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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1070–1074

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

1) Offene Briefe 1909-1935. Hrsg. von D. Koch.

2) Offene Briefe 1935-1942. Hrsg. von D. Koch.

Verlag:

1) Zürich: Theologischer Verlag 2001. XVIII, 395 S. m. 1 Porträt. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe, 35. Lw. ¬ 57,50. ISBN 3-290-17164-7.

2) Zürich: Theologischer Verlag 2001. XX, 471 S. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe, 36. Lw. ¬ 57,50. ISBN 3-290-17213-9.

Rezensent:

Klauspeter Blaser

Nach dem Erscheinen der vorliegenden Bände, insbesondere des zweiten, die Jahre 1935-42 betreffend, und dem schon 1984 publizierten, die Offenen Briefe von 1945-68 enthaltend, schrieb eine renommierte Schweizer Zeitung auf dem Hintergrund der Untersuchungen zur Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg durch die Historikerkommission Bergier: "Gäbe es etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, so müsste Barth gegen Bergier das Rennen machen. Denn was sollen die dreissig Bände akribische Besserwisserei der Nachgeborenen gegen diese drei Bände Offene Briefe ausrichten, deren Texte Satz für Satz in der Zeit selber Zeugnis ablegten und mutig all das offen artikulierten, was Opportunismus, Feigheit, Egoismus, Angst und Panikmacherei bei den übrigen Schweizer Zeitgenossen unterschlugen?" (Bund, 4. Okt. 2001, Nr. 231, S. 9). Auch wenn Barth längst nicht als Einziger die Ehre der Schweiz gerettet hat (vgl. II, 252-60), so kann doch die Lektüre prägnanter kaum zusammengefasst werden; dies gilt auch für viele andere Themen, die in diesen Bänden ausgiebig oder flüchtig berührt werden.

Gewiss, gerade weil es sich um offene, d. h. einer weiteren Öffentlichkeit durch Publikation, hektographierte Rundschreiben, Zeitungsartikel usw. jeweils bekannt gemachte Briefe handelt, sind sie für die Kenner nicht eigentlich neu. Doch wo gibt es diese überhaupt noch? Selbst wem z. B. Eine Schweizer Stimme von 1945 nicht unbekannt ist, liest diese Dokumente neu, entdeckt dabei immer wieder längst oder schlicht Vergessenes, besonders im ersten Band, der auch Vieles enthält, das im Detail bisher kaum bekannt gewesen sein dürfte. Für dieses Leseerlebnis der Nachgeborenen sind Diether Kochs akribische Einführungen zu jedem Schriftstück eine wahre Fundgrube und eine unentbehrliche Lesehilfe. Sie beruhen z. T. auf jahrelangen, minutiösen und aufwändigen Recherchen, die der Gesamtausgabe neue Kostbarkeiten hinzufügen, an denen die spätere Forschung sich noch lange erlaben wird. Koch konnte sich dabei in nicht wenigen Fällen auf inzwischen erschienene Einzelstudien zu Personen, Geschehnissen oder Bewegungen stützen; dennoch bleibt sein eigener Beitrag enorm, wie etwa die Nachforschungen bei noch lebenden Nachkommen von Akteuren jener Zeit oder Korrekturen an bisherigen Annahmen (z. B. II, 179, Anm. 9; 429 ff.) immer wieder zeigen. Wer nur den Text eines offenen Briefes kennt, weiß in vielen Fällen ohne Kochs Einleitungen und Ergänzungen überhaupt nicht, mit welchen Kämpfen, Zweifeln, Intrigen oder Anfragen seine Entstehung und Publikation verbunden waren.

