Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1074–1076

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Ulrich, u. Claus-Dieter Osthövener [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

200 Jahre "Reden über die Religion". Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.-17. März 1999. Anhang: Johann Joachim Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen. 1. Aufl., Leipzig 1797.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XIII, 987 S. 8 = Schleiermacher-Archiv, 19. Geb. ¬ 198,00. ISBN 3-11-016904-5.

Rezensent:

Hermann Peiter

Der Band enthält öffentliche Vorträge von U. Barth, E. Jüngel, K. Nowak, J. Stolzenberg, T. Rendtorff, H. J. Adriaanse, K. Cramer, E. Herms, W. Gräb, die Sektion I (Philosophische und Theologische Aufklärung) Beiträge von A. Arndt, L. Danneberg, W. Virmond, B. Oberdorfer, A. Beutel, M. Ohst, P. Grove, H. Patsch und G. Moretto; die Sektion II (Romantik und Idealismus) Beiträge von H.-O. Kvist, F. Wittekind, J. Ringleben, S.-H. Choi, J. Rohls, I. W. Holm, G. Scholtz, H. Dierkes, C. Albrecht und A. Voskanian; die Sektion III (Religionstheorie und Theologie) Beiträge von M. Schröder, D. Korsch, M. Wolfes, J. Dierken, C.-D. Osthövener, D. Lange, M. Junker-Kenny, A. v. Scheliha und H. Ruddies; die Sektion IV (Ethik und Kulturtheorie) Beiträge von M. Welker, S. Sorrentino, R. Drucilla Richardson, U. Frost, J. Brachmann, I. Mädler, A. Geck und M. Mizutani. Klangvolle Namen, die zu eigener Lektüre (auch von J. J. Spaldings Religionsschrift 1 im Anhang) anregen.

E. Herms empfiehlt, über den Kantianismus A. Ritschls und W. Hermanns hinauszukommen und zu zeigen, dass Wirklichkeit, Wissen, Handeln und Sittlichkeit erst verständlich werden können im Horizont von Religion (165 f.). In der Tat steht in einer Gesellschaft nichts Endliches ungestört nebeneinander (Fremdenfeindlichkeit usw.) - es sei denn, sie lässt sich vom (Raum gewährenden) Unendlichen umgreifen und bestimmen. W. Herrmann hat bereits (lt. Ernst Fuchs' Hermeneutik 2 30) die Dimension des existentialen Fragens vorweggenommen.

Schon Schleiermacher (= Schl.) hat (so W. Gräb) das Christentum existential interpretiert (171). Nach S.-H. Choi stellt eine durch Anschauung und Gefühl gewonnene Religion in ein "unmittelbares Existentialverhältniß" (445.465). Religion, um dieses aus dem Heidentum abstammende, schwer befriedigend zu erklärende Wort (meine Ausgabe der Glaubenslehre 1 6) zu verwenden, bedeutet in ihrer Sehnsucht ein (nicht an einem Gegenstand orientiertes) "Aus-sein [-auf-etwas]" (Näheres bei C.-D. Osthövener 690). Nach G. Ebeling weist das Gefühl auf eine externe Bedingung seiner selbst (bei A. Beutel 298).

Über um sich selbst kreisende und um ihre Selbstverwirklichung besorgte Menschen sagt Schl.: Sie "wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst" (131). Obschon sie einräumt: "While [F.] Schlegel ventures into the beyond, Schl. remains on the threshold" (850), bedeutet für R. Drucilla Richardson "Hinaus": "Hinaussehen" ("Schleiermacher observes the infinite.") Mit der Anschauung, einem dem Streben (im engeren Sinn) entgegenstehenden Verhalten, kommt man weiter als mit einem "Mehr wollen als anschauen" (Osthövener 693), weiter als mit der Anstrengung, einem "Werk". Da nicht lehrbar, eignet die Anschauung (anders als eine "Weltanschauung") sich nicht zur Indoktrination und Volksverdummung.

Indem, wie E. Jüngel in seinem Vortrag "Häresis - ein Wort, das wieder zu Ehren gebracht werden sollte. Schleiermacher als Ökumeniker" referiert, sich in der wahren Kirche der Überstieg vom Sein als Mensch zum Sein als Menschheit vollzieht, sind die derart Geeinten aus sich selbst herausgehend auf dem Wege zur wahren Unsterblichkeit und Ewigkeit (27). Jüngel spricht sich für keine Vielheit der Kirche, aber der Religionen aus. Häresis bedeutet: Teil eines Ganzen auf Grund einer freien Wahl (22). Nach Choi charakterisiert Positivität als Häresis die Scheidungskraft der Anschauung (462).

