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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1103–1106

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ueberweg, Friedrich

Titel/Untertitel:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Völlig neubearb. Ausg. Hrsg. von H. Holzhey. Bd. 1: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa. Hrsg. von H. Holzhey u. W. Schmidt-Biggemann unter Mitarb. von V. Mudroch.

Verlag:

Basel: Schwabe 2001. XXIII, 1507 S. ¬ 174,00. ISBN 3-7965-1035-3.

Rezensent:

Detlef Döring

Im Herbst des Jahres 1868 schreibt Friedrich Nietzsche an seinen Jugendfreund Paul Deussen folgende Bemerkung: "... denn hoffentlich verstehst Du unter einer Kritik seines [Schopenhauers, D.D.] Systems nicht nur die Hervorhebung irgend welcher schadhaften Stellen, misslungender Beweisführungen, taktischer Ungeschicktheiten: womit allerdings gewisse überverwegene Überwege [...] alles gethan zu haben glauben."1 Wer den Duft einer Rose nicht riechen könne, so weiter der angehende Philologe, sei auch nicht berechtigt, diesen zu kritisieren. Gemeint ist der Königsberger Professor Friedrich Ueberweg, dessen "Grundriß der Geschichte der Philosophie" (1. Auflage 1863-66) als Beispiel der "antiquarischen Historie" sicher nicht den Beifall des späteren Autors von "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" finden konnte. Wenn auch, um im Bild zu bleiben, Ueberweg eine Rose nicht riechen konnte und als Philosoph heute völlig vergessen ist, so steht sein Name doch für die wohl bekannteste handbuchartige Darstellung der Philosophiegeschichte. Das Werk ist, immer wieder von neuen Autoren überarbeitet, bis auf den heutigen Tag unentbehrlich geblieben. Allerdings, die letzte Auflage war in der Zwischenkriegszeit erschienen, eine gänzliche Neubearbeitung war längst fällig und ist endlich 1983 mit dem Erscheinen des ersten Bandes der "völlig neubearbeiteten Ausgabe" in Gang gebracht worden. In ihrer Anlage wirkt die Planung des neuen Ueberweg schlechthin überwältigend: Aus bisher vier Bänden werden jetzt über dreißig Bände, die teilweise noch in Form von Halbbänden veröffentlicht werden! Begonnen wurde das Unternehmen mit der Darstellung der Philosophie des Altertums und der des 17. Jh.s. Letztere hat mit dem hier zu rezensierenden 4. Band ihren Abschluss gefunden. Der 3. Band des "alten" Ueberweg (Berlin 1924) hatte die gesamte Philosophie der Frühen Neuzeit (Ende 15. bis Ende 18. Jh.) abgehandelt. Jetzt beschäftigen sich allein acht dickleibige Bände nur mit dem 17. Jh.! Bei allem Bewusstsein um die Gefahren einer Tonnenideologie lässt sich doch schon auf Grund dieser Tatsache berechtigterweise konstatieren, dass die Forschungen zur Philosophiegeschichte der Frühen Neuzeit in den letzten Jahrzehnten entscheidend vorangekommen sind.

Der vorliegende Band berücksichtigt laut Buchtitel das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sowie Nord- und Ostmitteleuropa. Diese Angabe deckt sich nicht ganz mit dem Inhalt und ist daher etwas irreführend: Reichsitalien, Lothringen und andere heute zu Frankreich zählende Gebiete sowie die spanischen Niederlande, die zum Reichsgebiet gehörten, fehlen. Die Schweiz, die 1648 aus dem Reichsverband ausscheidet, ist dennoch vertreten, die Niederlande, die im gleichen Jahr den gleichen Weg beschreiten, werden dagegen nicht berücksichtigt. Der erste Teil mit insgesamt 1220 Seiten behandelt das Deutsche Reich, gegliedert in zehn Kaptel: Spiritualismus und Mystik, Erneuerungsbewegungen, Lullismus, Schulphilosophie, politische Philosophie, Naturrecht, Religion und Vernunft, Naturphilosophie, Leibniz, Chr. Thomasius. Die Herausgeber verstehen diese Anordnung im Wesentlichen chronologisch, wobei Schulphilosophie und politische Philosophie eine Ausnahme bilden, denn ihre Diskussion erstreckt sich über das gesamte Jahrhundert. Der Unterschied dieser Gliederung gegenüber der Ausgabe von 1924 ist eklatant. Dort wurde fast die gesamte Darstellung des 17. Jh.s auf einige wenige Personen und ihr Umfeld (Anhänger und Gegner) konzentriert: Descartes, Hobbes, Spinoza, Leibniz. Statt der "großen Köpfe" sind es jetzt Themen und Instutionen, die im Zentrum des Interesses stehen. Von besonderem Verdienst ist der Versuch, den konkreten deutschen Rahmenbedingungen des philosophischen Denkens Rechnung zu tragen und daher den Schulen und Universitäten ein besonderes Kapitel zu widmen, das schon allein durch seinen Umfang (über 300 Seiten) fast als Kernstück des 1. Teils des Werkes empfunden werden kann. Drei Unterkapitel behandeln die Hochschulen je nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit. Einer allgemeinen Einleitung folgt die Schilderung der einzelnen Universitäten, der sich in der Regel Ausführungen zu verschiedenen Gelehrten anschließen, die dort gewirkt haben. Hier vor allem wird ein weiterer Vorteil des neuen Ueberweg sichtbar, die Einbeziehung von Persönlichkeiten, die in heutigen historischen Untersuchungen kaum oder gar nicht berücksichtigt werden, in ihrer Zeit aber zumindest regional durchaus von Bedeutung gewesen sind. Schließlich ist das vorliegende Kapitel ein Zeugnis dafür, dass die so lange als angeblich steril vernachlässigte Schulphilosophie nun ihre endgültige Anerkennung als forschungsrelevantes Thema gefunden hat.

