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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1117–1119

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Feige, Andreas, Dressler, Bernhard, Lukatis, Wolfgang, u. Albrecht Schöll

Titel/Untertitel:

Religion bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Berufsbiographische Fallanalysen und eine repäsentative Meinungserhebung unter evangelischen ReligiongslehrerInnen in Niedersachsen.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 606 S. m. Abb. gr.8. Geb. ¬ 45,90. ISBN 3-8258-5006-4.

Rezensent:

Elisabeth Naurath

Der Hintergrund dieser Studie, die als sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt der TU Braunschweig im Verbund mit religionspädagogischen Instituten (RPI Loccum, Pastoralsoziologisches Institut der EFH Hannover und Comenius-Institut Münster) entstanden ist, ist vor allem religionssoziologisch bestimmt: Wie gestaltet sich das Verhältnis von Religion und Gesellschaft angesichts der gegenwärtig als nachchristliche Ära bestimmten Zeitgeschichte? Pointierter: Wer hält die religiöse Erinnerungsfähigkeit (20) in unserer postmodernen, von christlichen Traditionen und Werten zunehmend entkoppelten Gesellschaft wach?

Diese recht grundsätzliche Frage konzentriert sich in der vorgelegten Untersuchung mit einigem Recht auf den schulischen Religionsunterricht und insbesondere auf die Religionslehrerschaft. Denn die Vermittlung christlicher Inhalte geschieht sowohl in der Verbreitung als auch in der zeitlichen Kontinuität vorrangig über den schulischen Religionsunterricht, der wiederum zwar von der Kirche mitverantwortet, aber von den Lehrpersonen eigenständig getragen wird. Untersuchungsgegenstand ist der bewusst in Anführungszeichen gesetzte Religionsbegriff, denn Religion ist reflexiv und diskursiv zu verstehen, d. h. als Ausdrucksgestalt des Religiösen, indem sich der/ die einzelne seiner/ihrer selbst als religiös bewusst wird und dies im Denken, Reden und Handeln ausdrückt: "Religion wird erkenn- und charakterisierbar in den Strukturen der Syntax und Semantik ihrer Beschreibung" (31). Dieser vorgegebenen Weite des Religionsbegriffs entspricht die methodische Annäherung über berufsbiographische, narrative Interviews als qualitativer Zugang zur Erhebung eines Fragenkatalogs, der im Anschluss das Muster einer quantitativen Untersuchung liefert.

In 17 aufwendig recherchierten und ausgewerteten "Fallanalysen von Schilderungen der Berufsentwicklung und -praxis von ReligionslehrerInnen", die in Alter, Geschlecht und Schulart ein repräsentatives Spektrum evangelischen Lehrpersonals im Raum Niedersachsen abbilden, wird der Zusammenhang von gelebter und gelehrter Religion in der Eigenwahrnehmung der Unterrichtenden untersucht. Die vielen beachtenswerten Einzelergebnisse der Fallanalysen gipfeln in folgender Feststellung: Die Gewährleistung von Bildungsprozessen im Religionsunterricht basiert auf der Kompetenz einer reflexiven Distanznahme der Lehrperson zur eigenen gelebten Religion. Ein reflexives Spannnungsverhältnis (also weder absolute Trennung noch absolute Identität) zur eigenen gelebten Religiosität garantiert im Unterrichtshabitus am ehesten produktive Bildungsprozesse. Das heißt: Je mehr sich die Lehrperson ihrer religiösen Identität bewusst ist und selbstreflexiv (in einem möglichst entspannten Zustand) hierzu in Distanz treten kann, desto höher liegt die Fähigkeit, die Lebenswelten der Schüler und Schülerinnen zu beachten und diese als eigenständige Subjekte ihren (religiösen) Bildungsweg gehen zu lassen.

Damit erweist sich nicht die inhaltlich und sprachlich vollzogenene Traditionsbindung als konstitutiv für ein protestantisches Profil des Religionsunterricht, sondern vielmehr die didaktisch produktive Selbstreflexion, die die Anschlussfähigkeit an den Lebenskontext der Schüler und Schülerinnen unter Beweis stellt. Außerdem - und dies ist ein tragfähiges Argument gegen Forderungen an Religionslehrer und -lehrerinnen, ihren eigenen Glauben möglichst bruchlos in den Unterricht einzutragen - wiegt für den Religionsunterricht die didaktische Kompetenz mehr als die subjektive Religiosität. Pointiert kann man zusammenfassen: Es ist wichtiger, dass die Schüler und Schülerinnen im Rahmen des Religionsunterrichts ihre Fragen in einer Atmosphäre der Offenheit stellen dürfen als dass sie überzeugte Antworten des Lehrpersonals geliefert bekommen. Die Schüler und Schülerinnen werden als Subjekte ihres Glaubensprozesses ernst genommen, die Entfaltung ihrer (auch religiösen) Identität steht im Mittelpunkt. Dass dies nicht nur bei einigen wenigen Lehrenden die zentrale Intention ist, bestätigt die Super-Faktorenanalyse. Diese besagt als wichtigstes Ergebnis der quantitativen Untersuchung mittels Fragebogen (an evangelische Religionslehrer und -lehrerinnen in Niedersachsen) eine hohe Konsistenz der unterrichtlichen Zielvorstellungen in sechs Punkten (vgl. 425 f.):