Auch wenn sich naturgemäß das Interesse eher auf die Periode des Dritten Reiches konzentrieren wird (doch ist diese ja schon in I reichlich präsent; als Zäsur zu II dient die 1935 erfolgte Vertreibung Barths aus Deutschland), so möchte der Rez. doch ebenso auf die Texte vor 1933 hinweisen, etwa im Austausch mit Rade, Heim oder Wobbermin, vom berühmten Briefwechsel mit Harnack ganz zu schweigen. Ich hoffe nicht als unkritischer oder rückwärtsgewandter Bewunderer abqualifiziert zu werden, wenn ich die Klarheit der Feder, die Überlegenheit der Argumente, die Prise wohltuenden Sarkasmus' hervorhebe, die eigentlich von Anfang an da sind. Wo ist Derartiges in der theologischen und in der theologisch-politischen Auseinandersetzung heute noch zu finden? Wer sich der Mühe der Lektüre unterzieht, wird sich, ungeachtet seiner theologischen und vielleicht historischen Kritik an Barths Urteilen, ehrlicherweise der Faszination nicht entziehen können, welche von der Klarheit und Absenz jeglichen Opportunismus ausgeht. In diesem Zusammenhang ist die wohltuende Nüchternheit und Sachlichkeit des Ausdrucks zu erwähnen. Wie pietistisch, salbungsvoll und zuweilen floskelhaft-fromm sind doch beispielsweise die Grußadressen oder Briefe aus dem Bruderrat der Bekennenden Kirche im Vergleich zu Barths Antworten, die mit biblischen oder geistlichen Wendungen sparsam umgehen, sie aber dort einsetzen, wo sie wirklich am Platz sind (was heutigem Geschmack dann immer noch als übertrieben vorkommen mag!). Diese Anmerkung gilt auch für die Ebene der politischen Analyse in den dreißiger Jahren, die illusionslos und argumentativ reich befrachtet das Hitler-Regime als das darstellt, was es war; die schnörkellose Rede musste Barth in den Augen dieses Regimes unmöglich machen (vgl. die Briefe an Hromadka oder an Ch. Westphal). Auf Schritt und Tritt widerlegen diese Schriftstücke zudem das, was die Engländer "transcendentalism" (II, 272) nannten oder was die auf Hörensagen beruhende Kenntnis mit Abstraktheit, Geschichtsvergessenheit und dgl. betitelte.

Doch sind wir damit bei inhaltlichen Fragen angekommen. Es steht dem Rez. selbstredend nicht zu, dem potentiellen Leser vorzuschreiben, was er für wichtig zu finden oder zu halten habe, falls er zu diesen Bänden greifen sollte. Ich vermerke nur, was u. a. speziell meine Aufmerksamkeit erregt hat, wohl auch, weil es mir selbst neu war.

1. Stellung zur "Frauenfrage" (speziell der Zulassung von Frauen zum Pfarramt): Barth hat den zweifellos nicht ganz unberechtigten Ruf eines patriarchalen Theologie- und Geschlechterverständnisses, wie dies bereits von mehreren Studien belegt worden ist. Man macht ihn noch lange nicht zum Sympathisanten der Frauenemanzipation, wenn man nach Lektüre der Auseinandersetzung mit W. Kolfhaus (I, 235-53) urteilt, dass sich Barth schon 1932 gegen die gesetzliche Verwendung von 1Kor 14,34 und 1Tim 2,11 gewandt hat und anerkannte, dass auch Frauen in der Kirche "nicht persönlichen Wünschen, sondern einem Auftrag zu folgen meinen und folgen wollen" (241) und es deshalb niemandem zustehe, sie des Ungehorsams gegen Gottes Gebot zu bezichtigen (242).

2. Pietismus und theologische Arbeit: Der Briefwechsel mit Karl Heim hat nichts von Schlagabtausch, sondern zeugt von gegenseitigem hohen Respekt (I, 113-123.152-157). "Warum schaut Sie meine Theologie schließlich doch nur als die letzte Spitze des unerfreulichen Hochmuts des modernen Profanen an? Und warum mich die Ihrige nur als die neueste Form der ebenso unerfreulichen Demut des modernen Pietisten?" (153). In keiner Weise als Vorwurf gemeint, sondern eher als Beschreibung unübersteigbarer Grenzen, bezeichnet Barth Heims in Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart (1931) gegen ihn geäußerte Polemik als Frage nach seiner persönlichen Bekehrung. Barth plädiert dagegen für die Unterscheidung der Ebenen und Kompetenzen:

"Als existentielle Aussagen in der Theologie sollen nur zugelassen sein Sätze, die ein Aufschrei eines zusammenbrechenden Christophorus sind. "Werkerei und Erlebnistheologie!" kann ich dazu nur sagen und mit Entsetzen mir vorstellen, wie etwa der Betrieb eines systematisch-theologischen Seminars unter dieser schrecklichen Voraussetzung sich gestalten müsste. - [...] Christologie soll als Beweis ihrer Echtheit einer Zertrümmerung aller praktischen Sicherungen des Menschen, verbunden mit Vision und Ohnmachtsanfall, zur Folge haben. Wie mögen Sie sich nur die Erfüllung dieses von mir geforderten Werkes vorstellen? Passiert dergleichen denn nun wirklich in Ihrem Kolleg und Seminar, wenn Sie Christologie vortragen?" (155 f.).

