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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1084–1087

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Pfirrmann, Maria

Titel/Untertitel:

Freie Poesie und gottesdienstliche Lieder. Zum Verhältnis von Bibel, Liturgie und Dichtung im frühen Werk von Willem Barnard (Guillaume van der Graft).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 324 S. gr.8 = Veröffentlichungen zur Liturgik, Hymnologie und theologischen Kirchenmusikforschung, 36. Kart. ¬ 44,00. ISBN 3-525-57204-2.

Rezensent:

Uwe F. W. Bauer

Maria Pfirrmann untersucht in ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit die theologischen und literarischen Besonderheiten der Poesie von Willem Barnard (Pseudonym G. van der Graft) in seiner Amsterdamer Zeit von 1954-1959 (Studiensekretär der Prof. Dr. G. van der Leeuw-Stichting, Begegnungszentrum für Kirche und Kunst1). Der reformierte Pfarrer und Dichter Barnard gilt ihr dabei als Beispiel für eine dem Experimentellen nahestehende Poesie in den Niederlanden der 50er Jahre, deren Vertreter im Zusammenhang mit der Neubereimung der Psalmen für das spätere Liedboek voor de Kerken (1973) Einfluss auf den liturgischen Sprachgebrauch in den niederländischen Kirchen gewannen. Gegenstand P.s sind eine Auswahl von Barnards Gedichten und Kirchenliedern, die sie poetologisch analysiert und interpretiert. P. vertritt die These, dass Barnards Kirchenlieder zentraler Bestandteil seines gesamten poetischen Schaffens sind (19 f.243).

Das vorliegende Buch enthält neben der Einleitung (13-24) zwei Hauptteile. In Teil I (27-106) werden sechs Gedichte aus Barnards Gedichtband Woorden van Brood (1956) besprochen. Die Analyse dieser Gedichte ist als Prolegomenon für Teil II gedacht. In Teil II (109-290) werden sieben Kirchenlieder analysiert. Es folgt eine knappe Schlussfolgerung (291 f.), eine Zusammenfassung (293-297), ein Anhang mit einigen weiteren Übertragungen aus dem Niederländischen, die im Gegensatz zu den wörtlichen Übersetzungen innerhalb des Buches einen literarisch-ästhetischen Anspruch erheben (299-310), und ein Literaturverzeichnis (313-324).

Teil I: P. macht deutlich, dass die Gedichte in Woorden van Brood im Wesentlichen 1955 entstanden sind, und zwar unter dem Einfluss eines zweiwöchigen Studienaufenthaltes Barnards in Oxford, dem entstandenen Kontakt zu englischen Schriftstellern (vor allem Charles Williams) und dem Kennenlernen der anglikanischen Liturgie. Der Gedichtband enthält die vier Zyklen Vlagvertoon [frei übersetzt: Farbe bekennen] - Acheron- Altaarsteen [Altarstein] - Bruidegom [Bräutigam]; inhaltlich geht es um das Wort in der Welt - das Wort in der Unterwelt des Unbewussten: Hoffnungswort - das Wort in der Kirche: Glaubenswort - das Wort zwischen Menschen: Liebeswort. Das den Band einleitende Gedicht De Verspieder [Der Kundschafter] lässt bereits dessen Thematik erkennen: "In Freude zu leben bedeutet, zu glauben, zu lieben und zu hoffen" (30). Wegen des deutlichen poetisch-theologischen Akzents wählt P. zur Interpretation die Dreiergruppierungen Eucharistie 1, 2, 3 und Liederen voor de gedachtenis des Heren 1, 2, 3 aus Altaarsteen, in denen die Motive Abendmahl und Auferstehung dominieren.

