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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1095–1098

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bormann, Franz-Josef

Titel/Untertitel:

Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer: 1999. 327 S. gr.8 = Münchener philosophische Studien, N.F. 14. Kart. ¬ 36,30. ISBN 3-17-015581-4.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Seine 1998 von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen als Dissertation angenommene Untersuchung zur lex naturalis-Lehre bei Thomas von Aquin beginnt Bormann mit einem kritischen Rückblick auf die Forschungsgeschichte seit den 60er Jahren (Kapitel I: 15-45). Damals begann sich die Thomasforschung, angeregt durch E. Gilson und M. D. Chenu, aus dem Korsett des Neuthomismus zu lösen, wobei im deutschsprachigen Raum den Interpretationsansätzen von U. Kühn und W. Kluxen besondere Bedeutung zukam. Dass die Auslegung der thomanischen Lehre vom natürlichen Sittengesetz bis in die Gegenwart höchst kontrovers geblieben ist, führt B. auf die "nicht selten als gegenläufig interpretierten Äußerungen des kirchlichen Lehramtes in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der Enzyklika Humanae vitae vom 25. Juli 1968" zurück (17): Die durch das Konzil nahegelegte Neuorientierung auch der Moraltheologie schien durch die Festschreibung einer "historisch bereits überwunden geglaubte[n] Thomas-Interpretation" (18) in Humanae vitae konterkariert zu werden. Folgerichtig verband sich der Streit um die moraltheologischen Aussagen der Enzyklika mit einer Auseinandersetzung um die darin vollzogene Thomas-Interpretation.

B. referiert zunächst das Thomasbild der sog. autonomen Moral (A. Auer, F. Böckle, K.-W. Merks u. a.); diese versteht die lex naturalis bei Thomas nicht als eine der Vernunft vorgeordnete Norm, sondern als das Ergebnis der Reflexion auf die natürlichen Grundlagen jener praktischen Selbstbestimmung, zu der wir Menschen auf Grund unserer Gottebenbildlichkeit berufen sind. Diesem modernitätsfreundlichen Thomasbild steht eine Auffassung gegenüber, die Thomas' Lehre vom natürlichen Sittengesetz insofern als ein "Gegenmodell zur Aufklärungsethik" (30) begreift, als darin die "Vernunfterkenntnis moralischen Sollens" stets an die "Unverfügbarkeit der Wahrheit dieses Sollens" (38) zurückgebunden bleibt. Die sich aus dieser zunächst historischen Feststellung ergebende Unmöglichkeit einer Harmonisierung der thomanischen Ethik mit dem neuzeitlichen Autonomiebegriff wird allerdings in systematischer Hinsicht durchaus unterschiedlich fruchtbar gemacht: Die hochscholastische lex naturalis-Konzeption gilt den einen gerade wegen ihres voraufklärerischen Charakters auch gegenwärtig als wegweisend (B. Stoeckle, M. Rhonheimer u. a.), den anderen aus dem selben Grund als vollständig obsolet (G. Beestermöller).

Vor dem Hintergrund der kontroversen Forschungslage sowie anknüpfend an die Arbeiten von R. McInerny und C. Schröer möchte B. eine von aktuellen moraltheologischen Debatten zunächst unabhängige Interpretation des thomanischen Ansatzes vorlegen (Kapitel II: 46-275), dessen mögliche Relevanz für den zeitgenössischen Ethikdiskurs dann in einem zweiten Schritt erfragt wird (Kapitel III: 276-295; vgl. bes. 281 ff.). Es entspricht dieser Vorgehensweise, dass der Schwerpunkt der Interpretation dort liegt, wo es sich vom theologischen Hauptwerk des Thomas her am ehesten anbietet: bei der Verbindung der Gesetzes- mit der Glücks- und Handlungslehre, stehen doch in der ersten Hälfte des zweiten Hauptteils der Summa Theologiae (STh I-II) die Lehre vom Glück (STh I-II 1-5), die Lehre von den menschlichen Handlungen (STh I-II 6 ff.) und die Lehre vom Gesetz (STh I-II 90 ff.) in einem engen systematischen Nexus (vgl. 45.232.235). B. beschränkt seine handlungstheoretische Interpretation der lex naturalis-Lehre des Thomas von Aquin allerdings nicht auf ihre zweifellos reifste Ausprägung in der theologischen Summe, sondern er berücksichtigt auch einschlägige Äußerungen aus anderen Texten, vom Sentenzenkommentar und der Summa contra Gentiles über verschienene Quaestiones disputatae und den Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles bis zur Predigtreihe über den Dekalog.

Nach einer kurzen Vergewisserung über das thomanische Ethikverständnis ("die Moralphilosophie ist eine selbständige Wissenschaft"; 58) wendet sich B. der Glückskonzeption des Thomas zu, die dieser in intensiver Auseinandersetzung mit Aristoteles erarbeitet hat. Er betont vor allem die Unterscheidung zwischen der Singularität des (freilich noch abstrakten) Glücks im Sinne eines von allen Menschen naturaliter erstrebten Letztziels (a) und der durchaus zugestandenen Pluralität von Möglichkeiten individuell-konkreter Glücksverwirklichung auf Grund rationalen Handelns (b). Die Unbestimmtheit des Glücksbegriffs im Sinne von (a) darf aber nicht als völlige Inhaltslosigkeit verstanden werden. Denn aus der in diesem Glücksbegriff implizierten Dynamik (Glück als maximale Realisierung menschlichen Seinkönnens im Sinne von Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 6) folgt nach B., dass "auch die für die Aktuierung der Handlungsfähigkeit unverzichtbaren Bedingungen im Glücksbegriff einschlußweise mitenthalten" sind (125, Anm. 470).

