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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1056–1058

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Uebele, Wolfram

Titel/Untertitel:

"Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen". Die Gegner in den Briefen des Ignatius von Antiochien und in den Johannesbriefen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 195 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 151. Kart. ¬ 38,50. ISBN 3-17-016725-1.

Rezensent:

Titus Nagel

Zu den nach wie vor kontrovers diskutierten Problemen der johanneischen Briefe gehört die Frage nach der Identität der dort ins Visier genommenen Gegner. Beachtenswertes Parallelmaterial für diese Fragestellung liegt in den - in jüngster Zeit wieder in die Diskussion bezüglich ihrer Echtheit und Datierung geratenen (R. M. Hübner) - Briefen des Ignatius von Antiochien vor, das von der Forschung auch mehrheitlich im Sinne einer verwandten doketistischen Christologie ausgewertet wird. Beiden Briefkorpora unter besagter Fragestellung wendet sich die hier vorzustellende Arbeit zu, die im Wintersemester 1998/ 99 von der Wiener Evangelisch-Theologischen Fakultät als Promotionsschrift angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet und ergänzt wurde. Sie beabsichtigt, "das Profil der ignatianischen und johanneischen Gegner nachzuzeichnen, dabei die jeweilige Irrlehre transparent zu machen, um in einem direkten Vergleich sodann die vielfach erhobene Verwandtschaftsthese einer kritischen Überprüfung zu unterziehen" (18). Diesem Programm entsprechen die drei Hauptteile der Arbeit, denen eine forschungsgeschichtliche Einführung (11-19) vorangeht.

A) Den ersten Hauptteil eröffnet die Auseinandersetzung mit den Thesen Hübners. Der Vf. hält an der Echtheit der Ignatianen der mittleren Rezension fest (20-27) und kann dafür nicht zuletzt das Ergebnis seiner eigenen Arbeit anführen: dass nämlich die von Ignatius bekämpften Gegner in das frühe 2. Jh. gehören.

Die Analyse der Briefe selbst ergibt, dass Ignatius gegen eine einheitliche Gegnerfront vorgeht, deren Christologie als Doketismus monophysitischen Typs (nach Weigants kirchen- und dogmengeschichtlich nicht unmissverständlicher Terminologie; meint: Da der Erlöser von überirdischer Substanz ist, geschah sein irdisches Wirken und Leiden nur zum Schein.) zu bestimmen ist (IgnEph [57], IgnMagn [66], IgnTrall [74], IgnPhld [82], IgnSm [91]).

Zur Absicherung ihrer Lehre bedienten sich die Gegner einer "speziellen Schriftauslegung" (91), die Ignatius als "Joudaïsmos" bezeichnet (IgnMagn [61 f.], IgnPhld [76-80]).

Den Gegnern oft unterstellte libertinistische Tendenzen lassen sich den Texten nicht entnehmen (57.73 f.); dafür vertreten sie "in gnostischer Manier" (55) eine Menschenklassenlehre, die Sarkiker und Pneumatiker unterscheidet, wobei sie sich selbst letzteren zurechnen (IgnEph [55], IgnSm [89]).

B) Für die Untersuchung der Johannesbriefe geht der Vf. von der zeitlichen Priorität des in Syrien (99) "in mehreren Entwicklungsstufen" (94) entstandenen JohEv aus, dessen "kirchliche" Redaktion (95) sich gegen doketistische Tendenzen innerhalb des joh. Gemeindeverbandes wendet und diese Auseinandersetzung in den beiden ersten Johannesbriefen fortsetzt (117 f.).

Die Analyse der beiden ersten Johannesbriefe kommt zu dem Ergebnis, dass diese Auseinandersetzung einerseits mit neu gebildeten Bekenntnisformeln (1Joh 4,2 f.; 2Joh 7; 1Joh 1,1-3; 5,6) geführt wird, die der Bestreitung der realen Menschlichkeit Jesu Christi, nicht aber einer Trennungschristologie entgegentreten, und andererseits vorgegebenes Traditionsgut (1Joh 2,22; 4,15; [5,1-5]) in Dienst genommen wird, "das aber einer anderen Sachlage entspringt [...] und im Konflikt mit dem Doketismus letztlich sein Ziel verfehlt" (135).

