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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1021–1023

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Oesterreich, Peter L.

Titel/Untertitel:

Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. XII, 205 S. 8. Geb. DM 68,-. ISBN 3-534-13378-1.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Der an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau Philosophie lehrende Peter Oesterreich will nicht zuletzt angesichts der sprachphilosophischen Wende des 20. Jh.s die Akten über den deutschen Idealismus vermittels seines "fundamentalrhetorischen" Ansatzes (XII) neu öffnen. In einem ersten einleitenden Kapitel (1-60) geht er dem spannungsreichen Verhältnis von Metaphysik und Rhetorik von den Anfängen des Philosophierens bei Parmenides bis zur unmittelbaren Voraussetzung des Idealismus, bis zur Philosophie I. Kants, nach. Die Grundspannung resultiert aus der offensichtlichen Differenz, die zwischen dem an Letztbegründung orientierten metaphysischen Denken einerseits und der Nötigung zu einer einsichtigen rhetorischen Vermittlung spekulativer Einsichten in der Öffentlichkeit andererseits besteht. Gerade an den rhetorischen Projekten J. G. Fichtes und F. W. J. Schellings kann der Vf. im zweiten (61-131) und dritten (133-192) Kapitel zeigen, wie sehr diese Philosophen ihre Aufgabe einer der Welt zugewandten Gelehrsamkeit wahrgenommen haben.

1. Schon an dem Lehrgedicht des Parmenides können die drei Grundschritte metaphysischen Denkens studiert werden, das in der verwirrenden Alltagserfahrung (Meinungen) einsetzt (die Göttin der Überredung, Peitho, eröffnet den Zugang zur Aletheia), sich zur eigentlichen reinen Vernunfteinsicht (Aletheia entlarvt die bloße Doxa) erhebt und durch sie belehrt in die Lebenswelt zurückkehrt. Diesen drei Schritten eines propädeutischen, spekulativen und öffentlichen Vernunftgebrauchs entsprechen die aszendierende, demonstrative und reszendierende Rede. Während die demonstrative Rede mit der sachlichen Differenz von Evidenz oder Intuition des Absoluten und seiner diskursiven Darstellung zu kämpfen hat, erfüllen die aszendierende und reszendierden Redeweisen die Funktion der interpersonalen Vermittlung des sachlich Eingesehen (7-16). "Damit tritt zu Tage, daß es überhaupt gar keine arhetorische Metaphysik gibt." (16) Der Vf. möchte daher "die bisher verborgene öffentliche Philosophie des deutschen Idealismus" freilegen (22).

Dafür setzt er bei dem schon von Kant thematisierten Problem der öffentlichen Darstellung der Transzendentalphilosophie ein und macht plausibel, daß insbesondere Fichte als ihr Erneuerer aus dem Geist der Rhetorik gelten kann (25-43). Während nämlich bei Kant die professionell philosophischen ("Schulbegriff") und die populären Schriften ("Weltbegriff" der Philosophie) in zwei Gattungen auseinanderfallen, will Fichte "von Anfang an als Redner wirken" (29) und die Transzendentalphilosophie so von der Darstellungsaufgabe her neu aufrollen (vgl. 30). "Mit dieser Idee einer philosophischen Rhetorik, in der die Philosophie eine allgemeine Wirksamkeit und die Rhetorik eine tiefere gedankliche Gründlichkeit hinzugewinnen sollen, geht Fichte entscheidend über Kant hinaus." (33, vgl. 43) Die "Wissenschaftslehre" von 1794 läßt sich sonach von der rhetorischen Kunst in Gedankenfindung, Anordnung und Ausdruck (inventio, dispositio, elocutio) leiten (34). Aufgrund des Darstellungsproblems erfindet Fichte den spezifischen "genetischen Vortragsstil" (35), der seine und Schellings öffentliche Lehre charakterisiert. Mit dieser Akzentuierung tritt zugleich das Ideal des philosophisch gebildeten Gelehrten, der die schon von Kant geforderte "Kultur der Vernunft" befördern will, in den Vordergrund (44-60). Die Gelehrten repräsentieren die intellektuelle "Avantgarde des geschichtlichen Lebens, die eine gesamtkulturelle ,Revolution der Denkart’ initiieren will" (59).