Ganz zu recht gelangt angesichts des Selbstverständnisses des 17. Jh.s eine weit gesteckte Definition von Philosophie zur Anwendung. Entwicklungen auf dem Gebiet der Theologie (z.B. Pietismus) finden gleichermaßen Berücksichtigung in Form eigener Paragraphen wie der Aufstieg der Naturwissenschaften. Wie sehr sich seit der ersten Hälfte des 20. Jh.s das Feld der Forschungen ausgeweitet hat, das zeigt die Bearbeitung von Themen, die damals gar nicht oder nur am Rande existierten: z. B. clandestines Schrifttum, Neustoizismus und Tacitismus, Rosenkreuzer-Bewegung, Lullismus, Monarchomachen, Sozinianismus. Gerade für die Theologie- und Kirchengeschichtsschreibung wichtig ist das Bemühen, die Entwicklungen bei allen drei großen Konfessionen zu verfolgen (besonders deutlich im Kapitel über die Schulphilosophie), was angesichts einer traditionellen gewissen Vernachlässigung des katholischen Bereichs hervorzuheben ist. Da nach den Erschütterungen der Reformationszeit Theologie und Philosophie bei allen drei Konfessionen aufs Neue ein, wenn auch sehr unterschiedlich gestaltetes Bündnis miteinander eingehen, finden sich gerade in diesem Kapitel zahlreiche Personen, die auch von theologie- und dogmengeschichtlicher Relevanz sind. Für die Qualität der Beiträge, auf die angesichts der Unzahl der behandelten Gegenstände an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, bürgen die Namen der Autoren, die nicht selten eine führende Stellung in den von ihnen behandelten Forschungsgebieten innehaben: z. B. Herbert Breger, Horst Dreitzel, Notker Hammerstein, Thomas Leinkauf, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Winfried Schröder, Walter Sparn, Johannes Wallmann. Die einzelnen Paragraphen folgen einem für den gesamten Ueberweg festgelegten überzeugenden Schema: Allgemeine Darstellung bzw. Biographie; ausführliche Inhaltsbeschreibung der Hauptwerke der behandelten Person, Einrichtung oder philosophischen Richtung; Doxographie und Wirkungs- bzw. Forschungsgeschichte (zu den Bibliographien s. den übernächsten Absatz).

Der zweite Teil des Bandes wirkt mit seinen rund 180 Seiten eher wie ein Anhang zum Hauptteil des Buches. Es ist jedoch unbedingt zu würdigen, dass hier im Gegensatz zu den gängigen philosophiegeschichtlichen Handbüchern westeuropäischer und deutscher Provenienz Nord- und Ostmitteleuropa überhaupt einmal nennenswert ins Blickfeld gerückt werden. Da alle diese Territorien mehr oder minder unter deutschem Einfluss standen, erscheint es auch als legitim, sie in Verbindung mit dem Reich zu behandeln. Dem Außenstehenden ist es nicht möglich, über die Qualität dieser Abschnitte zu urteilen. Beim Skandinavienteil fallen jedoch manche Feststellungen, von denen sich die Forschung hierzulande nun endlich verabschiedet hat, auf, so wenn von Gleichschaltung der Universitäten, unfruchtbaren Disputationen und schematischer Schulphilosophie die Rede ist. Überzeugender wirkt das Kapitel zu Polen, das aus der Feder des insbesondere durch seine Sozinianismusforschungen ausgewiesenen Zbigniew Ogonowski stammt.

