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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1065–1068

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Utz Tremp, Kathrin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Üchtland (1399-1439).

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2000. X, 837 S. m. 4 Abb. u. 11 Tab. gr.8 = Monumenta Germaniae Historica: Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 18. Geb. ¬ 80,00. ISBN 3-7752-1018-0.

Rezensent:

Peter Segl

Seit ihrer "Entdeckung" durch den reformierten Pfarrer Gottlieb Friedrich Ochsenbein und dessen unter dem Titel "Aus dem Schweizerischen Volksleben des XV. Jahrhunderts. Der Inquisitionsprozess wider die Waldenser zu Freiburg i. U. im Jahre 1430 nach den Akten dargestellt" 1881 erschienenen paraphrasierenden Nacherzählung waren die "Akten" der beiden Waldenserprozesse bekannt, in die in den Jahren 1399 und 1430 in Freiburg im Üchtland insgesamt 108 Personen (61 Männer und 47 Frauen) hineingezogen worden waren. Schon mehrfach ist dieses Material daher sowohl von der Ketzer- wie von der Hexenforschung auch schon, freilich eher en passant, behandelt worden, doch eine kritische Edition gab es bisher davon nicht. Hier ist jetzt durch die Historikerin und gelernte Archivarin Kathrin Utz Tremp (Freiburg i.Ü./Lausanne) Abhilfe geschaffen worden, und was diese nun nach zehnjähriger Arbeit und mehreren vorbereitenden Aufsätzen in dem hier zu besprechenden Buch vorgelegt hat, kann man nicht anders denn als editorische "Großtat" bezeichnen.

"Groß" und umfangmäßig fast ein eigenes Buch ist allein schon die Einleitung (1-270), in der im Teil A (1-194) nach einer den Prozess von 1399 und seine Vorgeschichte, die von Judenhetze und Antihussitenpredigt geprägte Zwischenprozesszeit, und den Prozess von 1430 samt Vorgeschichte skizzierenden "Einführung in das Quellencorpus" (1-54) für den Prozess von 1430 die Prozessakten (55-94), das Gericht (94-125), der kodikologische Befund (125-158) sowie die Rezeptionsgeschichte (159-187) vorgestellt und die der Einrichtung der Edition zu Grunde gelegten Überlegungen und Kriterien erläutert werden (187-194). Im Teil B (195-270) werden diese Informationen dann auch für den Waldenserprozess von 1399 und dessen Edition geliefert (195-244), gefolgt von den Einführungen zu den ebenfalls zur Edition gelangenden Auszügen aus den Seckelmeisterrechnungen der Stadt Freiburg für die Jahre 1429-1439 (244-255) und zu drei den Großbauern Richard von Maggenberg und seinen Sohn Hensli betreffenden Urkunden aus den Jahren 1408, 1438 und 1439, die mit dem Freiburger Waldenserprozess von 1430 insofern zu tun haben, als Richard sich damals durch die Flucht aus dem Gefängnis einer rechtmäßigen Verurteilung entzogen hatte und seitdem von der Stadt unbarmherzig verfolgt worden war, bis hin zur Konfiskation und dem Verkauf seiner Güter. Ein Abkürzungsverzeichnis (271) sowie ein kombiniertes Quellen- und Literaturverzeichnis (272-277) beschließen diese ungemein materialreiche und vor allem mit prosopographischen Informationen in stupender Fülle aufwartende Einleitung.

Im anschließenden, auf höchstem MGH-Niveau stehenden Editionsteil werden zunächst in 129 Nummern die Akten des Prozesses von 1430 vorgelegt (279-582), wobei der Sachkommentar zu den der Häresie verdächtigten Personen entlastet werden konnte durch den Verweis auf deren im Vorjahr von Frau Utz Tremp herausgebrachte Biographien (Kathrin Utz Tremp, Waldenser, Wiedergänger, Hexen und Rebellen. Biographien zu den Waldenserprozessen von Freiburg im Üchtland 1399 und 1430 [Freiburger Geschichtsblätter. Sonderband] Freiburg/Schweiz 1999, 663 Seiten). Das gilt auch für einen Teil der Personen, die in dem im Anschluss daran gedruckten, in Urkundenform (ca. 2,30 m lang und 60 cm breit) erhaltenen Auszug aus den verlorenen Akten des Prozesses von 1399 erscheinen, in dessen Edition (583-635) neben den übersichtlich zusammengestellten Anklage- und Verhörartikeln vor allem auch die Urteilsverkündung vom 23. Dezember 1399 besondere Aufmerksamkeit verdient, da hier im Unterschied zum nachfolgenden Prozess von 1430 sämtliche Angeklagten freigesprochen worden sind, was freilich nicht ausschloss, dass beinahe zwei Dutzend von ihnen 1430 erneut in den Gerichtsakten erscheinen.

