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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1098–1100

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Frisch, Ralf

Titel/Untertitel:

Theologie im Augenblick ihres Sturzes. Theodor W. Adorno und Karl Barth. Zwei Gestalten einer kritischen Theorie der Moderne.

Verlag:

Wien: Passagen Verlag 1999. 310 S. gr.8 = Passagen Philosophie. Kart. ¬ 35,00. ISBN 3-85165-382-3.

Rezensent:

Ulf Liedke

Theodor W. Adorno spricht sich in den "Minima Moralia" für eine Philosophie aus, die durch verfremdende Perspektiven zur Erkenntnis der Wirklichkeit findet. Ralf Frisch versucht mit seiner Dissertation, dieses methodische Postulat gleichsam kritisch auf Adorno (ab sofort A.) selbst und gleichermaßen auf Karl Barth (ab sofort B.) anzuwenden. Mit Hilfe einer verfremdenden, postmodernen Lektüre soll Licht auf zwei Protagonisten einer kritischen Theorie der Moderne fallen. Die Arbeit ist deshalb stark hermeneutisch ausgerichtet.

Innerhalb des ersten Kapitels, das Adorno gewidmet ist, verfolgt F. zunächst "Adornos Diagnose der neuzeitlichen Moderne". Die "Katastrophe der Judenvernichtung" (25) sei, so F.s These, für A. ein erkenntnistheoretisches Prinzip mit transzendentaler Bedeutung: "Das Grauen wird zur normativen Instanz" (ebd.). Von diesem Ort aus dekonstruiere A. die "Legitimationserzählung der Aufklärung" und erzähle ihre "unendliche Geschichte der Delegitimation" (70). Die ruinierte Moderne werde als Hölle, als vollendete und ausweglose Negativität offenbar. A.s Dekonstruktion partizipiere jedoch an eben derselben dekonstruierten Vernunft (63). Der medusische Blick bleibe stets nur ans Negative gefesselt und verlängere es damit unwillentlich. Die Zweideutigkeit von A.s Philosophie bestehe darin, dass das "Verdikt über das Grauen ebensogut als philosophische Apotheotisierung und Fortschreibung des Grauens in anderer Gestalt - nämlich in Gestalt seiner Kritik - gelesen werden kann" (26).

Angesichts dieser Aporie totalisierter Destruktivität entstehe die Frage, ob A. begriffliche Mittel zu ihrer Auflösung zur Verfügung stehen. Die von A. favorisierte "Negativität der Negativität" praktiziere jedoch "Mimesis mit der Negativität" (66) und verstricke sich deshalb in deren mehrdeutige Macht. Es bleibe daher offen, "ob A. auf seiten Gottes oder des Teufels steht" (ebd.). Mit Lyotards Essay "Adorno come diavolo" wird A. "Verhimmelung der Hölle" (67) vorgeworfen. Allenfalls als gnostische Erlösung durch einen deus alienus ließe sich ein Ausweg denken. Da A. aber im Grauen von Auschwitz den Umschlagpunkt der Rettung suche, werde umgekehrt das Grauen soteriologisiert. "Auschwitz - Adventskerze der Parusie - nimmt soteriologische Züge an. Und Adornos Nihilismus der höchsten Erwartung wird phänomenologisch ununterscheidbar von zynisch-nihilistischer, dem unabänderlichen Schicksal alles überlassender Affirmation der Selbstvernichtungspotentiale" (85) der katastrophischen Welt. F.s Kritik geht sogar noch einen Schritt weiter. In einer zweideutigen Formulierung spricht er davon, "der Schritt apokalyptischer Krisenphilosophie [...] zum Faschismus" sei "nicht der größte, sondern der kleinste" (ebd).

Das zweite Hauptkapitel der vergleichenden Studie gilt Barths Römerbriefkommentar von 1922. B.s frühe dialektische Theologie wird "als Dekonstruktion des geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus der neuzeitlichen Moderne gelesen" (142). Ausgehend von der katastrophischen Erfahrung des 1. Weltkrieges erscheint im "Römerbrief" der Krieg als die natürliche Folge der menschlichen Existenzverfassung. Die Krisis der Welt, deren Ausdruck der Krieg ist, könne mit Mitteln der Vernunft erkannt werden (146.173). Der Tod werde somit zum Inbegriff des Wesens der Welt. "Barths Apokalyptik dekonstruiert das Wesen des Lebens als den Tod" (200). Die Welt wird so zum Ort der Nichtrepräsentierbarkeit Gottes. Zugleich gilt aber der Tod auch als Wendepunkt, insofern an seinem Ort das Kreuz Christi steht. B. versuche die Krisis der Welt offenbarungstheologisch aus der göttlichen Krisis heraus zu erhellen. Hier werde allerdings die Zweideutigkeit seiner Theologie greifbar: "Wenn Barth [...] den Krieg als die natürliche Folge von dem, was wir gewesen sind und getan haben, interpretiert und diese unvermeidliche Konsequenz menschlichen Seins und Handelns im Rahmen einer Identität von Weltgeschichte und Weltgericht als Gericht Gottes visualisiert, dann werden offenbarungstheologische und geschichtsphilosophische Erkenntnis als zwei Darstellungsweisen desselben Phänomens offenbar" (180). Eine natürliche Theologie der Krisis und eine Offenbarungstheologie der Krisis liegen, wie F. in einer "Lectio difficilior" herausarbeitet, im Widerstreit (192 f.). B. manövriere sich in eine mehrfach aporetische Situation. Der offenbarungstheologische Weg erweise sich als "Taschenspielertrick", weil er "die ruinierte Moderne" dadurch transzendiere, "daß er sie [...] beseitigt" (172). Der geschichtsphilosophische Weg dagegen bleibe zweideutig. Denn: wo sich Christus einzig in Gestalt der Krise offenbare, drohten "status corruptionis und status integritatis [...] zu verschmelzen" (176). Totale Kritik und totale Affirmation würden ununterscheidbar. B. betreibe Mimesis mit dem Grauen. "Die Todesweisheit des Kreuzes droht jeden Augenblick umzuschlagen in die Divinisierung von Tod, Teufel, Hölle und Sünde" (204).

