Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1054–1056

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Longenecker, Richard N. [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Challenge of Jesus' Parables.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. XII, 324 S. gr.8 = McMaster New Testament Studies. Kart. US$ 28,00. ISBN 0-8028-4638-6.

Rezensent:

Rainer Hirsch-Luipold

Die Gleichnisse Jesu präsentieren sich als einfache Geschichten, die aus dem alltäglichen Leben Palästinas erzählen: von Saat und Ernte, von Hirten und Schafen, Königen und Sklaven, Hochzeiten und Todesfällen, von den Frommen und den sündigen Ausländern. So nehmen sie die Hörer gefangen, indem sie von der Welt erzählen, wie sie immer war. Aber es gärt in diesen Geschichten. Kaum hat man es sich in seiner gewohnten Welt gemütlich gemacht, da bricht sich eine neue Logik Bahn. Die Geschichten setzen den geltenden Ordnungen des sozialen Oben und Unten, des religiösen Richtig und Falsch erzählerisch die neue Logik des Reiches Gottes entgegen und entfalten so zu allen Zeiten eine explosive Wirkung. Zwar haben die Theologen, soweit sie zu den Reichen, Satten und Gerechten gehören, immer versucht, die Gleichnisse Jesu zu adaptieren und ihre subversive Botschaft zu entschärfen. Es gelang diesen aber immer wieder, ihre prophetische Wirkung zu entfalten und bestehende gesellschaftlich-religiöse Missstände zu entlarven. Aus diesem Grund bedeuten die Gleichnisse Jesu, wie dies der Titel des vorliegenden Sammelbandes andeutet, eine stets neue Herausforderung für die wissenschaftliche Theologie ebenso wie für das kirchliche Leben und die individuelle Spiritualität. Damit passen sie ausgezeichnet in das Profil der McMaster New Testament Studies, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Themen, die für das christliche Leben von besonderer Bedeutung sind, aufzugreifen und für eine breite religiöse und kirchliche Öffentlichkeit kompetent wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Im vorliegenden Band sind dreizehn renommierte Neutestamentlerinnen und Neutestamentler versammelt, die zum Teil über die von ihnen bearbeiteten Synoptiker bereits ausführliche Kommentarwerke veröffentlicht haben. Sie bemühen sich nun darum, ihre Ergebnisse zu den Gleichnissen, die zunächst auf einem Kolloquium diskutiert wurden, in einer leicht lesbaren Form vorzustellen. Entstanden ist dabei eine Mischung aus Aufsatzsammlung und Kommentar: Der Band bietet eine Zusammenstellung der synoptischen Gleichnistexte, ausgelegt von Spezialisten, die in der Lage sind, ohne allzu viel wissenschaftlichen Ballast die Bedeutung der Passage im Rahmen des jeweiligen Evangeliums deutlich werden zu lassen. Die Beiträge verzichten aus diesem Grund weitestgehend auf Fußnoten und umfangreiche bibliographische Hinweise. Von den Reich-Gottes-Gleichnissen vom Schatz im Acker oder der selbstwachsenden Saat über die matthäischen Gleichnisse über die Wachsamkeit im Blick auf das kommende Ende bis hin zu den lukanischen Gleichnissen über eine neue Ethik erhält man bei der Lektüre einen Bilderbogen dieser immer wieder neu spannenden Texte aus einer Vielzahl unterschiedlicher Blickwinkel. Dass sich bei einem solchen Aufbau manche Doppelungen nicht vermeiden lassen, versteht sich beinahe von selbst.

Wie sehr die jesuanischen Gleichnisse die Schriftauslegung zu allen Zeiten herausgefordert haben, zeigen die einleitenden Aufsätze von Klyne R. Snodgrass und Robert H. Stein, die von der Geschichte der Interpretation jesuanischer Gleichnisse her zu einem Verständnis ihrer gegenwärtigen Bedeutung beizutragen suchen. "From Allegorizing to Allegorizing" - unter diesem Titel, der für ihn zugleich Problemanzeige ist, durchschreitet Snodgrass die Geschichte der Interpretation neutestamentlicher Gleichnisse - von der allegorischen Auslegungsmethode großer Kirchenväter über die Kritik bei A. Jülicher, C. H. Dodd und J. Jeremias bis hin zu modernen hermeneutischen und strukturalistischen Ansätzen, in denen die Allegorisierung über den Gedanken der Polyvalenz gleichnishafter Texte wieder zu neuen Ehren kommt. Snodgrass wendet sich "against the sociological and ideological allegorizing of today" (27) und weist insbesondere auf die Gefahr einer unkontrollierten Subjektivität der Deutung hin (26). Zugleich aber gelingt es ihm, die unterschiedlichen Ansätze in ihrer Berechtigung stark zu machen. In Snodgrass' Kritik, die Stein in veränderter Form aufgreift, liegt einige Würze, da sich verschiedene Beiträge des Bandes (France, Wright, Keesmaat, Knowles) mehr oder weniger explizit einer allegorisierenden Exegese verschreiben. Man kann nur vermuten, dass sich auf dem Kolloquium einige hitzige Debatten an dieses Thema geknüpft haben dürften. Allein, als Leser erfährt man darüber leider nichts. Diskussionen über die Grenzen der einzelnen Beiträge des Bandes hinweg unterbleiben. Gerade für nicht fachkundige Leser wären Querverweise und gegebenenfalls kurze Diskussionen zwischen dreizehn profilierten Forschern jedoch sicherlich interessant und klärend.