- Konfessionsübergreifendes Christentum für alle ohne traditionelle Kirchen- bzw. Gemeindebindung;

- Orientierung an diakonisch-protestantischem Christentum in kirchengemeindlicher Anbindung;

- Konfessions- bzw. kirchenunspezifische Erschließung der theologischen Dimension der Existenz des Menschen durch religiöse Texte und Symbole;

- Sensibilisierung für eine christlich-interkonfessionelle gestalthafte Religionspraxis mit kirchengemeindlichem Hintergrund;

- Konfessions- bzw. kirchenungebundene Entfaltung der Identität der Schüler und Schülerinnen als Ausdruck des prinzipiell Religiösen menschlicher Existenz;

- Unterrichtliche Ungebundenheit auf der Basis ideologischer Grundsätze zur Bestimmung von Glaube.

Wichtig ist bei diesem Ergebnis, dass es sich hierbei nicht um Typbeschreibungen der Lehrer und Lehrerinnen handelt, sondern um den gemeinsamen Nenner der religionspädagogischen Lehrintention, die in je individueller Mischung bei jeder Lehrperson vorhanden sind. Auffallend ist, dass trotz der individuell unterschiedlichen Einstellungen des Lehrpersonals eine erstaunlich große Übereinstimmung in der religionsdidaktischen Ausrichtung - über die Lebenskontexte von Alter, Geschlecht und Schultypus hinaus - feststellbar ist.

Sowohl durch die qualitative als auch durch die quantitative Methode dieser empirischen Analyse wird belegt, dass unter bzw. trotz der Bedingungen der Moderne und des Traditionsabbruchs die kirchengemeindliche Herkunft und Bindung der Religionslehrer und -lehrerinnen nach wie vor stark vorhanden ist. Diese Bindung basiert jedoch auf dem gesellschaftlichen Prozess der Entkoppelung von Kiche und Lebenswelt, die sie als individualisierte Individuen (459) gerade im Raum der Schule vor die Herausforderung der Reflexionskompetenz gelebter und gelehrter Religion stellt. Damit wissen Religionslehrer und -lehrerinnen sehr genau, dass es nicht um Kirche in der Schule gehen darf, sondern ein zukunftsfähiger Religionsunterricht vielmehr die Tradition als diskussionswürdiges Angebot versteht. So steht auch die Offenheit zum konfessionsübergreifenden Unterricht nicht im Widerspruch zur eigenen kirchlichen Bindung.

Diese empirische Studie zur Selbstreflexion von Religionslehrern sucht in ihrer Ausführlichkeit und methodischen Vielfalt ihresgleichen; der Ertrag aus der Fülle des erschlossenen Materials gewährt in der Kombination von qualitativer und quantitativer Untersuchung sowohl einen fundierten Einblick als auch Überblick. Für den zukünftigen religionspädagogischen Diskurs im weitesten Sinne, d. h. für eine Bildungsverantwortung, die von Schule und Kirche gemeinsam getragen wird, könnte diese Studie tragend werden. Könnte, wenn sie in ihrem Umfang und in ihrer sprachlichen Gestalt nicht nur auf einen engen Kreis wissenschaftlicher Rezipienten zugeschnitten wäre. Diejenigen, um die es geht, haben ein Recht darauf, an diesem Diskurs teilzunehmen und ihn mitzugestalten. Hier besteht zunächst die elementare Aufgabe, dem Spannungsfeld von religionspädagogischer Theorie und Praxis konstruktiv zu begegnen, d. h. zentrale Ergebnisse in leichter zugänglicher Form einem breiteren Publikum zu veröffentlichen (das Themenheft Religionslehrerinnen und Religionslehrer der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie [53. Jg., 4, 2001] ist ein erster Schritt hierzu).

Interessante Fragestellungen könnten dann anhand des vorgelegten empirischen Materials weitergehend bearbeitet werden: wie die Frage, ob sich nicht trotz der relativ großen Homogenität innerhalb der Lehrerschaft bemerkenswerte geschlechtsspezifische Unterschiede abzeichnen. Auch eine (kritische) Ergänzung der Selbstwahrnehmung der Religionslehrer zur gelehrten Religion durch die Fremdwahrnehmung der Schüler und Schülerinnen - wie sie F. Schweitzer fordert (vgl. ZPT 4, 2001, 326) - ist für eine realistische Sichtung des Religionsunterrichts unerlässlich. Grundsätzlich ist natürlich für eine kritische Betrachtung der Lehrperson im Religionsunterricht die Ergänzung des empirischen Blickwinkels durch grundlegende historisch-hermeneutische Untersuchungen (vgl. Heimbrock; Lämmermann) nötig.

Als - hoffentlich weitreichender und wirkungsvoller - Impuls geht von dieser Studie die Forderung aus, dem Religionsunterricht als einem für die religiöse Erinnerungsfähigkeit unserer Gesellschaft wesentlichen Ort größeres Interesse und stärkere Beachtung, von Seiten der Kirche eine stärkere Förderung und Zusammenarbeit mit diesem übergemeindlichen Handlungsfeld zukommen zu lassen. Dann kann sich die langfristige Perspektive erfüllen: den Beitrag christlicher Traditionen und Werte für eine Gesellschaft plausibel und überzeugend zu machen, der auf den Bildungsprozess individualisierter, aber auch reflektierter Religiosität abzielt.