten, wie sie sich den Tod vorstellten (Bilder im Anhang, Erläuterungen 81-88), aber auch der Strukturvergleich kindlicher mit alttestamentlichen Vorstellungen vom Tod (89-100).

Im 4. Kapitel (101-136) werden verschiedene Trauerphasenmodelle auf Kinder bezogen und übersetzt. Die Arbeiten von Kübler-Ross, Spiegel, Bowlby und Kast werden dabei zusammengeführt. Kindliche Trauer, eindrucksvoll wiederum durch Beispiele illustriert, ist höchst individuell, hat aber durchaus wiedererkennbare Züge: zunächst eine kognitive und emotionale Überforderung, dann eine gesteigerte Emotionalität, weiterhin verschiedene rückwärts-, aber auch zukunftsgewandte Suchbewegungen nach dem verlorenen Objekt der Liebe, schließlich eine Abkehr von den Schrecken des Todes und eine Hinwendung zum Leben. Die kindliche Trauer hängt aber bei aller Wahrnehmung dieser Phasen von sehr unterschiedlichen Faktoren ab: etwa von der Art des Todesereignisses (nach langem Leiden/plötzlich und überraschend), von der Art und Qualität der Beziehung des Kindes zum Verstorbenen (Tiere, Eltern, Geschwister), von dem Modell, das Erwachsene im Blick auf das Trauerverhalten dem Kind angeboten haben, aber auch von der Klarheit und Weite religiöser Hoffnungsprofile im Umfeld des Kindes.

Das 5. Kapitel ist vom Umfang her das ausführlichste: Es führt die Leser über den umfangreichen Markt der Kinderbücher zum Thema Sterben und Tod, die kategorisiert und nach verschiedenen, zuvor erarbeiteten Kriterien auch bewertet werden. Dieses Kapitel ist als "Lexikon" der thanatagogischen Kinderliteratur (bis Herbst 2000) von besonderem Wert für Leser, die im privaten oder beruflichen Umfeld gemeinsam mit Kindern Bücher zum Thema betrachten und lesen wollen.

Ein kurzer Blick im sechsten Kapitel (227-253) auf die amerikanische ("Death Awareness" und "Death Education") sowie die europäische Diskussion ("Thanatagogik") leitet über zum entscheidenden siebenten Kapitel (254-336), das den eigenen Ansatz der Vfn. zum Inhalt hat: "pastoralpädagogisch" soll sein, was die Vfn. entwickelt, also auf der Grenze von Religionspädagogik einerseits und Pastoraltheologie bzw. Poimenik andererseits, ein seelsorglicher Entwurf für Menschen in Bildung und Erziehung, ein pädagogischer Ansatz für die Seelsorge mit Kindern angesichts herandrängender und hereinbrechender Todeswirklichkeit. Dabei geht es darum, die Realität menschlichen Lebens im Angesicht des Todes nüchtern zur Kenntnis zu nehmen (und zwar klassifizierend wie sich empathisch identifizierend), diese dann aber auch mit den Verheißungen Gottes zu "versprechen" (E. Lange). Der Ermöglichungsgrund für diesen Versprechungszusammenhang wird streng theologisch gesehen: In Christus ist irdische Wirklichkeit und göttlicher Zuspruch eins. Halt gewinnt der kleine und große Mensch in der Gewissheit, dass sich Gott als stetiges Beziehungsgegenüber erweist, jetzt, aber auch über die Grenze hinweg, die der Alles-Zerstörer Tod setzt (257). Darum geht es orthopraktischer Thanatagogik auch darum, nicht nur die "Abschiedlichkeit" menschlicher Existenz einzuüben (V. Kast), sondern auch die Bezüglichkeit und Rückbezüglichkeit ("religio" im besten Sinne) zu pflegen. Die entsprechenden Lernprozesse, die zu fördern sind, sind ganzheitlicher (worthafter, leibhafter und bildhafter) Art, sie umfassen ihrerseits nicht nur Information, sondern vor allem ein gemeinsames Lernen in Beziehung. Dafür werden am Ende eindrucksvolle und praxisrelevante Beispiele aus Familie, Kirchengemeinde und Schule angeboten.

Die Vfn. hat ein beeindruckendes Buch vorgelegt, dessen Stärken gerade in der Grenzgängerschaft zwischen pädagogischem, poimenischem und pastoraltheologischem Denken beruht. Seelsorglich zu erziehen und bildend Seelsorge zu üben, und das nicht an, sondern mit Kindern, die durch die Vielzahl der erzählten Beispiele zu Worte kommen (und nicht nur etwa eine "entzückende" Garnierung darstellen), das ist das Eigenständige und Neue dieses Buches. Es ist nicht immer ganz einfach zu lesen, zumal es gerade im Eingangsteil sehr komplexe Argumentationen vorträgt und insgesamt - wie die Fülle der Literaturangaben verrät - wahre Informationsberge verarbeitet. Hilfen bieten aber Zusammenfassungen und Grafiken (etwa 293-295). Zu hinterfragen ist die gelegentlich recht kräftige Anbindung an psychoanalytisches Denken (etwa 64-71), das auch in Psychologie und Psychotherapie nicht mehr fraglos "state of the art" ist. Alles in allem werden Menschen in Seelsorge- und Bildungsarbeit (vor allem in der Arbeit mit Kindern im Vor- und Grundschulalter) mit großem Gewinn zu diesem Werk greifen. Für die Arbeit "vor Ort" - etwa mit Eltern in der Gemeinde - wäre eine kürzere und leichter lesbare Fassung sehr wünschenswert.