An der Spitze des Gerichtshofes standen 1399 der Dominikaner Humbert Franconis, inquisitor heretice pravitatis in diocesi Lausonensi [sic!] et pluribus aliis auctoritate apostolica specialiter deputatus (621), der Franziskaner Wilhelm von Vufflens sowie Aymo von Taninges, der Offizial der Diözese Lausanne, denen der Lausanner Bischof Wilhelm von Menthonay (1394- 1406) am 28. November 1399 den Inquisitionsauftrag erteilt hatte, nachdem ihm Abgesandte der Stadt Freiburg eine dieser von der Stadt Bern zugegangene Liste mit den Namen von 54 in Bern als Häretiker denunzierten Freiburgern sowie eine Aufstellung der 15 Artikel, an welche diese angeblich glaubten, übergeben hatten. Auch 1430 ging der Verfolgungswille deutlich erkennbar wieder von der Stadt aus. Dieses Mal bestellte der zuständige Bischof von Lausanne, Wilhelm von Challant (1406-1431), zu Vorsitzenden des Gerichtes den seit 1423 als päpstlicher Inquisitor in den Diözesen Lausanne, Genf und Sitten amtierenden Dominikaner Ulrich von Torrenté, der sich in den ersten Prozesstagen im März 1430 in Freiburg durch Wilhelm von Vufflens OP vertreten ließ, sowie den Lausanner Domherrn Johannes von Columpnis (Jean de Colonnes) als seinen persönlichen Vertreter, denen als Beisitzer der aus der Provence angereiste Theologieprofessor Magister Bertrand Borgonyon, der Prior des Dominikanerkonventes von Chambéry, Guido Flamochetti OP, sowie Jakob Lombard, Schultheiß von Freiburg, und eine ganze Reihe weiterer Mitglieder des freiburgischen Stadtregiments zur Seite gestellt worden sind. Es gehört mit zu den Vorzügen der vorliegenden Edition, dass die Herausgeberin Präsenzen und Absenzen für jeden einzelnen Prozesstag sowie gruppiert nach den drei Prozessphasen (23. März- 5. April; 23. April-9. Mai; 20. Juni-30. Juni) akribisch ermittelt und auch tabellarisch zusammengestellt hat (Tabelle 5 und Tabelle 6), so dass die wechselnde Zusammensetzung des Gerichtes dem Benutzer ohne Mühe jeweils taggenau präsent sein kann, was nicht zuletzt dann von besonderem Interesse ist, wenn es um die Frage geht, welchen Einfluss die im Juni 1430 verstärkte Präsenz der städtischen Funktionsträger auf die Beendigung des Prozesses gehabt hat, wozu die Herausgeberin die Vermutung äußert, "dass der Verfolgungswille seitens der Stadt abgenommen hat und dass die städtischen Beisitzer im Inquisitionsgericht die Bremse zogen. Dies war umso nötiger, als der Denunziationswille in der Bevölkerung seit der ersten Prozessphase sichtlich gewachsen war ... Die Bevölkerung hatte die Denunziation als Instrument erkannt, um missliebigen Nachbarn und Nachbarinnen oder auch hochgestellten Persönlichkeiten wie Katharina Buschillion, denen anders nicht beizukommen war, zu schaden" (92).

Sichtbar wird in den Prozessakten von 1430 neben der reichen, schon 1399 zusammen mit ihrem Mann Franciscus in den Waldenserprozess involvierten, inzwischen verwitweten und ihre Verteidigung ebenso geschickt wie erfolgreich selbst organisierenden (vgl. dazu vor allem Nr. 117 u. Nr. 118) Katharina Buschillion (geb. Muschillis) ein nahezu repräsentativer Querschnitt durch die städtische Gesellschaft - angefangen von der Augustinerbegine Anguilla Bechiller, aus deren Aussagen im Verhör vom 23. März 1430 (Nr. 67) das Gericht so etwas wie einen Katechismus der Waldenser zusammenstellte und zur Basis seiner Anklageartikel in ihrem (Nr. 71) und den übrigen Verfahren machte - über den Tuchscherer Konrad Wasen, der nach seiner Verurteilung am 3. April 1430 (Nr. 96) zum Tragen der diskriminierenden Ketzerkreuze auf seiner Kleidung und zu weiteren Bußleistungen einem im scheinheilig sein Beileid aussprechenden Nachbarn gesagt haben soll, sein und seiner Freunde Glaube sei der gleiche wie jener der Hussiten (Fides nostra est idem sicut fides Hussitarum, Nr. 105, S. 531), was ihn am 26. (Nr. 106) sowie 29. Juni (Nr. 107) erneut vor Gericht und beinahe auf den Scheiterhaufen brachte -, bis hin zu dem einflussreichen, schon 1399 in den Waldenserprozess verwickelten Kaufherrn Jakob (II.) von Praroman, der trotz einer 1430 erneut gegen ihn vorgebrachten Verdächtigung als Waldenser (Nr. 36) seine politische Karriere erfolgreich fortsetzen konnte und nach Erwerb eines Adelsbriefes (1436) schließlich 1439-1442 als Schultheiß amtierte, während andere, wie etwa Johannes Bertrant (Nr. 44 und Nr. 45) oder Heinzli George (Nr. 128) wegen des gleichen Verdachtes im Mai 1430 aus ihren Ämtern als Salzmeister bzw. Waagmeister entfernt worden sind.

