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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1080–1082

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Huber, Friedrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reden über die Religion - 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsverständnis.

Verlag:

Wuppertal: Foedus-Verlag; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. 200 S. 8 = Veröffentlichungen der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, N.F. 3. Kart. ¬ 19,90. ISBN 3-932735-45-5 u. ISBN 3-7887-1781-5.

Rezensent:

Hermann Peiter

In seinem informativen Beitrag ("Liebhaber der Religion unter den Gebildeten") zu einer Ringvorlesung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal legt H. Zschoch u. a. dar, dass die Behauptung, das Religionsthema sei den gebildeten Zeitgenossen Schleiermachers (= Schl.s) gar nicht gegenwärtig, nicht die tatsächliche Diskussionslage aufnimmt (18 f.). Als Soziologe stößt H. Tyrell bei dem Redner über die Religion "auf den besonders ambitionierten und reflektierten Fall, daß die Religion die abstraktere Kommunikationsebene [...] in dieser selbst zu dementieren und zu unterlaufen sucht - um der präferierten Interaktivität und Oralität willen." (39) Schl. bedeutet eine "Bruderschaft" nichts und die brüderliche Liebe (vornehmlich zu den sog. "Laien") alles. In den "Reden" entdeckt Tyrell eine elitäre Bruderschaft der "Virtuosen" (47-49).

M. Ohst schreibt Schl. zwei Kirchenbilder zu, ein Idealbild, aber "sodann das Bild einer real existierenden Kirche, die so verfaßt ist, daß sie der idealen Kirche nicht einmal zuverlässig zuarbeiten kann" (59.61.13 f.24). Ohst behauptet keine Analogie zum "real existierenden Sozialismus" (der sich bekanntlich als nicht reformierbar erwiesen hat), sondern sieht Schl. in seinen "Unvorgreiflichen Gutachten" die wirkliche Kirche als Ort religiöser Kommunikation ins Auge fassen (60). Nach A. B. Ernst bedeutet "real existierend" so viel wie "positiv" (88). Auch F. Huber versteht unter den positiven die "gegebenen", "vorhandenen" Religionen, führt aber sogleich weiter und trifft ins Schwarze, wenn er die einzelnen Religionen als "Religionsindividuen" bezeichnet (164).

Eine positive ist, wie ich wiederholt betont habe, eine eigentümlich bestimmte Wissenschaft. Daher beweisen die Versuche, die Theologie wissenschaftstheoretisch abzuleiten, nur, wie überflüssig sie im Vergleich mit den von der Philosophie zusammengefassten Wissenschaften ist. Die Theologie hat in das Gespräch mit anderen Wissenschaften nur etwas einzubringen, wenn es ihr gelungen ist, Frömmigkeit zu entdecken.

"Das Reich Gottes fing mit der Erscheinung Christi an, da war das gegeben, was sich selbst darstellen soll" (meine Ausgabe der Christlichen Sittenlehre [= CSl] A 27. 101). Ohst deutet das darstellende Handeln auf eine individuelle Ausprägung des in der Philosophischen Ethik deduzierten symbolisierenden Handelns (67). Nicht ganz leicht zu beantworten wäre hier die Frage, warum ein Symbol, das (ebenso wie das "Organ") in der Philosophischen Ethik von erhellender Kraft ist, in der Christlichen Sittenlehre keine Rolle spielt.

Während Ernst in seinem umsichtigen, unparteiischen (86) Beitrag das AT nicht nur für gesetzlich und partikularistisch hält (88-100), entscheidet (nach B. Klappert) L. Baeck sich nicht, um mit Schl. zu reden, für den handelnden, sondern für den fordernden Gott: Statt der Freiheit vom Gesetz (150) empfiehlt Baeck das Freiheitsgebot (160-162). Gott hat das Sagen und der Mensch die Arbeit. Statt den Anfängen zu wehren und es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, dass die Sittlichkeit zum Zwang werden muss, vermisst Baeck in der Romantik den Willen, "das Leben sittlich zu bezwingen." (160 f.)