3. Die Herausforderung des Katholizismus: Barths früherer Göttinger Kollege G. Wobbermin machte für den Übertritt E. Petersons zur katholischen Kirche "die dialektische Theologie Karl Barths" verantwortlich (I, 212-228). Barth dekonstruierte die Behauptung als Unwahrheit und verstand sie als Rufmord (vgl. I, 208 ff.). Keine der von Wobbermin gegebenen Auskünfte konnte Barth befriedigen. Der Schärfe seiner Polemik entspricht die hohe Achtung vor dem Gegner:

"Ich meine einigermaßen zu wissen, was Katholizismus ist, und mir Mühe geben zu sollen, es immer besser zu wissen. Ich halte ihn für einen unheimlich starken und tiefen, letztlich für den einzigen wirklich ernst zu nehmenden Gesprächsgegner der evangelischen Theologie. Ich halte den Idealismus und die Anthroposophie und die völkische Religion und die Gottlosenbewegung für Kindereien, gemessen an diesem Gegner. Ich leide darunter, dass die evangelische Theologie hier blind ist. Dass sie nicht merkt, zu welcher geistigen und geistlichen Bedeutungslosigkeit sie selbst auf der Linie, die Sie, Herr Kollege, für die heilvolle halten, in einer zweihundertjährigen Entwicklung heruntergekommen, wie wenig sie dem Katholizismus innerlich gewachsen ist" (227).

In diesem Zusammenhang fällt dann das dem Kontext nach als positiv zu wertende Urteil vom Katholizismus als der großen Häresie.

4. Stellung zum theologischen Nazionalsozialismus: Hier sind natürlich die Auseinandersetzungen mit Hirsch (I, 184-207) und Kittel (I, 268-319), über die die jüngere Kirchenkampfforschung reichlich gearbeitet hat, von besonderem Interesse. Sie sind höchst polemisch (vgl. etwa 200 ff. gegen Hirsch) und zugleich von höchster Konzentration auf exegetische, theologische und ethische Grundfragen. Auf die Klage Kittels (283ff.), Barth verachte das ergon theou, das im Volk, im Menschentum, in der Schöpfung empfangen werde, erwidert dieser:

"Es ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, sondern anzuerkennen und zu lehren, dass wir als Christen mit unserer Existenz: Weib, Kind, Freund, Beruf, Volk je in dieser und dieser konkreten Bestimmtheit als Gottes Schöpfung und Gabe empfangen und Gott dafür loben und Dank sagen dürfen. Der Streit geht wirklich nicht darum! Der Streit geht darum, was dieses Empfangen, Loben und Danken bedeute? Wiederum nicht darum, ob es heute nicht vielleicht dies bedeuten könne, dass einer sich entschließt, sich innerlich und äußerlich in ein braunes Gewand zu hüllen. Wohl aber darum: Ob es gerade dies in dem Sinn bedeuten muss, dass es eine Verheißung und Forderung der kirchlichen Verkündigung werde, dass man vom Menschen und von den Gemeinden im Namen Jesu Christi verlangen kann, sich mit Herz und Lippen außer zum Schöpfer auch noch zum Dritten Reich zu bekennen, weil schon die Schöpfung ursprünglich braun gewesen sei, so dass der, den das Braune nun einmal weniger entzückte, eo ipso als ein Verächter der guten Schöpfung Gottes zu tadeln und übler Zeit-, Raum- und Geschichtslosigkeit zu beschuldigen sei. Das ist's, was wir anderen bestreiten: dass die Dankbarkeit gegen Gott den Schöpfer heute iure divino in der Dankbarkeit für die Ideen der Nationalsozialisten bestehen müsse" (293).

5. Politischer Nationalsozialismus, Krieg und Widerstand: Ab 1935 wird der Nationalsozialismus zunehmend einfach als Ideologie und Diktatur thematisiert, die bisher vorherrschende Verbindung zur Kirchenfrage tritt zurück. Barths Urteil lässt keine Zweifel offen:

"Der deutsche Nationalsozialismus bedeutet die auf die bewusste Lüge und die blinde Gewalt gestützte Diktatur eines antichristlichen Mythus in der notwendigen Konsequenz der grundsätzlichen Inhumanität, Unfreiheit und Rechtlosigkeit im Bereich des ganzen staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Das europäische Vordringen dieses Systems bildet nicht nur ein politisches, nicht nur ein moralisches, sondern auch ein theologisches Problem. Im Bereich dieses Systems kann es grundsätzlich keine Verkündigung des Evangeliums, keine Kirche mehr geben. Dieses System kann die Kirche - es kann aber auch die Kirche dieses System nur verneinen" (II, 154; vgl. ebenfalls 172).

Ende 1939 schreibt Barth zudem den Satz: "Der Hitlersche Nationalsozialismus ist, nachdem er Deutschland selbst zu einer einzigen Stätte des Terrors und der Angst gemacht hat, in zunehmendem Maß zu einer Bedrohung von ganz Europa geworden" (II, 215).