Die Gedichte und ihre von P. herausgearbeitete Thematik im Einzelnen (ein Pfeil verweist auf Intertextualität): - "Dichten und Danken". Eucharistie 1: die tägliche Inkarnation des Wortes im Abendmahl (Eucharistie) bzw. im Schreiben des Dichters (- Gen 1; Joh 1,14). - "Fleischwerdung als Bildwerdung". Eucharistie 2: im Abendmahl wird die Stadt als Metapher für die Welt zum Ort der Freude, zum neuen Jerusalem (- Offb 21). - "Fleischwerdung als Leibwerdung". Eucharistie 3: die Inkarnation als Leib-Christi-Werdung der singenden Abendmahlsgemeinde (- Eph 1,10; 4,15 f.; 5,17-21). - "Der Weg des Wortes in die Vergangenheit". Liederen voor de gedachtenis des Heren 1: ein Karfreitagslied; im Jetzt des Gedenkens des Weges Jesu als Weg des Wortes in den Bereich des Todes werden die Toten in den Leib Christi integriert (- Joh 5,25.28; Offb 6,9; Orpheus-Mythos).- "Leibhaftiger Glaube". Liederen voor de gedachtenis des Heren 2: ein Osterlied; im Gesang der Gemeinde gestaltet sich der Glaube und ereignet sich die Auferstehung (- Confessio Belgica; Het Licht [Nijhoff]; Mei 3 [Mai 3]; 1Kor 11,23 f.).- "Lebendige Buchstaben". Liederen voor de gedachtenis des Heren 3: ein Pfingstlied; die singende Gemeinde ist durch den Geist in Liebe und Hoffnung verbunden (- 2Kor 3,2-9; Eph 4,1-6; Gen 2,8 f./Offb 22,1 f.).

Teil II: Nach P. ist die Kirchenlieddichtung Barnards nur vor dem Hintergrund seiner Mitarbeit an der neuen Psalmenübertragung verständlich. Alle Liedtexte, die im Wesentlichen im Kontext der experimentellen Nocturnen-Gottesdienste2 in Amsterdam (1957-60) entstanden, sind formal und inhaltlich von den Psalmen beeinflusst, verwenden eine einfache Sprache und sind tief in der biblischen Tradition verwurzelt. P. wählt sechs Lieder des Osterfestkreises und ein Herbstlied aus, die alle ins Liedboek voor de Kerken aufgenommen sind. Auswahlkriterium ist, dass die Lieder "für den Horizont von Barnards Dichtung charakteristische theologische und anthropologische Aspekte des Singens formulieren" (114) - ähnlich wie bei den Gedichten, die "im überwiegenden Maße die Poesie selbst thematisieren" (114). Die Liedinterpretation folgt jeweils einem vierfachen Raster: 1. Das Lied im Kontext der kirchlichen Tradition; 2. eine sukzessive Analyse; 3. das Weiterwirken der poetischen Impulse der Gedichte (Teil I) in den Kirchenliedern; 4. eine intertextuelle Analyse der biblisch inspirierten Motive (M. -), die sich auch in der gesamten übrigen als mythologisch zu charakterisierenden Poesie Barnards wiederfinden. Der 3. und 4. Punkt sind hinsichtlich des Beweises von P.s These wichtig.

- "Singend unterwegs". Alles wat over ons geschreven is [Alles, was über uns geschrieben ist]: ein Doppellied (neues Genre) für Quinquagesima und Palmarum; das singende Vergegenwärtigen des (Befreiungs-)Wegs Jesu nach Jerusalem durch die Gemeinde (- Lk 18,31-43/Mt 21,1-9; M. - Stadt; Jerusalem, metaphorische Vorstellungen Jerusalems).

- "Das Osterlied als Zukunftsgesang". De toekomst van de Heer is daar [Die Zukunft des Herrn ist da]: ein Osterlied nach einer englischen Vorlage mit alttestamentlichem Psalmenkolorit (- Ps 85 [86]; Jes 45,8; Joh 12,24; 1Kor 15,20-22.35 ff.; Gen 2,7; M. - Saat; Saatmetaphern, Brot).

- "Gesungener Exodus". Het water van de grote vloed [Das Wasser der großen Flut]: ein (Osternacht-)Tauflied mit dem Akzent der Tauferinnerung der singenden Gemeinde; (- Gen 9; Ex 15; Jes 49,16a; Jona 2; 2Kön 5; Mk 1,10; Röm 6,1-10; Sintflutgebet Luthers; Taufformular der reformierten Orthodoxie; M. - Wasser; Wassermetaphern).

