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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1045–1047

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Rolf

Titel/Untertitel:

Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf. 1: Kanonische Grundlegung. 2: Thematische Entfaltung.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999/2001. X, 406 S. u. X, 353 S. gr.8. Kart. ¬ 29,90 u. ¬ 24,90. ISBN 3-7887-1661-4 u. 3-7887-1662-2.

Rezensent:

Ernst-Joachim Waschke

Nach Rendtorffs Arbeit zum Pentateuch1, der Einführung in das AT2 und weiteren Arbeiten zur Kanonfrage3 wurde seine Theologie mit Spannung erwartet. Sie liegt jetzt in den zwei Bänden abgeschlossen vor. In drei Teilen versucht R. die Theologie auf dem Hintergrund des Kanons zu entwerfen.

Im ersten Band, dem Teil A (I, 1-383), beschränkt er sich nach einer knappen Einleitung, in der er seine Sichtweise des Kanons darlegt (1-9), darauf, den biblischen Stoff entsprechend dem Aufbau des hebräischen Kanons auf etwas mehr als 370 Seiten nachzuerzählen. Dabei sind den einzelnen Kanonteilen kurze Vorüberlegungen bzw. Einführungen vorangestellt und die Nacherzählung der biblischen Bücher ist zusätzlich durch ausgewählte Schriftzitate untergliedert.

Geht es ihm "beim nacherzählenden Durchgang durch die Bücher der hebräischen Bibel" zunächst darum, "die Vielzahl und Vielfalt der Stimmen hörbar zu machen" (II, 1), versucht er im zweiten Band, in Teil B (II, 1-279), "diese Vielfalt genauer in den Blick zu nehmen". Dabei geht er der Frage nach, "ob und wie die verschiedenen Stimmen zusammenklingen oder ob und worin sie sich nicht zueinander fügen" (II, 1). Dem zweiten Teil dieser Frage wird allerdings nur wenig Raum eingeräumt. Auch bei der thematischen Entfaltung läßt sich R. vom Kanon leiten. In der Abfolge Schöpfung, Bund/Erwählung, Väter Israels, Land, Exodus, Tora (mit dem Zentrum: Dekalog), Kult und Mose sind die entscheidenden Themen des Pentateuchs erfasst, die anders als in Teil A über den gesamten Kanon verfolgt werden. Die Kapitel über das Königtum Davids (einschließlich der "umstrittenen Anfänge" Richter, Samuel, Saul) und über den Zion sind thematisch ebenfalls durch den Kanon linear vorgegeben. Hingegen übergreifen die Themen Gott ("Wie von Gott reden?") und Israel ("Israel im Widerstreit") den gesamten Kanon. Unter der Überschrift "drei Lebensbereiche in der alttestamentlichen Literatur" werden Prophetie, Psalter und Weisheit dem Gesamtaufriss zugeordnet und in knapper Form zur Sprache gebracht (II, 220-234). In den die thematische Übersicht abschließenden Kapiteln wird Israels Verhältnis zu seiner Umwelt, seiner Geschichte und seiner Zukunft dargestellt.

Der zweite Band behandelt in Teil C (II, 280-317) Fragen "zur Hermeneutik einer Theologie des Alten Testaments", untergliedert in "methodologische Überlegungen" und in "jüdische und christliche Theologie der Hebräischen Bibel/des Alten Testaments".

Für diesen "kanonischen Entwurf" einer Theologie des Alten Testaments gibt R. selbst zwei Bezugspunkte an. Den einen bildet die zweibändige Theologie G. von Rads4, den anderen die moderne historisch-kritische Bibelwissenschaft. Mit von Rad glaubt er sich durch den kanonischen und narrativen Ansatz ("Die legitimste Form theologischen Redens vom Alten Testament ist [...] immer noch die Nacherzählung."5) verbunden. Aber anders als von Rad will er die Texte nicht auf einer durch die historisch-kritische Forschung herausgearbeiteten wahrscheinlichen oder vermutlichen, in jedem Fall immer kontrovers diskutierten Überlieferungsebene nacherzählen, sondern ausschließlich auf der Grundlage ihrer Letztgestalt im Kontext des Kanons. Dabei will er "diachrone Aspekte" innerhalb der alttestamentlichen Überlieferung weder bestreiten noch ignorieren. Sie sollen in seiner Darstellung aber nur insoweit zur Geltung kommen, als sie etwas zum besseren Verständnis der Endgestalt der Texte beitragen können. "Eine Rekonstruktion von Vorstufen des jetzigen Textes liegt jedoch grundsätzlich außerhalb der Intention dieser Darstellung" (I, 3), da für R. das durch den Kanon vorgegebene Textgefüge auch immer schon ein entsprechendes Sinngefüge besitzt (vgl. dazu II, 287-296).

Ein solcher Ansatz ist nicht ohne Probleme, da die Einheit von Text- und Sinngefüge a priori durch den Kanon vorausgesetzt wird. Entsprechend problematisch erscheint deshalb auch die Begründung dieses Ansatzes und damit der Anspruch, den R. für eine am Kanon orientierte Theologie erhebt. Die entscheidende Passage soll deswegen bewusst ungekürzt zitiert werden:

"Das vorrangige Interesse an der Letztgestalt der Texte hat nicht zuletzt seinen Grund darin, daß die Texte in dieser Gestalt zur Grundlage des Glaubens, der Lehre und des Lebens der beiden biblischen Glaubensgemeinschaften, der jüdischen und der christlichen, geworden und dies bis zum Beginn der Neuzeit auch geblieben sind. Das Aufkommen der modernen historisch-kritischen Bibelwissenschaft bedeutet hierin einen Traditionsbruch. Dies muß aber nicht das letzte Wort sein. Vielmehr muß die Bibelwissenschaft, unbeschadet der sonstigen Aufgaben, die sie sich im Laufe der Zeit gestellt hat, wieder einen Weg zum Ernstnehmen und zum Verständnis des jetzigen Bibeltextes finden. Mit dieser Aufgabenstellung ist die hier vorgelegte Theologie in einem weiteren Sinne kanonisch, indem sie die Bibel als die grundlegende Urkunde der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaft ernst nimmt." (I, 1 f.)

