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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Renz, Horst [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ernst Troeltsch zwischen Heidelberg und Berlin.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001. 362 S. m. 1Taf. 8 = Troeltsch-Studien, 2. Kart. ¬ 34,95. ISBN 3-579-00393-3.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Der seit langem erwartete 2. Band der Troeltsch-Studien bietet, wie erwartet, reichhaltiges Material zur Biographie und zur Werkgeschichte Ernst Troeltschs während seiner Heidelberger und Berliner Jahre. Der Band ist eine Fundgrube von wichtigen und weniger wichtigen Informationen. Das von Hans-Georg Drescher1 gezeichnete Bild Troeltschs wird dadurch nicht umgestoßen, aber doch korrigiert, ergänzt und vertieft.

Die Beiträge konzentrieren sich auf drei Aspekte des Wirkens Troeltschs: die Heidelberger Jahre, den Übergang nach Berlin mit dem Wechsel von der Theologischen an die Philosophische Fakultät sowie die Nachwirkungen in den Anfängen der theologischen Schule Troeltschs.

In einem gründlich recherchierten Beitrag berichtet der Herausgeber Horst Renz über die Zeit Troeltschs in Heidelberg, seine mannigfachen Kontakte und wissenschaftlichen Aktivitäten sowie die wachsende Ausdehnung seines Wirkungskreises ("Auf der alten Brücke. Beobachtungen zu Ernst Troeltschs Heidelberger Jahren 1894-1915", 9-87). - In diese Zeit fiel auch die Amerikareise Troeltschs, die Hans Rollmann auf der Grundlage bislang unveröffentlichter Reisebriefe sowie lokaler Quellen darstellt und in ihrer Bedeutung für Troeltschs Denken auswertet ("Ernst Troeltsch in Amerika. Die Reise zum Weltkongreß in St. Louis (1904)", 88-117). Als das "Wunderbarste" an Amerika galt Troeltsch im Rückblick, dass er dort einem "Volk von arbeitenden Gehirnen" begegnet war (117).

In einem faktenreichen und statistisch belegten Beitrag bietet schließlich Martin Riesebrodt unter dem Titel "Profaner Alltag. Ernst Troeltsch als akademischer Lehrer und seine Heidelberger Hörerschaft" (215-265) Informationen über das Theologiestudium in Heidelberg zur Zeit Troeltschs und über die Stellung der Heidelberger Fakultät unter den evangelisch-theologischen Fakultäten im Deutschen Reich. Geboten werden statistische Angaben zur Hörerzahl an den evangelisch-theologischen Fakultäten (249-254), zum Anteil der Theologiestudierenden an der Gesamtzahl der Heidelberger Studierenden 1894-1915 (255 f.), zur Entwicklung der Hörerzahlen an den einzelnen theologischen Lehrstühlen in Heidelberg (257 f.), zu den Veranstaltungen von Troeltsch samt Hörerzahlen (259-263) sowie zur Entwicklung der Kolleggelder 1894-1915 (264 f.). In seinem Fazit hebt Riesebrodt hervor, dass der wissenschaftliche Alltag damals so profan war wie heute. Im "Kontext eines generellen Bedeutungsverlustes der Theologie, die sich in rückläufigen Studentenzahlen manifestiert [...] findet Troeltsch in seinen philosophischen Lehrveranstaltungen den Zulauf und die Anerkennung, die wir ihm aus heutiger Sicht ohnehin zugeschrieben hätten. Und schließlich bedeutete der philosophische Hörermarkt eine wesentliche Steigerung seiner Einkünfte." (248)

Der zweite Problemkreis wird vor allem durch eine große Studie von Günter Wirth dargestellt ("Zwischen den Stühlen. Ernst Troeltsch und die Berliner Universität", 118-184). In seinem ausführlichen Beitrag zeichnet er erstmals die komplizierten Vorgänge nach, die 1914/15 zur Berufung Troeltschs nach Berlin und zum Wechsel an die Philosophische Fakultät geführt haben. Für Wirth markieren diese kenntnisreich beschriebenen Vorgänge nicht nur Interessengegensätze in der Berliner Fakultät, wie sie viele Berufungen begleiten und häufig zu Resultaten führen, die keine der Parteien angestrebt hat. Er stilisiert sie zum Signum der Epoche, zum Zeitzeichen nicht nur der Berliner "Hochschul- und [...] Kulturpolitik", sondern der "allgemeinen geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland", in denen "das System von Thron und Altar" und damit "eine jahrhundertelange Entwicklung ihr Ende fand" (182). Das (aus seiner Sicht) epochale Gewicht der Berufung Troeltschs nach Berlin sucht er dadurch deutlich zu machen, dass er seine Absätze in irritierender Häufigkeit in drei bedeutungsschweren Punkten "..." ausklingen lässt. Doch das stilistische Mittel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein keineswegs nur außergewöhnlicher, sondern in vieler Hinsicht leider nur zu gewöhnlicher kontroverser Berufungsvorgang in Gefahr steht, historiographisch überhöht zu werden. Nicht die Fakultätskontroversen markieren eine Epochenzäsur, sondern sie fallen in die Zeit der grundlegenden Veränderungen des Ersten Weltkriegs, die aus ganz anderen Gründen als Epochenzäsur zu gelten hat. Wie Troeltsch selbst diese Zäsur wahrnahm, untersucht Shinchi Sato am Beispiel der Diskussion um die Kriegsziele in seiner Studie "Die Polarisierung der Geister im Ersten Weltkrieg am Beispiel eines Vergleichs von Ernst Troeltsch und Gottfried Traub" (185-214). Gerade im Vergleich mit Traub wird deutlich, dass Troeltsch im Blick auf die Kriegsziele des Ersten Weltkriegs Positionen vertrat, die insgesamt als gemäßigt zu beurteilen sind.