Zu den Gegnern ist ferner festzuhalten, dass sie sich als Pneumatiker verstanden (1Joh 4,1-3), wobei mit diesem Anspruch "zugleich das Wissen um die Jenseitigkeit ihres Ursprungs und ihres Zieles verbunden" war (139) - letzteres wird vom Vf. behauptet "aufgrund der allgemeinen Tendenz der Gnosis und trotz des Fehlens näherer Angaben" (141). Ein Hang zum Libertinismus ist bei ihnen dagegen nicht festzustellen (146).

C) Der Vergleich der Gegnerprofile ergibt, dass diese "letztlich identisch" (156) sind: Übereinstimmungen bestehen hinsichtlich der (monophysitisch-doketistischen, nicht: kerinthischen) Christologie, die durch eine doketistische Exegese des AT abgesichert werden sollte (147-152), der Leugnung der soteriologischen Relevanz von Inkarnation und Kreuz (152 f.), damit verbunden der Ablehnung einer realpräsentisch verstandenen Eucharistie (154 f.) sowie letztlich der ethischen Indifferenz gegenüber den übrigen Gemeindegliedern, die vom Selbstverständnis als pneumatische Gnostiker motiviert ist (155 f.). Historisch sind die Gegner der Ignatianen und der Johannesbriefe in der Nähe des Antiocheners Satornil einzuordnen (160- 163).

Überzeugt die herausgearbeitete Übereinstimmung im christologischen und soteriologischen Profil der Gegner, so bleibt ihre vermutete Spezialexegese des AT doch fraglich. Für die Praxis einer solchen doketistischen Auslegung werden keine Textbelege geboten, so dass die vom Vf. von Molland übernommene These, "Joudaïsmos" bei Ignatius bezeichne nichts anderes als eine exegetische Haltung, keine neue Stütze erhält. (Der bloße Hinweis auf Jes 53,2 [62] ist methodisch unzureichend, da auch die Verwendung des Verses in der einschlägigen Literatur zu prüfen gewesen wäre. In den Nag- Hammadi-Texten beispielsweise ist sie nicht nachweisbar [vgl. Nag Hammadi Texts and the Bible. A Synopsis and Index. Ed. by C. A. Evans u. a., NTTS 18, Leiden u. a. 1993, die Jes 53,2 nicht verzeichnen].) Auch die Mutmaßungen hinsichtlich solcher exegetischer Praxis bei den Gegnern der JohBr (151 f.) müssen angesichts nicht zu erbringender Belege Spekulation bleiben. Wenn es dann doch so aussieht, dass den ignatianischen Gegnern eine Affinität zum Judentum eignet, den johanneischen Gegnern aber nicht, entfällt ein nicht unwesentliches Identitätskriterium.

Die Charakterisierung der Gegner als "Leute mit gnostischem Gepräge" (26, Anm. 87), "pneumatische [...] Gnostiker [...]" (91) u. ä. wäre überzeugender, wenn sie sich nicht nur auf Indizien für eine dualistische Anthropologie stützte, sondern beispielsweise auch an einer protologisch-dualistischen Kosmologie ihren Anhalt hätte.

Der Vf. hat die erste monographische Behandlung der Gegnerfrage im Corpus Ignatianum und im 1. und 2. Johannesbrief vorgelegt. Schon allein deshalb verdient sie gebührende Beachtung. Die Argumentation gegen die Zuordnung der joh. Gegner zum Lager Kerinths hätte an Kontur gewonnen, wenn dessen Lehre ausführlicher erörtert worden wäre. Ob die durchaus scharfsinnigen Vermutungen zum gemeinsamen historischen Ursprung der Gegner Zustimmung finden werden, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, welche Tragfähigkeit ihren Prämissen ("Einfluß der syrisch-antiochenischen Gnosis" [161]; kirchliche Redaktion des JohEv, die auch für die Briefe verantwortlich zeichnet und die diesem Einfluss entgegentritt) zugebilligt werden wird.