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Ausgabe:

Oktober/2002

Spalte:

1038–1041

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Konkel, Michael

Titel/Untertitel:

Architektonik des Heiligen. Studien zur zweiten Tempelvision Ezechiels (Ez 40-48).

Verlag:

Berlin: Philo 2001. XVI, 398 S. m. zahlr. Tab. sowie 11 Abb. im Anhang. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 129. Geb. ¬ 60,00. ISBN 3-8257-0237-5.

Rezensent:

Rüdiger Liwak

Die von F.-L. Hossfeld betreute Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Ihr Vf. will auf redaktionskritischem und -geschichtlichem Weg die sperrig wirkenden Texte von Ez 40-48 und ihren traditions- und realgeschichtlichen Ort erschließen: "Wie durch die massive Tempelarchitektur das Heilige vom Profanen gesondert wird (vgl. Ez 42,20), um so dem Fremden den Zutritt zum Temenos zu verwehren (vgl. Ez 44,6-9), so wird dem unautoristierten Leser durch die Form der Darstellung der Zugang zum Text verwehrt." (1) Nach Ausweis der "Einleitung" (1-7) wird das durch eine konstruktivistisch begründete Analyse aufgehoben, in der synchrone und diachrone Arbeitsschritte den Textkomplex als sukzessiv entstandene Einheit zu erkennen geben ("Fortschreibungsmodell"). Dabei sollen die seit A. Bertholet als "Verfassungsentwurf" bezeichneten Kapitel von Abwertungstendenzen befreit und ihre Kultbezüge als Auslegung, nicht als Gegenentwurf, zum Pentateuch verständlich gemacht werden: die Tora vom Zion als Aktualisierung der Tora vom Sinai. Im Kontrast dazu steht die Forschung des 19. und 20. Jh.s (8-22), deren wichtigste Vertreter Ez 40-48 zum dekadenztheologischen Wendepunkt für das Gefälle von der Prophetie zum Gesetz erklärten oder aber im Fortschreibungsmodell Prophetie und Gesetz gerecht zu werden versuchten bzw. durch das Postulat einer konsistenten exilischen Gesamtkomposition die Kapitel Ez 40- 48 zum utopischen oder eschatologischen Programm stilisierten.

Vor den Einzelanalysen stellt der Vf. als eine ihrer Konsequenzen die Gestaltung der Gesamtkomposition dar (23-27), die er als Verbindung von linearer (vom neuen Tempel [40,1-42,20] zum neuen Land [47,13-48,35]) und konzentrischer Struktur (Kultvorschriften 43,13-46,24) mit zwei Brückentexten (die Rückkehr des Kabod 43,1-12 und die Tempelquelle 47,1-12) zwischen den drei Hauptteilen versteht. Dass angesichts eines strengen Raumkonzeptes mit Bewegungen von innen nach außen und umgekehrt in der Überschrift vom "ersten Rundgang" die Rede ist, wirkt metaphorisch nicht geglückt, auch wenn es sich um eine terminologische Metaebene handelt. An den ersten schließt sich dann ein ausführlicher "zweiter Rundgang" (28- 224) an, der Ez 40-48 abschnittsweise analysiert.