Am Beginn und am Ende des Abschnittes, also in Form einer Inklusion, wird gesagt, dass "die Bibel" in ihrer Letztgestalt die "Grundlage" und "grundlegende Urkunde der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften" darstellt. Das ist so formuliert nicht richtig. Die Trennung von Juden und Christen vollzog sich - verkürzt gesagt - einerseits auf dem Hintergrund von hebräischem und griechischem Kanon und andererseits durch die frühe Herausbildung einer jeweils verschiedenen zweifachen Grundlegung: schriftliche und mündliche Tora (Hebräische Bibel und Talmud) versus Altes und Neues Testament (vgl. II, 301-310). Auch das bei R. nachklingende sola scriptura der Reformation ist für die Mehrheit der christlichen Kirchen und die verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen ja gerade kein zutreffender Maßstab zur Erfassung ihrer eigentlichen Glaubensgrundlagen. Gerade deshalb fragt man sich, was mit einer solchen Engführung der Kanonfrage geleistet werden soll. Im Mittelpunkt des Abschnittes steht R.s Kritik an der modernen historisch-kritischen Bibelwissenschaft. In der Tat steht deren Aufkommen im Zusammenhang mit dem gravierendsten Traditionsbruch in der Geschichte der Bibelauslegung: Mit der Aufklärung trat neben den "Kontext" des biblischen Kanons der "Kontext" der Vernunft und damit, und dies zunächst nur in Teilen der protestantischen Theologie, die Infragestellung des Inspirationsdogmas. Der Bruch hat sich nicht an der Frage des Kanons, sondern an der Frage vollzogen, in welcher Weise die Bibel als Gotteswort verstanden werden kann. R. jedoch suggeriert, dass die Bibelauslegung bis zur Neuzeit kanonbezogene Textauslegung betrieben habe. Die Forderung einer theologischen, am Kanon orientierten Auslegung biblischer Texte verdankt sich aber erst der historisch-kritischen Forschung selbst und ihrem Diskurs mit anderen neuen Auslegungsmethoden.

Neben dieser grundsätzlichen Kritik bleiben aber noch weitere Fragen offen. So kann man streiten, ob das Grundanliegen der Theologie von Rads mit den Begriffen "Kanon" und "Nacherzählen" ausreichend erfasst ist. Des Weiteren lässt sich dann fragen, ob den Verfassern und Redakteuren die in den biblischen Texten enthaltenen Spannungen wirklich immer bewusst waren. Wenn dies - in einigen Fällen sicher - der Fall ist, bleibt als Weiteres die Frage, ob sie diese Spannung aus Respekt vor der Tradition oder auf Grund eines eigenen theologisch-hermeneutischen Konzepts überliefert haben.

In diesem Zusammenhang bleibt es dann auch missverständlich, wenn R. mit Verweis auf B. S. Childs betont, dass man bis zur Aufklärung kaum Schwierigkeiten hatte, die verschiedenen Schöpfungsberichte von Gen 1 und 2 als Einheit zu verstehen, und er daraus die Frage ableitet, "ob es ein Gewinn für die theologische Auslegung dieser und anderer Texte ist, wenn durch die historisch-kritische Auslegung Schwierigkeiten geschaffen werden, die davor nicht bestanden" (II, 288). Schwierigkeiten und Spannungen in den biblischen Texten waren auch den vorkritischen Auslegungsepochen wohl bewusst, und sie hatten zur Erklärung derselben eigene hermeneutische Regeln formuliert. So bleibt für eine Theologie des Alten Testaments auch heute die Frage, ob diese "Einheit" eine vorgegebene oder eine gestaltete ist. Und wenn sie eine gestaltete ist, dann lässt sich diese "Einheit" nicht ohne Kenntnis der Vorstufen wirklich erfassen. Unabhängig davon hat R. zu Recht den Finger auf die Wunde einer innerhalb der alttestamentlichen Theologie viel zu lange Zeit "stiefmütterlich" behandelten Redaktionsgeschichte gelegt; es hieße aber, "das Kind mit dem Bade auszuschütten", wenn die theologische Wissenschaft in den Methoden wie in der Hermeneutik wieder hinter die Zeit der Aufklärung zurückfallen würde.

Hatte man mit Spannung auf R.s Theologie gewartet, so darf man jetzt mit Spannung der Diskussion um sie entgegensehen.

Fussnoten:

1) Das überlieferungsgeschichtliche Problem des Pentateuch, BZAW 147, 1981.

2) Das Alte Testament. Eine Einführung 1984, 51995.

3) Kanon und Theologie. Vorarbeiten zu einer Theologie des Alten Testaments 1991.

4) Theologie des Alten Testaments, Bd. 1 und 2, 4. Aufl. München 1962/1965.

5) Bd. 1, 134 zitiert bei R., I, 2.