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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Green, H. Benedict

Titel/Untertitel:

Matthew, Poet of the Beatitudes.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2001. 350 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl.Series 203. Geb. £ 50,00. ISBN 1-84127-165-9.

Rezensent:

Matthias Konradt

Die Beobachtung, dass sich die acht Seligpreisungen in Mt 5, 3-10 in zwei Strophen mit exakt gleicher Wortzahl (36) gliedern lassen und sich die erste Strophe durch eine p-Alliteration auszeichnet, ist des Öfteren vorgetragen worden. Der Versuch von Benedict Green, den Evangelisten Matthäus als schriftgelehrten Dichter der Seligpreisungen zu präsentieren, geht aber wesentlich darüber hinaus und schreitet dabei weithin auf ungewohnten Wegen. Als richtungsweisend erweist sich die Ablehnung der Logienquelle zu Gunsten der Annahme lk Benutzung des Mt (27-36 und passim). Denn dadurch wird der Weg frei, den ersten Evangelisten als Schöpfer der einzelnen Seligpreisungen wie der Komposition als Ganzer anzusehen (5,11 f. verbleibt außerhalb der Betrachtung).

Im ersten Hauptteil ("The Beatitudes as Poetry", 15-174) bietet G. zunächst nur eine knappe Analyse der formalen Charakteristika des "Gedichts" Mt 5,3-10 (37-41). Neben der strophischen Gliederung erkennt G. auf Grund des Gebrauchs einer passiven Verbform in jedem zweiten Verheißungssatz und phonetischer Entsprechungen in den Bezeichnungen der Seliggepriesenen (z. B. penthountes und peinontes: dreisilbige Partizipien) eine Paarbildung als wesentliches Strukturmerkmal (I+III, V+VII, II+IV, VI+VIII), wobei freilich zugleich auf die grammatische Affinität zwischen ptochoi to pneumati (I) und katharoi te kardia (VI)verwiesen wird.

Den Schwerpunkt des ersten Hauptteils bildet der Versuch, Matthäus anhand zahlreicher weiterer Texte des Evangeliums als "versifier" auszuweisen. Demonstrationsbasis ist zum einen eine Reihe alttestamentlicher Zitate (48-73; primär "formula quotations", im Einzelnen: 2,6; 2,18; 4,15 f.; 12,18-21; 13,35; 21,5, ferner 4,4.10; 21,13), in denen Matthäus dem Text zum Teil auf Kosten der Nähe zum Original eine rhythmische Struktur gegeben habe, zum anderen und vor allem aber einige - von alttestamentlichen Texten inspirierte bzw. beeinflusste - eigene Kompositionen des Evangelisten (74-161, im Einzelnen: 1,20b- 21+1,23; 6,9b-13; 11,5; 11,7-9+11,11a.13; 11,16-19; 11,21- 24; 11,25-30; 16,17-19; 23,37-39; 28,18-20).

Ich greife mit 6,9b-13 (77-91) nur einen besonders gewichtigen Text heraus. Das Vaterunser wird in zwei Strophen gegliedert: I: Anrede (1), die drei Du-Bitten (2a-c), "wie im Himmel so auf Erden" als auf alle drei Bitten bezogener Vers (3); II: die drei Wir-Bitten (V. 13a.b werden als eine Bitte verstanden), die jeweils ein Distichon bilden (4a-6b). G. findet in der ersten Strophe eine konzentrische Struktur mit der Reich-Gottes-Bitte als Mittelpunkt. Das Gegenstück dazu sei in der zweiten Strophe die durch Mk 11,25 inspirierte Vergebungsbitte, während die Brotbitte mit 2c und die Doppelbitte um göttlichen Beistand (Mt 6,13) mit 2a verbunden wird, so dass sich eine chiastische Gesamtstruktur ergibt. Die Frage nach einer (literarischen) Vorlage wird mit der in Appendix A (293-299) vorgetragenen These, Lk 11,2-4 sei eine Bearbeitung zum Zwecke des Gebrauchs durch Neophyten nach der Taufe (G. geht in Lk 11,2 von der Ursprünglichkeit der Bitte um den Heiligen Geist anstelle der Reich-Gottes-Bitte aus), abgeblendet.