Bei jedem Abschnitt werden dieselben Arbeitsschritte konsequent ausgeführt. In gebotener Kürze sind zunächst Forschungspositionen skizziert, im Wesentlichen zu Einheit, Ursprünglichkeit und Authentizität des jeweiligen Abschnittes. Eine zum Teil recht ausführliche Diskussion der Textgestalt ist immer der nächste Schritt, bei dem das Verhältnis von Masoretischem Text und Septuaginta im Mittelpunkt steht, wobei in der Regel der Masoretische Text bevorzugt und die Septuaginta auf die Seite interpretatorischer Nacharbeit gezogen wird. Mit der Sicherung des hebräischen Konsonantenbestandes ist die textkonservierende Arbeit aber eigentlich noch nicht getan. Gern wüsste man, wie der Vf. den rekonstruierten und in folgenden Schritten kommentierten Text übersetzt und im Detail versteht. Eine Übersetzung fehlt leider trotz einer ausführlichen Textkritik. In den jeweils folgenden Abschnitten werden die einzelnen Textteile zunächst synchron und dann diachron analysiert, d. h., sie werden zuerst im Blick auf ihre Abgrenzungen begründet und versweise kommentiert und danach "noch einmal entlang der Leitdifferenz älter/jünger abgetastet [...] nach dem Prinzip: in dubio unitate." (6) Bei der diachronen Analyse handelt es sich vorzugsweise um literarkritische Überlegungen, zuweilen werden aber auch schon redaktionskritische Folgerungen erwogen. Als Textsegmente werden bearbeitet: innerhalb des Blocks 40,1-42,20: 40,1-4; 40,5; 40,6-37; 40,38-46; 40,47-41,4; 41,5-15a; 41,15b-26; 42,1-14; 42,15-20; dann der Überleitungstext 43,1-12; innerhalb des Blocks 43,13-46,24: 43,13-27; 44,1-3; 44,4 f.; 44,6-31; 45,1-8; 45,9-46,15; 46,16-18; 46,19-24; dann der Überleitungstext 47,1-12; innerhalb des Blocks 47,13-48,35: 47,13-23; 48,1-29; 48,30-35.

Nach der Analyse folgt die Synthese in Gestalt der Redaktionsgeschichte von Ez 40-48 (225-234) "mit der Absicht, die diachrone Differenzierung so einfach wie möglich zu halten" (225). Kann das als Axiom gelten? Was ist, wenn die Wege redaktioneller Bearbeitungen sich kreuzen, nebeneinander oder labyrinthisch verlaufen oder gar - in sozusagen kongenialer Anlehnung an die Kompositionsstruktur von Ez 40-48 - palindromisch strukturiert sind? Die Voraussetzung der Linearität des (einen) redaktionsgeschichtlichen Weges ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Freilich sollte "das Ziel der redaktionskritischen Hypothese das Verstehen der Endkomposition" (225) sein.

In Auseinandersetzung mit den redaktionellen Modellen von H. Gese und W. Zimmerli und in der Auswertung von vorher isolierten Bausteinen (zusammenfassend 234 f.) rekonstruiert der Vf. ein dreiphasiges Modell, dessen Grundlage er in H. Geses hierarchischer Differenzierung des Kultpersonals sieht (zwei Priesterklassen - Priester und Leviten - zadokidische Priester und Leviten).

Folgende Grundbestände der einzelnen Kompositionsblöcke werden ausgewiesen: Für den neuen Tempel von 40,1-42,20 wird 40,1.3-37.44-46a. 47-49; 41,5-15a; 42,15.20ab.b ausgegrenzt, für die Kultsatzungen 43, 13-46,24 wird als ältester Bestand 44,1-3; 46,1-3.8-10.12 zusammen mit 44,4-7ba [nicht: 7a, so 238, vgl. aber 110 f. und 237] 8-22.25-27 zum Grundbestand gerechnet, für das neue Land 47,13-48,35 gilt 47,13-21; 48,1-10.13-21a. 23-29 als Basis. Nachdem der Vf. die Textreihen in eine relative Chronologie eingeordnet hat, setzt er den Grundbestand der Tempelvision mit dazugehörigem Brückentext 43,1-12 (Rückkehr des Kabod) in seinem ursprünglichen Bestand (43,1 f.4-10) als erste Stufe der Textgeschichte an, so dass er bei Ez 40-48 mit einer Textgrundlage rechnet, der er 40,1.3-37.44-46a.47-49; 41,5-15a; 42,15. 20ab.b; 43,1 f.4-10 zuordnet und von der dann "nicht mehr streng deduktiv" (239) eine erste Fortschreibung (40,2; 43,3a; 44,1-3; 46,1-3. 8-10.12; 47,1-21; 48,1-10.13-21a.23-29) und eine zweite (40,38-43. 46b; 42,1-14; 43,11-27; 44,4-31; 45,1-25; 46,4-7.(11).16-24; 47,22 f.; 48,11 f.) abhebt. Einige Texte bleiben als sozusagen kompositionsneutrale Bestandteile ohne Zuweisung zu den drei Phasen der Textgeschichte (41,15b-26; 42,16-19.20aa, 44,7bb; 44,30b; 45,1; 48,9.13.21b.22; 48, 30-35). Merkwürdigerweise wird der Abschnitt 41,1-4 nicht erfasst. Er müsste nach der Analyse (49-52) zum Grundbestand des neuen Tempels gehören (vgl. 236) und damit zur Grundschicht von Ez 40-48.

