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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Metz, Detlef

Titel/Untertitel:

Gabriel Biel und die Mystik.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2001. XII, 457 S. gr.8 = Contubernium, 55. Geb. ¬ 83,00. ISBN 3-515-07824-X.

Rezensent:

Volker Leppin

Detlef Metz hat sich mit seiner von Ulrich Köpf betreuten Dissertation einem Thema zugewandt, dessen Bedeutung für das Verständnis spätmittelalterlicher Theologie am Vorabend der Reformation so groß ist, dass es verwundert, wie stiefmütterlich es bislang von der Forschung behandelt wurde. Diese Forschungslücke legt M. in seinen "Vorüberlegungen" (9-74) gründlich offen. Hier finden sich überdies allgemeine Begriffsdefinitionen, deren konventionellem Zuschnitt freilich etwas mehr Irritation durch aktuelle Forschung zu wünschen gewesen wäre.

Die starke Konzentration auf den Erfahrungsbegriff in der Mystikdefinition ist so wohl nur möglich, weil auf eine Kenntnisnahme der kritischen Einwände von Kurt Flasch zu theologiehistorischen Tendenzen der Mystikforschung verzichtet wird; das ist auch deswegen bedauerlich, weil die gewählte Mystikdefinition im Verlauf der Arbeit - etwa beim unio-Begriff - mit einer Deutlichkeit zur Unterscheidung mystischer und nicht-mystischer Gedanken herangezogen wird, die ihren überaus arbiträren Charakter verschleiert. Auch der Kampf gegen das Konzept einer "nominalistischen Theologie" bewegt sich an einer veralteten Front, die durch die Verflüssigung des Nominalismusbegriffs und die Einsicht in das Ineinander von Philosophie und Theologie im Mittelalter wenn nicht aufgehoben, so doch merklich verschoben ist.

Die beeindruckenden Stärken der Arbeit liegen in der behutsamen, differenzierten Einzelanalyse: Nach knappen Darlegungen zu Biels Anthropologie (75-84) bietet M. in Kapitel IV: "Mystische Elemente im Collectorium und in der Expositio" das eigentliche Corpus seiner Arbeit (85-302). Es schreitet von vorbereitenden Schritten wie Gebet und Meditation über Entrückungsphänomene fort zur Analyse des Höhepunktes der Mystik.

Zu Recht wird gegenüber verengenden Deutungen hervorgehoben, dass Biels rationale Durchdringung des Gebets in lehrhafter Form dessen affektive Bedeutung keineswegs aus-, sondern einschließt, und es sich ebenso wie Meditation und Kontemplation bis zum Rand mystischer Erfahrung erheben kann (99 f.). Hier läge es nahe, noch intensiver nach der geistigen Einbindung von Biels Überlegungen nicht nur in die Theologiegeschichte, sondern auch in die Frömmigkeitsgeschichte der Brüder vom gemeinsamen Leben zu fragen, die von M. im Zusammenhang der Butzbacher Bibliothek tangiert wird; leider konnte offenbar die 1999 erschienene, noch anderen Aspekten dieser Seite von Biels Tätigkeit gewidmete Arbeit: "Gabriel Biel und die Brüder vom Gemeinsamen Leben" von Gerhard Faix auch für die Drucklegung nicht mehr eingearbeitet werden.

Im Zusammenhang der Entrückungsphänomene kann M. das Verb "rapi" als Hinweis auf eine mystische Dimension im Sinne seiner Definition verstehen (152-155), zugleich aber in feiner philologischer und theologischer Analyse im eucharistischen Kontext einen nicht-mystischen Gebrauch nachweisen (148-152). Exemplarisch macht er im Zusammenhang der raptus-Lehre auch deutlich, wie sehr in diesem Kontext auf der Via moderna fußende Überlegungen bei Biel zum Tragen kommen (164 ff.). Dabei fällt auf, wie weit sowohl im Blick auf den raptus als auch im Blick auf die - nach M. nicht ohne weiteres mystisch gedachte illuminatio der Wirkbereich der potentia ordinata gefasst wird.

Am tiefsten steigt M. in den Vergleich Biels mit der vorangehenden Geistesgeschichte in dem Herzstück seiner Arbeit, dem Kapitel über die Höhepunkte des mystischen Geschehens, ein. Bis in textkritische Untersuchungen hinein profiliert er Biels Aussagen über die Einwohnung Gottes als vergleichsweise starke Betonung der dem Menschen zugeeigneten Macht - eine bemerkenswerte Beobachtung, die M. leider selbst in seiner Zusammenfassung abschwächt (vgl. 259 mit 237). In diesen Passagen erweist sich M.s Werk als genuin mediävistische Arbeit, die die Stränge zu den Vorläufern energisch aufgreift, sich den Ausblick auf Luther hingegen selbst dort versagt, wo mit dem Nachweis der Theosis-Vorstellung bei Biel (263 f.) ein Thema angeschnitten wird, das in der jüngeren Forschung für Luther höchste Brisanz gewonnen hat.

Zum Gefangenen seiner eigenen Definitionen wird M. allerdings in den Abschnitten VI und VII über mystische Erfahrung und Passionsmystik bei Biel. In beiden Fällen wird nach der Entsprechung zur vorgegebenen Mystikdefinition gesucht - weniger hermetisch wäre die Frage nach einer Einbindung Biels in zeitgenössische Frömmigkeit gewesen, die durch den banalen Hinweis, dass er "durch die mittelalterliche Frömmigkeit beeinflußt" war (390), bei weitem nicht geleistet ist.

An dieser Stelle lässt die Arbeit also noch breiten Raum für weitere Forschungen, die eine angemessenere frömmigkeitsgeschichtliche Kontextualisierung erbringen müssten. Dass solche Fragen aber nun auf einer materialreichen und differenzierten, theologiegeschichtlich sauber erarbeiteten Grundlage gestellt und beantwortet werden können, ist das nicht geringe Verdienst der Arbeit von M. Für ein wichtiges Thema - den Zusammenhang von spätscholastischer Theologie und mystischer Frömmigkeit - sind hier vielleicht keine Schneisen geschlagen, aber klärende Auslotungen vorgenommen worden.