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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1113–1115

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Miggelbrink, Ralf

Titel/Untertitel:

Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten biblischen Tradition.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2000. 639 S. 8. Kart. ¬ 40,00. ISBN 3-451-27245-8.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Ist unser christliches Gottesbild zu harmlos? Hat der Gottesglaube vielleicht deshalb an Biss und damit auch an gesellschaftskritischer Relevanz im Kontext von Pluralismus und interreligiösem Dialog verloren? Gott als liebender Vater oder als liebende Mutter - Jesus als Freund und Bruder, Urvertrauen und Geborgenheit, sollten das die christlich-religiösen Leitmotive sein, die durch ein ganzes Leben (und Sterben) tragen können? Ohne deren Bedeutung zu schmälern, macht M. mit seiner 1999 von der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck für Dogmatik angenommenen Habilitationsschrift wieder auf die in den biblischen Schriften deutlich akzentuierte, wenn auch heutzutage "ungeliebte" Rede vom Zorn Gottes aufmerksam (5). Ihr wieder einen historisch-systematischen Sinn zur Profilierung religiöser Erfahrung zu geben, ist das berechtigte Anliegen des Buches.

Dieses Anliegen wird nach seiner Vorstellung in der ausführlichen Einleitung in drei voneinander klar unterschiedenen, großen Teilen entfaltet: Mehr als die Hälfte des Buches nimmt dabei der erste, exegetische Teil (AT wie NT) ein, was für eine Habilitationsschrift im Fach Dogmatik ungewöhnlich ist. Der zweite große Teil widmet sich repräsentativen theologischen Gesamtentwürfen des 20. Jh.s, die zum Thema "Zorn Gottes" Originelles und Weiterführendes beigetragen haben wie z. B. H. U. v. Balthasar, K. Barth und K. Rahner. Überzeugend ist hier vor allem Rahner, wenn er die Rede vom Zorn Gottes nicht einfach als Kehrseite der Rede von der Liebe Gottes versteht, sondern aus der Diskrepanz zwischen Gottes Unendlichkeit und menschlich-endlicher Erkenntnismöglichkeiten entspringen sieht und so als bedrohliche Negation des menschlichen Vermögens gerade auch angesichts des Todes deuten kann (398 ff.). Ob hier auch R. Girard, R. Schwager oder G. Baudler behandelt werden müssen, wenn es um "große" theologische Entwürfe der Gegenwart gehen soll, kann an dieser Stelle offen bleiben. Sachlich ergiebiger wäre eine Einbeziehung markanter Interpretationen des Zornes Gottes etwa bei M. Luther oder dann bei J. Böhme ausgefallen, zumal hier das Thema folgerichtigerweise zum Theodizeeproblem zugespitzt wird, wenn nach dem Woher einer den Zorn Gottes hervorrufenden Kollision von Gottes Gerechtigkeit mit der Ungerechtigkeit dieser Welt gefragt wird. Ebenso fraglich bleibt hier die relativ zur Aufstellung der eigenen These übergewichtige Einbeziehung "psychologisierender" Theologen wie z. B. H. Jaschke und E. Drewermann. Im leider kürzesten Teil 3 der Studie wird dann schließlich - auch hier überlagert von Referierungen anderer Beiträge - eine eigene systematische Position zum Thema vorgeschlagen. Aber ihre Überzeugungskraft wird durch das oft unverbundene Vielerlei von exegetischen, theologiegeschichtlichen, systematisch-methodischen und psychologischen Aspekten eher geschwächt als gestärkt.

Da nun aber die Rede vom Zorn Gottes nicht erst seit der Aufklärung unter das Verdikt eines allzu plumpen Anthropomorphismus fällt, ist es auch M.s Bestreben, Zorn hier nicht als Affekt oder (fragwürdige) Wesenseigenschaft Gottes zu verstehen, sondern als dramatischen Ausdruck eines Beziehungsgeflechts zwischen persönlicher Gotteserfahrung und gegenläufiger gesellschaftlicher Zustände. Zorn Gottes meint daher nicht "die unberechenbare Gefährdung des Menschseins durch die Gottheit, sondern [ist ein] Mittel der göttlichen Einforderung einer gerechten gesellschaftlichen Wirklichkeit" (72). Insbesondere aus seinen umfangreichen alttestamentlichen Untersuchungen, und hier wiederum aus prophetischen Traditionen leitet M. die hermeneutische Perspektive ab, den Zorn Gottes als "Widerständigkeit der Gotteserfahrung" (5), als Moment von Gottes machtvoller, aber missachteter Liebe (statt seines z. B. von D. Bonhoeffer und D. Sölle betonten ohnmächtigen Leidens an der Welt) zu verstehen (7; 58.133). So gesehen ist die Rede vom Zorn Gottes auch post Christum längst nicht obsolet geworden (37). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang M.s umsichtige und feinfühlige Korrektur der mit dem Theologumenon vom Zorn Gottes nicht zwangsläufig mitgesetzten Sühnetod- oder Satisfaktions-Christologie (254 ff.).