Die drei letzten Beiträge konzentrieren sich auf die Nachwirkungen Troeltschs. So zeigt Hans-Hermann Tiemann ("Hermann Süskind, Otto Lempp und die Anfänge der theologischen Schule Troeltschs, 266-289), dass Troeltsch "Schüler nicht allein durch seine Lehrveranstaltungen gewonnen" hat, sondern dass akademische Schülerschaft bei ihm "auch ohne vorherige Teilnahme an seinen Lehrveranstaltungen, zum Teil sogar ohne persönliche Kontaktaufnahme von Lehrer und Schüler, entstehen konnte" (266). Das Thema wird fortgesetzt von Matthias Wolfes, der die Aufnahme Troeltscher Gedanken bei Rudolf Paulus nachzeichnet ("Historismus und Christologie. Der württembergische Theologe Rudolf Paulus als Schüler Ernst Troeltschs. Mit einer Bibliographie der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Paulus", 290-314). Und schließlich bietet Erika Dinkler-von Schubert auf Grund erstmals publizierter privater Quellen einen detaillierten Einblick in Vorgänge, die zur Drucklegung der Glaubenslehre Troeltschs durch G. von le Fort geführt haben ("Ernst Troeltschs Glaubenslehre. Dokumente zur Edition durch Gertrud von le Fort", 315-352). Der Band, dem Aufnahmen von Troeltsch, Lempp, Süskind und Paulus beigegeben sind, wird abgeschlossen durch ein Namenregister.

Alle Beiträge des Bandes bieten neues Material, sind lesenswert und gut recherchiert. Nicht immer freilich wird die Grenze zwischen Beiträgen zur Biographie und zur Hagiographie bzw. zwischen Troeltschforschung und Troeltschapologetik gewahrt. Nicht immer wird auch deutlich, welches Gewicht den mitgeteilten Informationen beigemessen wird bzw. beizumessen ist: Was etwa ist aus der peniblen Auflistung der Zahl der Mutterschafe, Zeitschafe, Jährlingsschafe und Lämmer der Schwiegereltern Troeltschs (35) zu seinem Verständnis zu lernen? Immer noch wird auch das sattsam bekannte Überbietungsargument wiederholt, dass im Gegensatz zu der an Troeltsch von Barth und anderen geäußerten Kritik "die ausgreifenden Aufgabenstellungen Troeltschs die Entwürfe und Lösungsvorschläge dieser dialektischen Theologen epochal einschließen" (66). Und immer wieder wird versucht, Troeltsch mit G. Schmidt "zum Deuter der modernen Zeit oder zum Wegbahner eines zeitgemäßen politischen und sozialwissenschaftlichen Denkens aufzuwerten" und ihn als "eine Art Einstein nicht nur der religiösen, sondern auch der kulturellen und geschichtlichen Welt" zu präsentieren (289). Bei aller verständlichen Begeisterung für ihren Gegenstand geht in solchen Bewertungen der kritische Blick dafür verloren, was Troeltsch im Vergleich mit seinen Zeitgenossen theologisch tatsächlich geleistet und eben auch nicht geleistet hat und worin sich die theologischen Probleme zu Beginn des 20. Jh.s von denen des 21. Jh.s unterscheiden. Es ist eines, die Bedeutung Troeltschs im Kontext seiner Zeit in ein angemessenes Licht zu rücken, ein anderes, ihn zur Epochenzäsur und zum Paradigma fortschrittlicher Theologie in der Gegenwart zu stilisieren. Zum ersten leistet dieser Band einen beachtenswerten Beitrag, zum zweiten bietet auch er keine neuen Argumente.

Fussnoten:

1) H.-G. Drescher, Ernst-Troeltsch, Leben und Werk, Göttingen 1991.