- "Neues Singen in alter Tradition". Zingt voor de Heer een nieuw gezang [Singt dem Herrn ein neues Lied]: ein Psalmlied für den Sonntag Kantate, der damit zum Sonntag des Gesangs/der Poesie wird; Singen als Teilnahme an den Wundern Gottes (Ostern) (- Ps 98; Joh 16,5-14; Gen 1; Ex 14; Apg 1 f.; M. - Name; mitschöpfendes Benennen, gemeinschaftsstiftende Sprache, NAME [Miskotte], Name Jesu).

- "Der Atem des Liedes". Gods adem die von boven kwam [Gottes Atem, der von oben kam]: ein Pfingstlied; nicht Geist, sondern Atem Gottes (ÓÔ), der die (mit zischelndem Atem [s- und st-Laute]) singende Gemeinde zum Leib Christi macht (Apg 2,1-11; Gen 2,7; M. - Atem; Sprache, Atem- und Atemnotmetaphern, Leiblichkeit liturgischer Sprache, De adem van het jaar3).

- "Singen als Gebot". Wij moeten Gode singen [Wir müssen Gott zusingen]: für den 20. Sonntag nach Pfingsten; Schuld, Leid, Exil, Abwesenheit aber auch Nähe Gottes; Gebot des Osterjubels im Elend (- Ps 108,2; 137; Dan 3; Eph 5,15-21; M. - Fremde; Abraham, The Hollow Men [Eliot]; Mei 3 [Freiheit]4.

P.s Buch, das formal und inhaltlich überzeugt, verschafft dem deutschsprachigen Publikum einen gelungenen Einblick in das Werk des Pfarrers und Dichters Willem Barnard. Die Analyse der Gedichte und Lieder ist scharfsinnig und kenntnisreich. Als zentrales Stichwort zur Charakterisierung der Poesie Barnards arbeitet P. Leiblichkeit heraus und zeigt, dass die Leiblichkeit seiner Sprache von dem Dichter Martinus Nijhoff beinflusst ist (109 f.), dass die leiblichen Aspekte des liturgischen Geschehens Barnards Nähe zur anglikanischen Tradition erkennen lassen (71 f.) und dass es vor allem die biblische Tradition ist, die Pate für diese Leiblichkeit steht (Inkarnation des Wortes). - Die Auswahl der freien Gedichte und der Kirchenlieder erscheint zunächst insofern problematisch, als sich die These der Einheitlichkeit des Werkes Barnards (allzu)leicht beweisen lässt, wenn letztlich sowohl die Gedichte als auch die Kirchenlieder unter einem poetisch-theologischen Akzent ausgewählt sind (was zudem eine gewisse Redundanz zur Folge hat). Dadurch jedoch, dass P. in Teil II unter Punkt 4 des Analyserasters die intertextuellen Bezüge zum übrigen Werk Barnards und zu den Werken anderer Dichter und Theologen aufzeigt, wird der erste Eindruck korrigiert. - Das Ergebnis (Schlussfolgerung) ist mit zwei Seiten etwas knapp. - Was fehlt, ist eine schematische Übersicht von Barnards Lebensdaten. Sofern man Poesie auch von der Biographie des Dichters her verstehen will, wie es bei P. der Fall ist, ist es für die nicht-niederländischen Rezipienten mühsam, P. zu folgen, wenn sich die entsprechenden Angaben nur ganz verstreut und unvollständig finden.

Fussnoten:

1) Vgl. Uwe F. W. Bauer, hlah myrbdh lk. All diese Worte: Impulse zur Schriftauslegung aus Amsterdam. Expliziert an der Schilfmeererzählung in Exodus 13,17-14,31. Frankfurt a. M. et al., 1991, 170 ff.

2) Ebd., 172, f.

3) W. Barnard, De adem van het jaar. Proeve van een kerkelijk gezangboek. Amsterdam 1959.

4) Die Mai-Gedichte Barnards (Mei 1, 2, 3) spielen auf die Befreiung der Niederlande 1945 an.