Allerdings ist nicht einzusehen, warum bei allem nachvollziehbaren politisch-theologischen Engagement (109.119) die Applikation der Rede vom Zorn Gottes auf den einzelnen Menschen im eschatologischen Kontext von Gericht und doppeltem Ausgang zu Gunsten "größere[r] gesellschaftliche[r] Zusammenhänge" (42.59 u. ö.) bewusst ausgeklammert bleiben soll. Vielleicht ist diese willkürlich wirkende Entscheidung auch ein Indiz für eine methodische Unbedachtheit der Studie, die bei aller beeindruckenden exegetischen, theologiegeschichtlichen, hermeneutischen und auch psychologischen Reflektiertheit des Vf.s bestehen bleibt: Es wird von der bloßen quaestio facti einer vorgefundenen, breit gefächerten biblischen Rede vom Zorn Gottes ausgegangen, ohne die quaestio iuris insbesondere im Blick auf die Motive einer schon innerbiblisch angelegten Korrektur z. B. der alttestamentlichen Weisheitstheologie an diesem Theologumenon zu Gunsten der "Heiligkeit" Gottes zu stellen, der mit "Gottesfurcht" zu begegnen ist (53). Dass es so ist, wird zwar von M. deutlich festgestellt (178 ff.), aber - so weit ich sehe - nicht, warum.

Eines der zentralen Motive, das zugleich auch die systematische Revitalisierung der Rede vom Zorn Gottes für unsere Zeit mindestens problematisch, wenn nicht unmöglich macht, ist die Erfahrung zunehmender Gottesferne, das Fehlen eindeutiger Zeichen und verbindlicher Deutung der Realität Gottes, der Offenbarung seines Willens in Geschichte und Gegenwart. Die von M. ansprechend interpretierte und sogar für katechetisch "notwendig" gehaltene Rede vom Zorn Gottes (30) setzt aber eine solche - m. E. nicht (mehr) gegebene - Eindeutigkeit und Verbindlichkeit voraus. Sie kann daher nicht, wie M. es letztlich möchte, Moment einer heilsgeschichtlich-dramatischen Entwicklung von Gotteserfahrungen heute werden, wenn sie nicht auch - was M. ausklammert - theoretische Wahrheit über das Wesen Gottes beansprucht (570). Das eine (Erfahrung) ist ohne das andere (Wahrheit) grundlos. Nun ist aber - auf Grund der Gottesferne als nicht gegebener Eindeutigkeit der Realität Gottes- eine solche theoretische Wahrheit in der Tat zumindest nicht mehr mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit festzustellen. Aber dann ist auch die faktisch vorhandene Rede vom Zorn Gottes als Ausdruck dramatischer Gotteserfahrung unbegründet.

Gegenüber diesem systematisch-methodischen Problemstand, der auch als erkenntnistheoretische Variante des Theodizeeproblems verstanden werden kann, sind die üblicherweise und auch von M. aufgeworfenen Probleme einer anthropomorphen Rede von Gott bzw. die Frage, ob Zorn nicht ein dem souverän und selbstbestimmt statt bloß reaktiv oder unberechenbar handelnden Gott unangemessener Affekt ist (514), von nachgeordneter und vergleichsweise harmloser Bedeutung. Wenn wir eindeutig wüssten und verbindlich sagen könnten, wer oder wie Gott ist bzw. wer oder wie der Mensch ist, wären Anthropomorphismen prinzipiell kein ernsthaftes theologisches Problem (Heidegger).

Ungeachtet dessen bleibt die vorliegende, gut lesbare Studie eine anregende Informationsquelle für alle, denen allzu eingefahrene und leicht als Projektionen zu durchschauende Gottesvorstellungen suspekt geworden sind.