Wie die Ausrichtung des Menschen auf das Glück im Allgemeinen zur Entfaltung einer konkreten Güterlehre fortschreiten kann, macht B. anhand der Lehre vom natürlichen Wollen deutlich, das sich nach Thomas auch auf bestimmte Grundgüter wie Sein, Leben, Erkennen bezieht. Sofern die genannten Grundgüter als die vom Menschen "natürlicherweise gewollten Gegenstände" präzise "von dem Erstprinzip des Glücks auf der einen und den konkreten, in die Disposition des Einzelnen gestellten Strebezielen individueller [sc. rationaler] Willensentscheidungen auf der anderen Seite" zu unterscheiden sind (138), gleichen sie "einem Scharnier, in dem [die den Naturzusammenhang garantierende] göttliche Schöpfungsordnung und menschliche Freiheit [...] ineinandergreifen" (143).

Der so rekonstruierte "internalistische, strebensethische Ansatz" wird dann von Thomas im Rahmen der Lehre von der lex naturalis "um eine externalistische Perspektive ergänzt" (144). Davon, wie das Verhältnis beider Argumentationslinien zueinander bestimmt wird, hängt nun ab, welche der beiden eingangs skizzierten Thomas-Interpretationen im Recht ist. Nachdem B. eindrücklich gezeigt und an konkreten Beispielen (161-168; 180-192) verdeutlicht hat, dass in den vor der Summa Theologiae entstandenen Schriften eine "bruchlose Harmonie zwischen den abstrakten naturgesetzlichen Prinzipien und den daraus abgeleiteten konkreten Folgerungen nicht immer lückenlos argumentativ gesichert ist" (163) und insofern ein "Hiatus zwischen [...] Prinzipienreflexion und deren Anwendung" vermutet werden kann (189), wirft er die schon oft ventilierte Frage auf, wie Thomas diesen "Problemüberhang" in seinem Haupt- und Spätwerk abgearbeitet hat.

Besonders die Analysen zum Gesetzestraktat der Prima Secundae vollzieht B. in eingehendem Gespräch mit der in Kapitel I genannten Sekundärliteratur. Dabei zeigt sich schnell, dass er darauf aus ist, zwischen den beiden gegenläufigen Deutungen der zeitgenössischen Thomas-Forschung eine "Mittelposition" zu etablieren (236). Greifbar wird diese Tendenz in B.s Interpretation des umstrittenen Artikels STh I-II 94,2. Wenn darin als Grundlage der lex naturalis das Gebot festgehalten wird, dass das Gute zu tun und zu erstreben und das Böse zu meiden sei (bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum), dann betonen die Vertreter der sog. autonomen Moral die inhaltliche Unbestimmtheit dieses Grundsatzes. Was genau als bonum oder malum zu gelten hat, muss danach von der praktischen Vernunft (ratio practica) immer erst noch festgelegt werden, ist also zeit- sowie kulturabhängig und kann folglich variieren. Dagegen macht B. geltend, dass der Begriff des bonum an dieser Stelle durchaus "über einen komplexen, allerdings nur allgemein bestimmten Sinngehalt [verfügt] [...] und mit der ratio communis des Glücks zusammenfällt" (214) - eine Feststellung, mit der die Behauptung einer gewissen inhaltlichen Bestimmtheit des Glücks als des von allen Menschen naturaliter erstrebten Letztziels aufgenommen wird (vgl. schon den 125, Anm. 469 gegebenen Hinweis auf 212). Daraus folgt freilich nicht, und dies sagt B. gegen die etwa durch B. Stoeckle und M. Rhonheimer vertretene Interpretation, dass sich im Sinne von Thomas die Aufgabe der praktischen Vernunft auf die Ableitung zeitenthobener ethischer Normen auf Grund eines rationalen Nachvollzuges des naturaliter Gegebenen beschränken ließe. Zwar betont auch B., dass Thomas "eine Vielzahl moralischer Forderungen zur lex naturalis rechnet und sogar bestimmte Handlungstypen [...] zu den [...] immer und überall moralisch unmöglichen Handlungen zählt" (292). Diese deontologischen Elemente in Thomas' Ethik, die in der zeitgenössischen Diskussion insbesondere von dem (bei B. nicht erwähnten) katholischen Philosophen R. Spaemann stark gemacht werden, erlauben nach B. jedoch keineswegs die Schlussfolgerung, Thomas vertrete "eine deduktionistische Moraldoktrin" (ebd). Wie vor allem an der Untersuchung von STh I-II 94,4-6 gezeigt wird, drängt sich sogar der Eindruck auf, dass Thomas "nichts ferner gelegen haben dürfte als der systematische Entwurf einer more geometrico konzipierten Naturrechtsaxiomatik" (262). Die natürliche Grunddisposition des Menschen lässt sich deshalb nach B. in inhaltlicher Hinsicht lediglich mit dem Begriff des "Horizontes" beschreiben, "der dem menschlichen Handeln seine Grenze und Richtung weist, ohne die konkrete Praxis bereits in allen Einzelheiten zu determinieren" (236; vgl. 292).

Aus jener "schwachen lex-naturalis-Konzeption" bei Thomas, von der B. am Ende des Buches vor dem Hintergrund seiner umsichtigen und aus Sicht des Rez. durchweg sachgemäßen Analysen spricht (294), können sich durchaus Impulse für die gegenwärtige ethische Diskussion ergeben. Mindestens der systematischen Bedeutung des thomanischen beatitudo-Begriffs im Sinne einer "natürliche[n] bzw. notwendige[n] Ausrichtung des Willens auf die Entwicklung und den Erhalt der individuellen Handlungsfähigkeit" (290) sollte sich auch die evangelische Ethik nicht verschließen.