G. schließt den ersten Hauptteil ab, indem er die besprochenen Texte nach ihrem zeitlichen Verhältnis zur Komposition des Evangeliums gruppiert (162-164) und durch einen knappen Durchgang durch das Corpus Paulinum, Offb, Joh und Lk die frühchristliche Singularität des mt Phänomens eines schriftgelehrten Dichters, der im Rahmen der Konventionen hebräischer Poesie in griechischer Sprache schreibt, zu demonstrieren sucht (165-174). Für die Gesamtthese bildet Letzteres einen Baustein von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Da sonst im frühen Christentum kein mit dem ersten Evangelisten vergleichbarer Dichter bekannt ist, liegt es nahe, alle untersuchten Texte, seien sie nun (wie Mt 6,9b-13) vor oder (wie 16,17-19) während der Komposition des Evangeliums abgefasst, ihm selbst zuzuschreiben.

Im Zentrum des zweiten Hauptteils ("Poetry and the Meaning of the Beatitudes", 175-261) steht sodann eine ausführliche, nach den o. g. vier Paaren gegliederte semantische Analyse von Mt 5,3-10. Die "Sanftmütigen" und "Armen im Geiste", womit gleichermaßen die Armen als reuige Sünder wie - mit einer materiellen Komponente - die Armen als Bedürftige gemeint seien, entfalten als Variationen des hebräischen 'anaw "Demut" in Relation zu anderen Menschen (III) wie zu Gott (I). Zugleich ergibt sich für I durch die doppelte Deutung der Armen zu V ein konverses Verhältnis, das ebenso für III und VII zu registrieren sei. In II seien die angesichts ihrer Sünden Zerknirschten anvisiert, deren Trauer, wie aus 9,14 f. zu erschließen sei, mit Fasten einherging, womit eine Brücke zu IV geschlagen ist. Da G. Q verneint, fällt zugleich die These einer Ethisierung einer Seligpreisung, die ursprünglich die Hungernden im eigentlichen Wortsinn zum Gegenstand hatte. Statt dessen führt G. wie zu den anderen Makarismen eine Reihe von alttestamentlichen Passagen auf (z. B. Ps 36,18 f.LXX; 131,15bLXX; 106,5.9LXX; Am 8,11), die den Evangelisten bei der Formulierung beeinflusst haben sollen. Inhaltlich gehe es sowohl um Hunger im eigentlichen Wortsinn, der Fasten (!) impliziere, als auch um Hunger im übertragenen Sinn. Wiederum wirkt sich G.s Grundsatz aus, dass Gedichte nicht auf nur eine Bedeutung festzulegen sind (176). II und VI stehen nun nicht in einem konversen Verhältnis zueinander, sondern bilden Anfangs- und Endpunkt einer über IV laufenden ansteigenden Linie, wobei die "Reinheit des Herzens" wiederum auf der Basis alttestamentlicher Texte (z. B. Ps 119,1 f.9 f.MT; Dtn 6,5) mit dem Vollkommenheitsgedanken in Beziehung gesetzt wird (vgl. Mt 5,48). VIII sei vor allem an I rückgebunden, und zwar nicht nur durch die Nachsätze, sondern auch durch die Nähe von 'anaw und 'ani als hebräischer Grundlage der Vordersätze in I und VIII, während die Paarbildung mit VI schwächer ausgeprägt, aber gleichwohl vorhanden sei: Die Gott mit ganzem Herzen Liebenden sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. Zieht man zusammen, ergibt sich ein dichtes Netz von Beziehungen (252), in dem I den Ausgangspunkt der ganzen Reihe bildet und VI als eigentlicher Höhepunkt erscheint (G. vergleicht die Funktion beider mit Tonika und Dominante, 253). In der ersten Strophe findet G. "conditions to be reversed" angesprochen, in der zweiten "positive qualities to be rewarded" (255).