Was schon die früheren Auflagen des Ueberweg u. a. so wertvoll gemacht hat, das waren die umfangreichen bibliographischen Mitteilungen zur Primär- und Sekundärliteratur. Auch der neue Ueberweg legt schon in der Selbstdarstellung (s. Klappentext) großen Wert darauf, ein "bibliographisches Referenzwerk" zu sein. Jedem Kapitel (sei es zu Personen oder zu Sachverhalten) sind aufwendige Übersichten der Primärliteratur vorangestellt worden. Am Schluss der jeweiligen zehn Kapitel folgt die Auflistung der Sekundärliteratur. Die Mitteilungen zur Primärliteratur sind im Umfang recht unterschiedlich, worauf die Herausgeber freilich kaum Einfluss hatten nehmen können. Klare Leitlinien hätten jedoch bei der Frage herrschen müssen, was für Quellenliteratur hier Berücksichtigung finden soll. Einige Autoren listen (sehr unterschiedlich in der Sorgfalt) gedruckte Ausgaben der Briefe der von ihnen behandelten Persönlichkeiten auf, andere nicht. Einige geben Auskunft (wieder sehr unterschiedlich) über den handschriftlichen Nachlass der betreffenden Personen, die meisten nicht.

Die Arbeit an dem Band hat fast zwanzig Jahre in Anspruch genommen, so dass es gerade bei den Angaben zu Sekundärliteratur schwierig gewesen sein wird, immer auf dem aktuellen Stand zu bleiben. In der Regel ist dies dennoch gelungen, wenn auch vielerorts Lücken festzustellen sind, aber es gibt doch auch eine Reihe "schwarzer Schafe". So enden die Angaben zum christlichen Naturrecht (von einer 1995er Publikation abgesehen) mit einem Titel des Jahres 1979, zu Erhard Weigel 1983, zu Christian Knorr von Rosenroth (in den letzten Jahren mit mehreren wichtigen Titeln bedacht) 1988. Geradezu ärgerlich ist das Literaturverzeichnis zu dem ansonsten so verdienstvollen Kapitel Schulphilosophie. Hier ist eine Aufstellung der Sekundärliteratur zu den so zahlreich behandelten Gelehrten anscheinend vergessen worden. So findet sich zu Personen wie z. B. Bartholomäus Keckermann, Johann Heinrich Alsted, Johannes Clauberg, Daniel Stahl, Christoph Scheibler usw. kein einziger weiterführender Titel. Berücksichtigt werden, neben allgemeinen Darstellungen, allein die einzelnen Universitäten. Aber auch hier wird der Benutzer des Handbuches nicht selten enttäuscht: Wenige, oft sehr alte Titel vermitteln kaum eine brauchbare Hilfe; wenigstens hätte man auf vorhandene Bibliographien verweisen können. Da eine überarbeitete Neuauflage des Werkes sicher lange Jahre auf sich warten lassen wird, sind die angeführten Versäumnisse doppelt misslich.

Druck und Aufmachung der Bände sind vorbildlich, wenn auch der Schutzumschlag, der in seiner Gestaltung eher ein Medizinlehrbuch erwarten lässt, etwas einfallslos wirkt. Den Lesefluss stören die in den Text als Klammerbemerkungen aufgenommene Literaturhinweise in Form von Zahlen und Seitenangaben. Dies mag für naturwissenschaftliche Publikationen brauchbar sein; geisteswissenschaftliche Arbeiten sollten von dieser Praxis Abstand nehmen und bei den guten alten Fußnoten bleiben. Ein umfangreiches Namenregister erfasst nicht nur historische Persönlichkeiten, sondern auch die Autoren der Sekundärliteratur. Ein Sachregister zu allen vier Bänden der Reihe zum 17. Jh. schließt das Monumentalwerk ab. Da bei der Anlage der Darstellung geographische Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle spielen, wäre die Beigabe eines entsprechenden Registers (vgl. allerdings die Erfassung von Lehr- und Forschungseinrichtungen im Sachregister) sicher nützlich gewesen, hätte aber die ohnehin sehr aufwendigen Arbeiten nochmals in die Höhe geschraubt.

In der Bilanz kann konstatiert werden, dass der neue Ueberweg-Band erstmals die mit Ausnahmen so lange wenig beachtete Entwicklung der Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung ausführlich und in aller derzeit möglichen Breite dem Leser vor Augen führt.2 Man kann hinsichtlich der vorgelegten Werkinterpretationen sicher auch anderer Meinung sein, entscheidend ist, dass dem zum 17. Jh. Forschenden ein Handbuch zur Verfügung steht, das eine rasche und (mit Abstrichen) auf dem neusten Stand befindliche Orientierung zu allen relevanten Fragen der Philosophiegeschichte einschließlich ihrer Randgebiete ermöglicht.

Fussnoten:

1) Paul Deussen: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Leipzig 1901, 58.

2) Allerdings hat schon Siegfried Wollgast 1988 versucht, das gleiche Thema, jedoch mit einer unterschiedlichen zeitlichen Eingrenzung, umfassend abzuhandeln (Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. Berlin 1988). Das umfangreiche Buch (1037 S.) ist in seiner Intention als eine Pionierleistung zu würdigen, trägt jedoch in einem ganz erheblichen Maße einen kompilatorischen Charakter und verharrt im Prokrustesbett marxistischer Geschichtsideologie.