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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lattke, Michael

Titel/Untertitel:

Oden Salomos. Text, Übersetzung, Kommentar. 1: Oden 1 und 3-14. 2: Oden 15-28.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag u. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999/2001. XII, 301 S. u. XII, 331 S. gr.8 = Novum Testamentum et Orbis Antiquus 41/1+2. Lw. ¬ 59,20 u. ¬ 64,00. ISBN 3-7278-1245-1 u. 3-525-53941-X sowie 3-7278-1351-2 u. 3-525-53948-7.

Rezensent:

Jörg Frey

Nach langjährigen Vorarbeiten legt der in Brisbane/Australien lehrende Autor nun die "Summe" seiner Lebensarbeit über die Oden Salomos (OS) in Form eines ausführlichen, auf drei Bände angelegten philologisch-religionsgeschichtlichen Kommentars vor. Zuvor hatte L. bereits in insgesamt fünf Bänden unter dem Titel "Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis" (Bd 1-4 [OBO 25/1-4], Freiburg, Schweiz/Göttingen 1979-1998) zunächst die bislang bekannten Handschriften der OS beschrieben und ediert und eine vollständige Wortkonkordanz zur handschriftlichen griechischen, koptischen, lateinischen und syrischen Überlieferung erstellt, eine ausführliche forschungsgeschichtliche Bibliographie herausgegeben und schließlich zahlreiche Einzelstudien zur historischen Einordnung und Interpretation der OS gesammelt veröffentlicht. Eine deutsche Übersetzung der OS ist in der Reihe Fontes Christiani erschienen (Oden Salomos. Übersetzt und eingeleitet [FC 19], Freiburg etc. 1995); dort hat L. auch ausführlich zu seiner Sicht der Einleitungsfragen Stellung genommen. Mit diesem uvre ist L. als einer der kundigsten Interpreten der OS ausgewiesen, und sein jetzt vorgelegtes Werk ist der erste große Kommentar zu den OS im Stile von historisch-kritischen Bibelkommentaren.

Die Kommentierung ist relativ technisch angelegt. Für jede Ode bietet L. zunächst den Text aus der jeweiligen Überlieferung in der Originalsprache und -schrift und in seiner poetischen Struktur - meist nach der Analyse seiner Schülerin M. Franzmann (The Odes of Solomon. An Analysis of the Poetical Structure and Form [NTOA 20], Freiburg, Schweiz/Göttingen 1991) - in Stanzen gegliedert. Eine kurze Einleitung erläutert die Überlieferungssituation, bevor dann der Text (koptisch und syrisch in transliterierter Form) noch einmal und nun mit einer deutschen Übersetzung stanzenweise wiederholt und semantisch und religionsgeschichtlich eingehend erläutert wird. Einzelne Themen und Motive werden übersichtlich in Exkursen (zu jeder Ode ein passender Exkurs) dargestellt. Der Kommentar bietet insofern die kenntnisreichste und übersichtlichste Erörterung der vielfältigen philologischen und religionsgeschichtlichen Probleme dieses schwer zu interpretierenden Textes und die ausführlichste Sammlung der von L. für relevant gehaltenen Parallelen. Gegenüber der von J. H. Charlesworth (Critical Reflections on the Odes of Solomon I: Literary Setting, Textual Studies, Gnosticism, the Dead Sea Scrolls and the Gospel of John [JSPE.S 22], Sheffield 1998) vorgeschlagenen Einzeichnung der OS in die Linie der essenischen Texte von Qumran ist L. (m. E. zu Recht) skeptisch; insofern begegnen diese Texte auch in der Diskussion spärlicher. Zur Übersichtlichkeit ist am Ende des 2. Bandes das Verzeichnis der bis dahin zitierten Literatur noch einmal in ergänzter Form abgedruckt. Der 3. Band zu den Oden 29-42 soll das Werk in absehbarer Zeit abschließen, das eine Summe der bisherigen und einen unersetzlichen Fundus jeder weiteren Arbeit an den OS bildet.

Es ist hier nicht der Ort, philologische Einzelfragen zu erörtern. Wesentlicher ist es, die Tendenz der Gesamtinterpretation zu kennzeichnen, die zu berücksichtigen ist, wenn der Kommentar zu Rate gezogen wird. L. versteht die OS nicht nur selbst als ein Produkt frühchristlicher Gnosis, sondern auch als ein Indiz dafür, auch andere Texte, in denen (in Ansätzen) ähnliche Termini begegnen, insbesondere das JohEv, in ein gnostisches Milieu einzuordnen. Damit bleibt er ganz auf der Linie seiner Dissertation (Einheit im Wort [StANT 41], München 1975) bzw. der durch Rudolf Bultmann und die frühe Luise Schottroff (Der Glaubende und die feindliche Welt [WMANT 37], Neukirchen-Vluyn 1970) repräsentierten Linie der religionsgeschichtlichen Einschätzung des vierten Evangeliums - die freilich in der gegenwärtigen Forschung nur noch wenig Anklang findet. So ist für L. auch z. B. der absolute Gebrauch von "der Sohn" Teil der "Entwicklungslinie einer gnostischen Vorstellungs- und Redeweise" (I, 19), in die dann auch schon das JohEv einbezogen sein soll. Wenn L. dafür als Kronzeugen den großen, aber zumindest religionsgeschichtlich inzwischen veralteten Johanneskommentar von R. Schnackenburg zitiert, vermag dies seine Position kaum zu stärken.