Im Schlussteil (263-292) sucht G. zunächst eine abschließende Antwort auf die Frage "Sources or Influences?" zu geben. Dazu präsentiert er zum einen eine Übersicht über die alttestamentlichen Passagen, die als Einflussfaktoren geltend gemacht werden (266 f.); zum anderen soll die Einbeziehung von EvThom 54; Jak 2,5 sowie vor allem Lk 6,20-23 den Nachweis erbringen, dass es im frühen Christentum keinen Hinweis auf die vormt Existenz einer Seligpreisung der Armen und damit auf eine Quelle gibt ("Luke's Beatitudes took shape through reduction and redaction of Matthew's", 283). Abschließend thematisiert G. knapp die dichten Beziehungen der Makarismen zum Rest des Evangeliums (284-292), die er als Indiz wertet, dass die Abfassung des "Gedichts" in den Kontext der Ausarbeitung des Evangeliums einzustellen sei. Zugleich treibt G. die Erhebung des Konstruktionsplans des "Gedichts" noch weiter, indem er die Makarismen der linken Kolumne mit dem Gebot der Nächstenliebe, die der rechten mit dem der Gottesliebe in Beziehung setzt. Dass die rechte Kolumne außerdem thematisch enge Beziehungen zu Ps 119 aufweist, ist Gegenstand von Appendix C ("Psalm 119 and the Beatitudes", 306-308; Appendix B behandelt die Genese von Mt 11, 300-305).

Es ergibt sich ein geschlossenes Bild. Die anfänglich durch formale Beobachtungen begründete Paarbildung wird durch die Erhebung der Bedeutung der einzelnen Makarismen unterstrichen. Die Auslegung ist durch zahlreiche Verweise auf alttestamentliche Bezugstexte als Baumaterial und auf andere Passagen des Evangeliums unterbaut. Dennoch muss man nicht ein dezidierter Verfechter von Q sein, um G.s poetischem Ansatz kritisch gegenüberzustehen. Sollen die Kapitel 3-5 die Plausibilität des Versuches, Mt 5,3-10 als Gedicht zu interpretieren, stützen, so erreichen sie eher das Gegenteil: Sie nähren die Skepsis. Die von G. gefundenen poetischen Elemente erscheinen allzuoft als gesucht (s. insbesondere 28,18-20, wo G.s Präsentation des Textes als Gedicht die textkritische Ausscheidung des Taufbefehls voraussetzt [150-161], 16,17-19 [126-141] und 23,37-39 [141-150]); und das bloße Vorkommen rhetorischer Mittel macht aus einem Text noch kein Gedicht. Im Blick auf die Makarismen weckt schon die strukturelle Differenz zwischen den postulierten konversen Relationen in der linken Kolumne und der aufsteigenden Linie in der rechten erste Zweifel an G.s Analyse. Die Alliteration in der ersten Strophe hat in der zweiten kein Gegenstück. Zur postulierten, aber im Blick auf VI und VIII schon von G. selbst nur zurückhaltend geltend gemachten Paarbildung steht die Beziehung zwischen I und VI quer. Matthäus hat zwar - nach G. - allerlei textinterne Beziehungen geschaffen und dabei noch verschiedene Strukturmuster (Doppelgebot der Liebe in linker und rechter Kolumne, umzukehrende Zustände in der ersten Strophe, "positive qualities" in der zweiten) miteinander verwoben, aber keine formal einheitliche Gestaltung zustande gebracht. Vor allem aber lässt sich auf der semantischen Ebene weder die doppelte Deutung der "Armen im Geiste" auf die reuigen Sünder und die Bedürftigen in I noch der - freilich schon in der altkirchlichen Auslegung vertretene - Bezug von II auf die Trauer über Sünde halten; nur auf ihrer Basis aber "funktionieren" die postulierten Beziehungen innerhalb des "Gedichts".

Die Liste der Anfragen ließe sich leicht verlängern. Kehrt man schließlich zur Quellenfrage zurück, so gilt tatsächlich G.s eigenes Verdikt: "If Q is finally upheld, then my thesis fails" (36). Den Rez. hat der Ansatz von G. nicht überzeugt, dass es zur Zwei-Quellen-Theorie eine bessere Alternative gibt.