Robert H. Stein ("The Genre of the Parables") und Craig A. Evans ("Parables in Early Judaism") beleuchten von einer Untersuchung der Begriffe parabolai und mashal her die Spannweite jesuanischer Gleichnisse (parables). Mit mashal könne ein Sprichwort ebenso bezeichnet sein wie ein Rätselwort und eine Allegorie. Stein definiert weniger "The Genre of Parables". Vielmehr wendet er sich dagegen, inhaltlich zusammengehörige Formen gleichnishafter Sprache auseinanderzureißen: "Basic to the genre of mashal and parabolai is the idea of a comparison between unlike things" (43, vgl. 47); "the metaphysical-like distinctions [...] are not only exaggerated but unwarranted" (47). Die Bandbreite der Begriffe bestätigt Evans durch eine Untersuchung der zehn (im engeren Sinne verstandenen) parabolai des AT. Diese schließen Gerichtsparabeln, Fabeln, Allegorien, aber auch Träume, die "parabolic material" enthalten (62), mit ein. Vor dem Hintergrund der Verwendung des mashal im Alten Testament und im Frühjudentum sind die Grenzen des Gleichnishaften bei Jesus also deutlich weiter zu ziehen, als dies üblicherweise - auch bei den meisten Untersuchungen des vorliegenden Bandes - geschieht. Manche Aufsätze des Bandes allerdings beziehen "parabolic metaphors" (187), "parabolic similes" (188), "parabolic sayings" (240), Allegorien usw. in die Untersuchung mit ein, wenn sie vom Bildmaterial her zum jeweiligen Gleichnis hinzugehören.

Mit den Gleichnissen vom Reich Gottes sowie mit der Parabeltheorie beschäftigen sich M. Hooker (Markus), D. Hagner (Matthäus) und R. Longenecker (Lukas). M. Hooker schickt der eigentlichen Auslegung eine interessante Einordnung in den Kontext der übrigen markinischen Gleichnisse sowie der auf das Gleichniskapitel 4 folgenden Heilungsgeschichten voraus. Die Heilungsgeschichten nehmen die Themen dieses Kapitels auf und illustrieren insbesondere die Kernsätze über die für die Wahrheit blinden Augen und tauben Ohren (Mk 4,10-12) durch das Handeln Jesu, wodurch eine geradezu johanneische Struktur entsteht (86).

A. W. Maartens diskutiert "Parables of Judgment against the Jewish Religious Leaders and the Nation" bei Matthäus und Lukas, R. France die Gleichnisse "On Being Ready" in Matth 25. Beide Beiträge zeigen verschiedentlich Linien zum alttestamentlich-jüdischen Bildgebrauch auf.

Je weiter man in der Lektüre fortschreitet, um so deutlicher wird der Anspruch, der sich hinter diesen so einfach klingenden Geschichten Jesu verbirgt, denn die abschließenden Beiträge sind den "Parables of the Christian Life" gewidmet. "Our reading of the parables should not be to try to strip away their inessentials in order to get to their real message - whether of Jesus, or the early Church, or the evangelist [...]. Rather, reading the parables as they were meant to be read is to be once more astonished by the gospel- to so engage with the text in all of its detail" (200).

Mit diesen Worten hebt S. C. Barton in einem hermeneutischen Einstieg über Gedanken D. Bonhoeffers die unmittelbare Gegenwartsrelevanz der Gleichnisse hervor. Beispielhaft zeigt Barton an den Gleichnissen vom Verlorenen in Lk 15, die er als Einheit unter der Frage nach billiger Gnade betrachtet, dass wir die Gleichnisse fruchtbar nicht als historisches Abstraktum, sondern nur als unmittelbare Anfrage an unser eigenes Gottesverständnis im Gegenüber zu diesen Bildern des Hirten, der Frau, des vergebenden Vaters verstehen können. Wie nahe uns die Gleichnisse dabei kommen können, zeigen die sozio-politische Interpretation der "Parables on Poverty and Riches" von Stephen I. Wright, die Untersuchung über die "Parables on Prayer" von Walter L. Liefeld (mit besonderem Augenmerk auf dem hapax legomenon: anaideia in Lk 11,8) und die allegorisierende Interpretation der "Parables on Discipleship" von Michael P. Knowles sowie insbesondere Silvia Keesmaats Beitrag über "Strange Neighbors and Risky Care". Keesmaat liest die Gleichnisse einerseits vor dem Hintergrund der Bildsprache der "Schriften Israels", andererseits aber ganz bewusst vor der Kulisse unserer eigenen Zeit. Der "Nächste" aus dem Gleichnis vom "Barmherzigen Samariter" und die "Armen und Behinderten" aus Lk 14 bekommen dabei ein beunruhigendes Gesicht: das eines AIDS-Kranken oder eines Obdachlosen, die wir nur allzu gerne übergehen und nicht an unseren Tisch laden wollen. Damit aber bekommt auch der "Schalksknecht" ein beunruhigendes Gesicht: unser eigenes. Und dadurch wenden sich die Gleichnisse unmittelbar an uns mit der Frage: Wollen wir wirklich ernst machen mit dem Königreich, das Jesus verkündet - in dem dann diese Menschen an unserem Tisch sitzen?

Wer sich besonders für die Gleichnisse Jesu interessiert, erhält in diesem Band neben einleitenden Aufsätzen zur Gleichnisforschung und zu alttestamentlichen und frühjüdischen Parallelen nicht nur einen Kommentar über alle synoptischen Gleichnisse, sondern zugleich weiterführende Interpretationen, die den anhaltenden Anspruch der Texte plastisch machen.