Bei aller Sorge Barths, Kirche und Politik auseinander zu halten, war er doch dezidiert der Meinung, Teilnahme am Krieg gegen Hitler sei nicht nur ein Gebot der Moral, sondern auch der christlichen Nachfolge. Seit dem Brief an Hromadka benutzte er jede Gelegenheit, dies zu wiederholen, zu präzisieren und argumentativ zu vertiefen. Es gab für ihn keinen Rückzug aus der kirchlichen und politischen Verantwortlichkeit, was Barth durch seine Teilnehme am Armeedienst und durch seine von der schweizerischen Zensur mehrfach gemaßregelte Publikationstätigkeit unter Beweis stellte. Dafür hatte er auch die theologische Begründung. Schon im Brief an die Protestanten Frankreichs findet sich das Urteil, dass das Luthertum mit seiner Absonderung der Schöpfung und des Gesetzes vom Evangelium dem deutschen Heidentum "so etwas wie einen sakralen Raum zugewiesen" (II, 232) und die nihilistische Revolution in ihrer spezifisch nationalsozialistischen Form hervorgebracht habe. Im berühmten Brief nach England erklärt Barth, weshalb die naturrechtliche Begründung der Teilnahme am Krieg mit Begriffen wie "abendländische Zivilisation, Freiheit des Individuums, Forschungsfreiheit, unendlicher Wert der menschlichen Persönlichkeit, menschliche Bruderschaft, soziale Gerechtigkeit" (II, 291) nicht wirklich genüge.

"Man kommt dem Koboldsgeist des neuen Deutschland damit nicht bei, dass man ihm auf dem Felde des Naturrechts zu widerlegen versucht, dass man mit seiner bösen eine freundliche, seiner dionysischen eine apollinische Anthropologie und Soziologie gegenüberstellt. Die übergroße Mehrzahl derer (besonders auch unter den intellektuellen Emigranten), die gegen das Dritte Reich geredet und geschrieben haben, haben das nicht verstanden. Ich möchte aber, dass Sie, liebe christliche Brüder in Großbritannien, es verstehen würden: dass man Hitler gegenüber erst dann auf wirklich feste Füße zu stehen kommt, wenn man ihm eindeutig im Namen Jesu Christi gegenübertritt" (292 f.).

Der feste Boden ist nach Karl Barth Phil 2,10 (286), in der ersten These der Barmer Erklärung kontextuell interpretiert. In einer Zeit, die die Wichtigkeit der Bibel für die Gestaltung der Gesellschaft bestreitet, stimmen gerade derartige Passagen höchst nachdenklich.

6. Neue Wege: Seit der Chronographie einer Vertreibung, die H. Prolingheuer vorgelegt hat, ist der Mythos zerstört, Karl Barth und die Bekennende Kirche bildeten eine unauflösbare Einheit. Es ist vielmehr fast unverständlich, wie Barth trotz der menschlichen und der beruflichen Enttäuschungen der BK unentwegt die Treue hielt, auch wenn er die Trennungen völlig luzid zu benennen und zu interpretieren wusste. Der Briefwechsel mit Hermann A. Hesse u. a. (I, 333-53; II, 1-26) zeigt haarscharf, weshalb Barth schließlich nicht anders konnte, als den Ruf nach Basel anzunehmen. In einem seelsorgerlichen Brief an ehemalige Schüler (II, 40-46) stellt er fest:

"Das dürfen wir wohl, ohne uns wichtig zu nehmen, in gemeinsamer Dankbarkeit feststellen: dass sich jedenfalls einige der wichtigsten Einsichten, die sich uns in jenen Jahren aufdrängten, im Feuer der über unsere Theorie und Praxis gekommenen Prüfung bewährt haben [...] Und darum ist es wohl keinem von Ihnen erspart geblieben und hoffentlich jedem von Ihnen geschenkt geworden, seither so oder so im Verhältnis zu dem damals Gelehrten und Gelernten neue Wege zu gehen" (41 f.).

Dieser letzte Satz darf auch allen begeisterten, nachdenklichen oder kritischen Lesern dieser Zeitdokumente ins Stammbuch geschrieben sein. Mit orthodoxen Formeln, rückwärtsgewandtem Gestus oder der Flucht ins Zeitgeschichtliche ist niemandem geholfen - aber auch nicht mit der postmodernen Verachtung der Einsicht Barths, dass Gottes Gegenwart "solange wir hier wandern, in immer neuem Beten, Arbeiten und Glauben Ereignis und immer wieder Ereignis werden will, um so die uns durch Alles hindurchtragende Wirklichkeit zu sein" (ebd.).