Angesichts der an A. und B. pointiert herausgearbeiteten Aporien überrascht es, dass F. in seinem dritten Kapitel bruchlos an beide Theorien anschließt und sie zu einer aesthetica crucis fortzuschreiben versucht (215). Moderne Kunstwerke lassen sich, so F.s These, in Analogie zum Kreuz Christi verstehen. Insofern Gott "die Sünde der Welt am Kreuz ebenso auf sich nimmt wie die Kunstwerke der Moderne dies tun, tritt [...] die soteriologische Dimension moderner Kunst wie des Kreuzes auf den Plan" (221). Die moderne Vernissage werde so zum Kreuzweg (230). Die Kunstwerke geben aber nach F. nicht nur den Blick auf die Ruinen der Moderne frei. An ihnen werde zugleich der "österliche Sieg Gottes als Vor-Schein endgültig positiver Bedeutung des Werkes Christi" (ebd.) erkennbar. Die negative Repräsentation des ganz Anderen im Modus des Scheins erweise sich als theologisch angemessen, weil der Schein gerade das Nichtseiende, das Kontrafaktische repräsentiere. Gott werde so "als das Nichts der Welt" (245) verstehbar, dessen Sein in der Fiktionalität des Scheins imaginiert wird. Dass eine solche aesthetica crucis umstritten und zweideutig bleibt, gesteht F. unumwunden zu (243). Gleichwohl glaubt er den Zirkel von A.s und B.s Destruktivitätsfixierung verlassen zu haben. "Wenn wirklich zutrifft, daß am Kreuz wie in moderner Kunst die stellvertretende Offenbarung des ins Heil verschlungenen Unheils der Welt erfolgt, dann müsste kritische philosophische wie theologische Theorie davon erlöst werden können, in einer universalen Hermeneutik des Verdachts Dauerrepräsentation von Destruktivität zu befördern und so die ohnehin im Argen liegende Welt noch weiter zu zerrütten" (247).

Die theologia sive aesthetica crucis kommt allerdings nicht umhin, auch den "schönen Schein" des Bestehenden partiell anzuerkennen. Unter Bezugnahme auf Luthers Rede von der Rechtfertigung des Sünders sieht sie sich zu einer vorsichtigen "Rechtfertigung auch dieses gesellschaftlichen Scheins und dessen Opiumsfunktion" (252) genötigt. Dass dadurch "Doxa Gottes und doxa der Welt [...] bis zur Ununterscheidbarkeit" (255) konvergieren, sei nicht auszuräumen, sondern im Sinne des "simul iusta et peccatrix" (ebd.) zu interpretieren. So bleibe Theologie selbst in der Gestalt einer aesthetica crucis "Theologie im Augenblick ihres Sturzes" (256).

Die vorliegende Studie besticht durch ihre pointiert ausgearbeitete These, durch ihren beherzten Zugriff und ihre sprachliche Komposition. Die zentrale Argumentation, dass A.s und B.s Behauptung einer vollendeten Negativität in sich selbstwidersprüchlich ist, wurde schon verschiedentlich herausgearbeitet und ist sachlich überzeugend. Trotzdem bleibt das Bedenken, ob die vorliegende Destruktionshermeneutik diese berechtigte Kritik nicht überzieht. So bleibt F., wenn er A.s Negativitätsbegriff als Apotheotisierung des Grauens kritisiert, hinter A.s Differenzierung von abstrakter und bestimmter Negation zurück. Wenn das "Verdikt über das Grauen" von F. als dessen "Fortschreibung" kritisiert wird, so wäre weniger "übertriebene Positivität" (wie F. 85 erwägt) eine Alternative, sondern eher das Verschweigen. Doch sowohl die Affirmation wie auch das Vergessen wären angesichts des Geschehenen zynisch. Aussichtsreicher bleibt dagegen die bestimmte Kritik des Negativen, philosophisch, theologisch und politisch.

F.s theologischer Versuch, A. und B. in einer ästhetischen theologia crucis zusammen- und weiterzuführen, leistet einen Beitrag zur theologischen Interpretation der ästhetischen Avantgarde. Seiner eigenen Hermeneutik zufolge entsteht dabei allerdings die Gefahr, den Besuch einer Galerie als imitatio Christi zu vereinnahmen und umgekehrt den Kreuzweg als Betrachtung einer Vernissage zu ästhetisieren. Dieser Gefahr entgeht F. dort am besten, wo er den ästhetischen Schein selbst theologisch, als Seinsweise Gottes zu deuten vermag. Das abschließende Kapitel, das mit dem ästhetischen auch den gesellschaftlichen Schein rechtfertigen will, unterscheidet allerdings zu wenig zwischen Person und Werk: Die Rechtfertigung gilt nach Luther dem Sünder, nicht der Sünde. Insofern bleibt der Versuch, die "affirmative Schlagseite der Theologie [zu] profilieren" (235) zweifelhaft. Rechtfertigung ist nicht ohne Krisis zu haben.