2. Vor allem an Fichtes Berliner Vortragszyklen, den "Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" (1804/05), der "Anweisung zum seligen Leben" (1806) und den "Reden an die deutsche Nation" (1807/08), kann der Vf. zeigen, wie mittels der rhetorischen Darstellung Fichte auf die lebenspraktische Realisierung seiner Theorie des Absoluten (aus der "Wissenschaftslehre" von 1804) drängt. Der Vortrag stellt für Fichte einen der esoterischen Wissenschaft gleichrangigen "Ort der Wahrheit" dar (84). Dabei bieten die "Grundzüge" eine scharfe Gegenwartskritik (93-112), die "Anweisung" die religiös vertiefte praktische Philosophie (113-131). In der mit einem Fünffachschema gedeuteten spekulativen Vernunftgeschichte wird die Gegenwart an dritter Stelle, im "Stand der vollendeten Sündhaftigkeit" verortet, da sie durch den Auseinanderfall von radikaler Emanzipation (entfesseltem Individualismus) und Vernunft (Gemeinschaft) gekennzeichnet sei. Fichte zielt dagegen auf den "Kulturstaat der Zukunft", der zugleich mit einem philosophisch interpretierten Christentum kompatibel ist (106). Diese mystisch inspirierte Metaphysik der "Anweisung" terminiert in der rhetorisch dargestellten "begreiflichen Unbegreiflichkeit des Absoluten" (117 ff.). Allerdings erweist sich dieser Neuansatz einer "transzendentalkritisch aufgeklärten Ontologie" (118) insofern als ambivalent, als zwar mittels der Reflexion der "Hervorgang der Vielfalt der menschlichen Bewußtseinswelt aus der Einheit des göttlichen Seins" erklärt werden kann, zugleich aber "innerhalb der Wissensform unseres gegenständlichen Selbstbewußtseins das Absolute notwendig unbegreiflich bleiben muß" (119). Insofern ist Fichtes Metaphysik in die Tradition der "negativen Theologie" einzuordnen (120). Der spekulative Überschritt des Bewußtseins, sich als das "Bild des Absoluten" zu erfassen (122), basiert auf der Figur des Selbstopfers, auf der Selbstnegation selbsttätiger Subjektivität (126). Insofern zielt er auf die Gestalt einer absoluten Liebe, "in der sich das Dasein nach der Negation aller Reflexion unmittelbar mit dem Absoluten verbunden fühlt" (127).

Während Fichte vom moralischen und dann religiös vertieften Vernunftgefühl ausgeht, bleibt auch der Schelling der Münchener Zeit seinem frühen philosophischen Projekt einer neuen Mythologie treu (91). In seinen Entwürfen zum "System der Weltalter" (1811 ff.) will Schelling gerade durch den "mythosnahen Stil" die "öffentliche Lehrbarkeit des Absoluten" ermöglichen und so den Idealismus (poetisch) vollenden (176). Dabei hat er schon in seiner Freiheitsschrift von 1809 Fichtes Gegenwartskritik zu einer Metaphysik des Bösen radikalisiert (152-171). Die menschliche Freiheit ist demnach vorab als das "Vermögen des Guten und des Bösen" (157) zu definieren und Fichtes destruktive Egoität als "positive Verkehrtheit"(162) am Leitfaden der Differenz von (dunklem) Grund und (faktischer) Existenz aufzufassen. Das Böse ist nichts anderes als "der immanente böse Geist der menschlichen Subjektivität", worin wie bei Fichte die Dauerkrise der Moderne erblickt wird (167). Das "Weltalter"-Projekt besteht dann in einer "spekulativen Universalhistorie", dem Versuch des Aufweises "des Absoluten als Realprinzip der Geschichte" (178). Deshalb geht Schelling hier "zur absoluten Erzählbarkeit des Absoluten über: Die Philosophie soll sich in der narrativen Form eines ’spekulativen Epos’ vollenden" (183 ff.).

3. Es besteht kein Zweifel, daß der Vf. mit seiner rhetorisch vermittelten Zugangsweise ein neues Licht auf die Philosophie des deutschen Idealismus wirft. "Durch den oratorischen Stil des neuen religiösen Denkens Fichtes und den mythopoetischen Stil der schellingschen Weltalter soll jene rhetorische Differenz zur lebensweltlichen Öffentlichkeit, die der scholastisch-distinktive Stil Kants ... nicht überwinden konnte, endlich gemeistert werden." (193) Die Darstellung philosophischer Theorien erweist sich sonach nicht als ein nebensächliches Formproblem, sondern der "Sache selbst" verschwistert. Insofern leuchten die oberflächlichen Sottisen gegen Hegel nicht recht ein (15, 59, 133, 190, 194), zumal gerade bei dessen öffentlichen Vorlesungen zur Ästhetik, Geschichte und Religion eine analoge rhetorische Bemühung zu entdecken wäre, den Gebildeten die Einsicht in den spekulativen Standpunkt zu ermöglichen. Zudem gilt auch für Fichte und Schelling, daß sie ihre (esoterische) Theorie des Absoluten für einleuchtend (sprich: zwingend) gehalten haben: Fichte ist eben erst nach der "Wissenschaftlehre" von 1804 an die Berliner Öffentlichkeit getreten (vgl. 95). Schließlich tendiert der Vf. dazu, die Freiheit des gelehrten Philosophen und Redners mit bloßer Kontingenz kurzzuschließen (74, 109 f., 133, 151, 195 f.), mithin zu einem Freiheitsverständnis, das nachgerade der deutsche Idealismus bekanntlich als defizitäres enthüllt hat.