Gegen E. Troeltschs Unterscheidung zwischen einer Wahrheit für uns und einer Wahrheit für andere macht F. Huber geltend, mit unserem Glauben sei uns etwas für alle anvertraut (171.178 f.). Unter den sechs Blinden aus dem bekannten indischen Gleichnis, von denen jeder einen anderen Körperteil eines Elefanten betastet, kommt es wegen ihrer unterschiedlichen Elefanten-Vorstellungen zu einem unerquicklichen Streit (171). Das, was Schl. unter dem frommen Gefühl versteht, geht nicht von der Vorstellung aus. Nicht kraft einer Vorstellung, sondern im Miteinander-Leben wird aus einem Elefanten ein Freund. Die Begegnungen mit einem Elefanten werden sich unterscheiden, je nachdem ob ein Blinder auf dessen Rücken täglich über einen breiten Strom setzt oder ob er sich von ihm Baumstämme herbeischleppen lässt, die selbst zu bewegen er außer Stande ist, oder ob er wie in hoffentlich bald endgültig vergangenen Zeiten mit ihm in einen heiligen Krieg zieht.

Inmitten eines Stroms, der nicht brennt, prüft der Blinde nicht den Wahrheitsgehalt der Behauptung, ein Elefantenrüssel ließe sich als Feuerwehrspritze verwenden usw. Für Huber kommt es darauf an, dass die Blinden zu einem Miteinander finden, ohne zu wissen, ob die anderen auch alle Recht haben (172). Bejahung des eigenen Ortes und der eigenen Grenzen (174-182)! Anders Klappert: Von der Wahrheit des Judentums überzeugt, nivelliert er Jesus ins Judentum hinein; Gott sei "der Vater Jesu Christi und der Maria" (162). Wie die natürliche Theologie über das Christentum hinausging, so geht Klapperts judenchristliche Theologie hinter das Christentum zurück. Mit dem Rückgriff auf Ismael zäumt er auch den Islam von hinten auf (162). Aus dem AT, so der Trugschluss, wird das 1. Testament (150).

Für Schl. erfährt das Alte Testament eine Bereicherung, wenn es vom NT sanktioniert wird, und lässt der dreieinige Gott und mit ihm der Heilige Geist, die göttliche Antwort auf die Hinrichtung und das Verstummen des historischen Jesus von Nazareth, sich nicht in das AT hineinzwingen. Ein Postulat ist kein Geheimnis. Der Heilige Geist war der Geist einer konkreten und historisch einmaligen Person, den Gott unabhängig von dieser Person und bevor diese Person auf dem irdischen Schauplatz erschienen war, nicht gegeben hat (CSl A 10). Da das Judentum keinen leidenden Messias kennt, verfügt es auch nicht über die Kreuzestheologie, für die Schl. in der Tat kein besonders geeigneter Zeuge ist (155 f.). Auf hohem Niveau bewegt sich Klapperts Würdigung der Dialektischen Theologie. Schl. lasse im Reden vom sog. "Universum" den Gottesnamen leer, lasse sich vom Universum auf den deus absconditus leiten und gedenke das Geheimnis, das in Gott ist, nicht zu lüften, ehe Gott es selbst tut (137 f.). Auch Klapperts Unterscheidung zwischen der "fides quaerens intellectum" und der "fides dependens ab intellectu" (119) dürfte fruchtbarer sein als die nicht von ihm zu verantwortenden Versuche, Schl. in die Fesseln eines philosophisch-theologischen Systems zu schlagen.

M. Klessmann stellt die Psychoanalyse S. Freuds, C. G. Jungs, E. Eriksons, H. Kohuts und D. W. Winnicotts vor. Der Bezug auf Schl. steht - ähnlich wie in K. Haackers Beitrag "Paulus und die gebildeten Verächter der Religion seiner Zeit" - mehr am Rande.