Neben städtischen Funktionsträgern, Kaufleuten, Handwerkern oder als Dienstboten in der Stadt lebenden Frauen und Männern begegnen in den vorgelegten Prozessakten aber auch Leute vom Land, insgesamt freilich nur ca. 10 Prozent, wie etwa der Großbauer Richard von Maggenberg bzw. von Umbrechtschwendi oder Itha Stucki von Äschlenberg, die der Zauberei bezichtigt worden war und bei der die beiden Inquisitoren deshalb nach etwas suchten, "was nicht ohne Malefizien und andere Anrufungen der Dämonen gemacht werden konnte" (que non poterant fieri sine maleficiis et aliis demonum invocacionibus, Nr. 65, S. 431), vergeblich freilich, weshalb man sie am 5. Mai 1430 entlassen hat und statt ihrer lieber den am Vortag als rückfälligen Waldenser zur Übergabe an den weltlichen Arm verurteilten Peter Sager aus Rüeggisberg (Kanton Bern) auf den Scheiterhaufen schickte (Nr. 46, Nr. 47, Nr. 56), wofür laut Seckelmeisterrechnung Kosten in Höhe von 4 Pfund, 18 Schilling und 6 Pfennig entstanden sind.

Die von der Herausgeberin durchgängig praktizierte, arbeitsaufwendige Methode des Zusammenbringens von inquisitorialen und nichtinquisitorialen Quellen hat nicht nur im Fall des hingerichteten, 1430 übrigens als einzigen, Mühlen- und Sägewerkbetreibers Peter Sager zu ungemein aussagekräftigen Informationen geführt, sondern mit dieser Methode ist es, um wenigstens einen ihrer besonders schönen Erfolge noch herauszustellen, auch gelungen, eine für die Geschichte der spätmittelalterlichen Waldenser so zentrale Figur wie Mermet Hugo zu identifizieren, der einer der wichtigsten Gastgeber der reisenden Waldenserapostel in Freiburg war, und in dessen Haus in der Neustadtgasse um 1420 auch der Waldenserprediger und spätere Hussitenbischof Friedrich Reiser sich etliche Zeit aufgehalten hat.

Da in dem hier anzuzeigenden Buch sowohl die Anklageartikel von 1399 wie jene von 1430 in mustergültiger Edition geboten werden, diese von der Hgn. sogar in einer Vergleichstabelle zusammengestellt (Tabelle 11, S. 232) und einer ersten Analyse unterzogen worden sind (225-234), lässt sich einerseits eine große Übereinstimmung zwischen den Ansichten der freiburgischen Waldenseranhänger des Jahres 1399 und denjenigen des Jahres 1430 feststellen (Übereinstimmung auch im Fehlen so typischer waldensischer "Essentials" wie der Ablehnung des Schwörens und Lügens), andererseits aber auch eine unübersehbare Radikalisierung, die 1430 etwa in Formulierungen deutlich wird wie jener, dass alle Güter dieser Welt eigentlich ihnen gehörten (Art. 16), oder in der anschließenden, dass sie ein gutes Werk täten, wenn sie möglichst viele außerhalb ihrer Sekte Stehenden töteten (Art. 19) - womit sie sich vom ursprünglichen Waldensertum weit entfernt zu haben scheinen.

Ob diese Radikalisierung und Aggressivität möglicherweise unter dem Einfluss des Hussitismus zustande gekommen oder eher der Inquisition zuzuschreiben ist, bleibt, und darauf hat die Hgn. selbst hingewiesen (234), eine offene Forschungsfrage. Nichts könnte für die Waldenser- bzw. Hussiten- sowie die Inquisitionsforschung erwünschter sein, als wenn sich der Beantwortung dieser Frage die wie niemand sonst dafür bestens gerüstete Bearbeiterin der vorliegenden Edition selbst zuwenden wollte.