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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1115–1117

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Edelstein, Wolfgang, Grözinger, Karl E., Gruehn, Sabine, Hillerich, Imma, Kirsch, Bärbel, Leschinsky, Achim, Lott, Jürgen, u. Fritz Oser

Titel/Untertitel:

Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs. Analysen und Empfehlungen, vorgelegt vom Wissenschaftlichen Beirat LER.

Verlag:

Weinheim-Basel: Beltz 2001. 296 S. gr.8. ¬ 34,00. ISBN 3-407-32001-9.

Rezensent:

Dieter Fauth

Mit dem vorgelegten Buch wird die wissenschaftliche Begleitung des Schulfaches LER von 1992 bis 2000 abgeschlossen. Es sollte Religionspädagogen interessieren, weil der Bereich Religion im Ethikunterricht differenziert reflektiert ist. Dieser neue Forschungsbereich bietet große Chancen auch für die Entwicklung der theologischen Religionspädagogik und des Religionsunterrichts.

Ein Herzstück des Buches bildet der Versuch, die religiös bedeutsamen Lebensformen des Menschen zu benennen und in einem Netzdiagramm sachangemessen miteinander zu verbinden ("Basisstruktur Religionskunde"; s. S. 90). Demnach kann Religion die Lebensgestaltungen des Menschen prägen als doctrina, societas, ethos, emotio und cultus. Diesen fünf möglichen Strukturmerkmalen religiöser Lebensäußerungen werden weitere prinzipiell erweiterbare Artikulationen menschlichen Seins netzförmig zugeordnet. Zusammengehalten werden die fünf Lemmata im Kern des Strukturnetzes durch das Lemma Interesse vs. Gleichgültigkeit gegenüber Religion. Diese Formulierung passt allerdings nicht in das Strukturnetz, das sonst keine bipolaren Lemmata bietet sowie religionskundliche Merkmale und nicht Motivationen benennt. Besser wäre im Kern des Netzes eine möglichst nicht mehr generalisierbare Tätigkeit des Menschen formuliert worden (z. B. Sinnfindung, Existentialinterpretation, Kontigenzbewältigung, ...). Die mit dem Strukturnetz angelegte religionsphänomenologische Sicht auf die Lebensformen des Menschen erlauben es eher, den jeweiligen Unterrichtsgegenstand mit Lebensgestaltungen anderer Menschen der eigenen oder fremder Kulturen zu vergleichen und Dialog sowie religiöse Toleranz zu üben als dies bei Verwendung von Kategorien möglich wäre, die für eine Religion spezifisch sind. Ob damit die kultur- und religionsspezifischen Merkmale von Lebensgestaltungen noch hinreichend begriffen werden, bleibt allerdings die Frage. Die Lemmata sind so formuliert, dass die Lebensformen und geistigen Tätigkeiten des Menschen religionskundlich reflektiert werden können. Das Basisnetz möchte also nicht etwa die Fachstrukturen einschlägiger Bezugswissenschaften (Religionswissenschaft, verschiedene Theologien) abbilden (freilich soll über die religionskundliche Reflexion von Lebensformen auch fachliches Wissen angewandt vermittelt werden). Dieser lebensweltlich orientierte Ansatz bietet Nähen zur Problemorientierung in der theologischen Religionspädagogik. Umso schmerzlicher vermisst man einen Vergleich der eigenen Konzeption mit dieser Tradition hinsicht- lich der jeweiligen Formen von Lebensweltorientierung. Neu scheint mir, dass jetzt die phänomenologischen Lemmata zur Generierung von Unterrichtsthemen dienen und weniger vorgegebenene Themen auf Religion hin bedacht werden. Auch ist die Phänomenologie, mit der die Lebensformen reflektiert werden, religionenübergreifend angelegt und keiner spezifischen Theologie entnommen.

Die Basisstruktur Religionskunde wird als konstruktivistische Leistung von Experten begriffen. Auch würden erst durch Konstruktionen von Experten und Lehrern daraus curriculare Einheiten, ein Lernhorizont und ein Referenzwissen für Schüler entstehen (105). Aufgabe des Schülers sei es, die religiösen Strukturen in den Lebensformen zu rekonstruieren. Insofern orientiert sich die Religionskunde in LER an einem "eingeschränkten Konstruktivismus" (80). Auch auf Grund dieses konstruktivistischen Lernansatzes wird das Buch für die theologische Religionspädagogik interessant, indem es eine entsprechende Orientierung dieser ebenfalls noch jungen Entwicklung darstellt (s. Norbert Ammermann, Gerhard Büttner, in England: Robert Jackson). Die Zusammenschau beider Entwicklungen zeigt, dass in LER die Re-Konstruktion von Religion in den Lebensformen des Menschen besonders wichtig sein soll, während die einschlägigen Ansätze in der theologischen Religionspädagogik die religiösen Konstruktionen der Schüler in den Mittelpunkt von Forschung und Unterricht stellen.

Trotz der Betonung von (religionskundlichen) Strukturen soll LER gemäß dem vorgelegten Buch auch im Bereich religionskundlicher Lernaufgaben kein primär beschreibender oder erklärender Unterricht sein, sondern auf Verstehen, Einsicht und Haltungen im Bereich Religion abzielen. Das Strukturieren und das Bilden von Strukturen ist nur Mittel auf dem Weg zum Verstehen und zu wertorientierten Urteilen. Hier wird eine religionskundliche Didaktik geboten, die nicht mehr von den Wertimplikationen im jeweiligen Lerngegenstand möglichst maximal abstrahieren möchte (so noch Sigurd Körber), sondern gerade die reflexive und emotive (!) Beschäftigung mit dem Existential- und Wertanspruch des jeweiligen Lerngegenstandes sucht. Entsprechend widmen sich umfangreiche Teile des Buches symbolvermittelndem Verstehen und hermeneutischem Religionenunterricht (112-142: religionswissenschaftliche Hermeneutik am Beispiel der Abrahamserzählungen in verschiedenen Religionen; 189-192: Hermeneutische Verfahren in der Religions- kunde). Auch auf Grund dieses wertorientierenden Zuschnitts der religionskundlichen Didaktik sollten praktische Religionswissenschaft und theologische Religionspädagogik künftig Gesprächspartner werden. Theologie und Religionspädagogik sollten das vorgelegte Buch zur eigenen Bereicherung in diesem Sinne aufnehmen und - im weitgehenden Unterschied zu ihrer bisherigen Auseinandersetzung mit LER - nicht abwehren.