In der Hegel-Interpretation spricht J. Ringleben von dem Externbezug als der Weise, den Selbstbezug als solchen zu realisieren (421), und sagt J. Stolzenberg: Das Subjekt setzt "das Ganze des unendlichen Lebens außer sich; weil es sich selber aber ebenso als ein unendliches Leben versteht, setzt es in dieser Hinsicht zugleich sich selbst außer sich." (63)

In den Augen des zu früh heimgerufenen K. Nowak war das Hinaus- und Vorwärtstreibende das Signum des romantischen, d. h. des neuzeitlich-modernen Kulturzustands schlechthin (57). Das unverkennbar romantische Ferment im Prozess der Moderne besteht nach Nowak im Wissen um das Ungewisse (das bereits ein Abraham zu bestehen hatte, als er mit Isaak hinaus in das Unbegreifliche ging). Nowak krönt seinen Beitrag mit dem Wort "Zur Welt suchen wir den Entwurf" ("dieser Entwurf sind wir selbst") aus Novalis' "Blüthenstaub", dem Werk, aus dem nicht nur das gängige "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg" zitiert werden sollte, sondern auch: "Was wir Hineingehn nennen, ist eigentlich Herausgehn". Das "Universum" (eine anspruchsvolle Interpretation bei D. Korsch 616 f.620) ist unwiderstehlich, wenn es dem verfehlt, d. h. gehemmt lebenden Menschen zu verstehen gibt: "Hinaus!" und ihn aus der Enge der Selbstbehauptung zu sich zieht.

Für T. Rendtorff ist das Christentum mehr "als Religion, nämlich zugleich Rechtskultur, Wissenschaftskultur, ökonomische Kultur, und in seiner eigenen geschichtlichen Verfaßtheit eben protestantische Kultur." (99) "Kultur" - ein theologischer Leitbegriff, also mehr als eine bloße Bezeichnung? "Kultur" wird m. E. nur als wirksames Handeln bzw. als organisierende Tätigkeit (etwa als Agrikultur) konkret. Schon H. Stephan und R. Heinze ist aufgefallen, wie ungewöhnlich eng Schl.s Kulturbegriff ist: Schl.s Denken treibt über die Moderne hinaus (vgl. M. Welker, 776). In einer Mangelgesellschaft bedarf die Natur (z. B. ein versumpfter Acker) der Kultivierung. Recht und Wissenschaft gehören nicht zur Natur. Ein Forscher oder ein Jurist, der Licht in eine dunkle "Geschichte" bringt, ist in einem darstellenden Handeln begriffen, in dem, da es keinem Zweck untersteht (F. Wittekind, 414), die Reinheit und Freiheit der Wissenschaft gewährleistet ist.

Der "Kulturprotestantismus" hatte seine Blütezeit, als er noch nicht auf diesen Begriff gebracht war, und wurde in dem Maße unproduktiv (noch nicht einmal E. Troeltschs Vorschläge zur "Bemeisterung der modernen Lage" enthalten ein umfassendes Programm für eine christliche Gesellschafts- und Kulturgestaltung; H. Ruddies 768 f.), wie seine Theoretiker, um an eine Formulierung E. Jüngels anzuknüpfen (17), "der unbedingten Selbständigkeit der Religion" nicht mehr gewiss waren und den Reichtum des die innere, aber auch die profane Sphäre erhellenden (s. o. Herms) und darstellenden Handelns aus den Augen verloren. Wenn alle Menschen Künstler sind, dann auch die, die so "kulturlos" und unterprivilegiert sind, keine Kulturtheorie zu haben bzw. derselben den Abschied zu geben, um das darstellende Handeln von theoretischen Vorgaben und politisch motivierten Sprachregelungen (nach Schl.s Philosophischer Ethik ist die Gleichsetzung von Sittlichkeit und Kultur lediglich eine politische Ansicht) zu befreien. Das Neue kann nicht durch Reflexion geschaffen werden (Choi 452; vgl. meine Ausgabe der Christlichen Sittenlehre A 19 und A 5). Eine weitere unzeitgemäße Weisheit aus Fernost: Fromm (sic!) sein kann einer nur auf der Höhe der Gegenwart (Choi, 462).