Für die OS lässt sich diese Deutung diskutieren; gleichwohl ist die Einordnung in die Gnosis nur unter Voraussetzung einer sehr weiten Fassung des Begriffs möglich. Ein Kernelement gnostischer Systembildungen, der protologische Dualismus, fehlt in den OS. Auch ist bei allen Übereinstimmungen der Metaphorik ihr Bildgebrauch (z. B. in den Motiven von "Wasser", "Quelle" und "Fluß") gegenüber dem JohEv, das an mehreren Stellen deutlich rezipiert scheint, noch "vielschichtiger" (so mit Recht T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert [ABG 2], Leipzig 2000, 193). Die Terminologie entfernt sich z. T. deutlich von den biblischen Traditionen: Der (aus Dan 12,2 f. stammende) joh Ausdruck "ewiges Leben" begegnet nur zweimal, viel häufiger der im JohEv bewusst vermiedene Ausdruck "unsterbliches Leben" (I, 21 f.). Das Problem der Auslegung besteht darin, dass in der poetischen Form und in der metaphorischen Sprache die Ebenen nicht selten verfließen. Oft ist unklar, wer der Sprecher der jeweiligen Textpassage ist: der "Erlöser" oder der "Erlöste" - eine sichere Basis dafür, hier das Mythologumenon vom "erlösten Erlöser" im Hintergrund zu sehen, ist aber auf der Basis einer derart metaphorisch-poetischen Sprache schwerlich zu gewinnen.

Auffällig ist in L.s Präsentation, dass die von ihm vertretene religionsgeschichtliche Interpretation in seiner Übersetzung und in den von ihm gewählten Überschriften über die einzelnen Oden sehr stark nachklingt, so dass die Einordnung auch für die mit der Diskussion weniger vertrauten Leserinnen und Leser seines Kommentars präjudiziert wird. Der Terminus Erkenntnis (jd') ist fast durchgehend mit dem deutschen Wort "Gnosis" wiedergegeben, das - wie die häufige Rede vom "Gnostiker"- eben doch spezifische religionsgeschichtliche Sinngehalte trägt. Spricht man hier nur von "erkennen/Erkenntnis", dann klingen manche Passagen ganz anders. L.s Übersetzung ist somit alles andere als religionsgeschichtlich neutral. Auch die Wiedergabe von aporroia (6,8) als "Emanation", die Verwendung von "Gnosis" in den Überschriften zu den Oden 3, 6, 7 und 18 oder die häufigere Verwendung des Terminus "erlöster Erlöser" (Überschrift zu OdSal 17: "Mythologische Rede des erlösten Erlösers ...": II, 42) evozieren Sinngehalte, die L.s Interpretation entsprechen, aber nicht Konsens sind. Man kann dies rechtfertigen, insofern ja eine Übersetzung stets das letzte Produkt der Interpretation darstellt. Für einen Kommentar, der zunächst das Material zur Diskussion darbieten muss, und oft wohl nur als Steinbruch für die Benutzung der OdSal in anderen Diskursen dienen wird, ist ein solches Vorgehen nicht unproblematisch. Jedenfalls sollte man dies in Rechnung stellen, wo man sich anderwärts auf L.s Kommentar bezieht.

Gelegentlich finden sich erhellende, aber sympathische Stilbrüche in dem sonst ganz technischen, auf die philologische und religionsgeschichtliche Diskussion eingeschränkten Werk. So in II, 80 f., wo L. die Fragen des modernen Menschen, für den Gott nur mehr eine sinnvolle Hilfskonstruktion zum Verständnis der Welt sei, an den antiken Text richtet. Ob die an Eberhard Jüngel angelehnte Beteuerung, dass schon die antiken Menschen sich über den analogen Gebrauch der Sprache im Klaren gewesen seien, die gegenwartsbezogene Interpretation des hochmetaphorischen Textes schon hinreichend zum Ziel führt, sei dahingestellt. Die religiösen Potentiale des Textes reichen wohl weiter, und L.s Stilbruch zeigt, dass das Problem der Interpretation durch die Fülle von Parallelen noch lange nicht gelöst ist. Welche Fragen die Metaphorik der OS dem postmodernen Menschen entlocken, welche Antworten sie ihm suggerieren könnte, wäre eine interessante Überlegung, die nicht Gegenstand dieses Kommentars sein kann. L.s gelegentliche Anmerkungen lassen ahnen, wo sein theologisches Herz nach wie vor schlägt - wenn er nicht Religionsgeschichte treibt.