Ausgesprochen interessant wird die Darstellung, wenn sie die archäologischen Voraussetzungen und Hintergründe der Textstufen erläutert und sie damit text- und lebensweltlich verortet (244-348). Die Grundschicht zum neuen Tempel ist nach Meinung des Vf.s in der Exilszeit entstanden und hat den Bau des Temenos des zweiten Tempels beeinflusst. Dabei ergeben sich im Blick auf die Quadratform des Temenos und seiner Teile sowie auf die Toranlagen archäologisch Vorbilder der Eisenzeit II C (das Quadrat als Strukturprinzip der Palastarchitektur und Sechskammertore bei der Torarchitektur). Andererseits werden archäologische Vorbilder durch eine neue theologische Programmatik transzendiert (Separierung von Heiligkeitsbereichen und Abbruch der Nachbarschaft von Tempel und Palast). Traditionsgeschichtlich sieht der Verfasser Verbindungen der Grundschicht zur Sinaiüberlieferung, lässt das konkrete Verhältnis aber offen. Ob man allerdings den Entstehungsanstoß für die Gestaltung des neuen Tempelentwurfs in der Begnadigung Jojachims durch Amel-Marduk (562 v. Chr.) sehen sollte, sei dahingestellt.

Die "erste Fortschreibung" (270-286) liest der Vf. auf dem Hintergrund der Übernahme Babylons durch Kyros und im Zusammenhang restaurativer Tendenzen zur Zeit des Hohenpriesters Josua und des Davididen Serubbabel. In dieser Fortschreibung werde die liturgische Ordnung für den nasi' als Davididen der Heilszeit und für den in jener Zeit noch einflussreichen 'am ha'ares festgelegt, paradiesische Fruchtbarkeit heiligtumstheologisch begründet (Tempelquelle und -strom) und ein utopisch wirkendes Landkonzept mit idealen Grenzen entworfen. Erst in diesem Redaktionsprozess entdeckt der Vf. buchgestalterische Aktivitäten durch punktuelle Verbindungen (40,2 und 43,3a) zu anderen Visionsberichten des Ez-Buches. Die "zweite Fortschreibung" (286-348) weise in die nachexilische Zeit, sofern der zweite Tempel vorausgesetzt wird und das Textmaterial traditionsgeschichtlich zwischen späten priesterschriftlichen Texten und dem Heiligkeitsgesetz (intertextuelle Bezüge) einerseits und den Büchern 1. und 2. Chronik andererseits rangiere. Das Charakteristikum dieser letzten Schicht liegt nach Meinung des Vf.s in "Xenophobie" und "zadokidischer Halacha", mit anderen Worten: in der Ausschließung von Fremden aus dem Kultbereich und der hierarchischen Aufteilung des Kultpersonals in Leviten als clerus minor und Zadokiden als alleinige Priesterklasse, die als Träger der zweiten Fortschreibung vermutet werden. Mit diesem Ergebnis lässt sich Ez 40- 48 insgesamt nicht mehr als utopischer Plan lesen und zwischen Deuteronomium und Priesterschrift einordnen.

Der Vf. hat eine beeindruckend geschlossene Darstellung vorgelegt, die im Schlussteil (349-357) die theologie- und religionsgeschichtliche Bedeutung von Ez 40-48 würdigt. Er resümiert, "daß die Unterscheidung an sich das Prinzip der theologischen Systematik von Ez 40-48 darstellt. Die Differenzen rein/unrein, heilig/profan bilden den Typos der Unterscheidung schlechthin" (351). Im Gegensatz zur Priesterschrift und zum Heiligkeitsgesetz ist hier kein Platz für Israel als geheiligtes Volk: "Die Architektonik des Heiligen in Ez 40-48 basiert auf einer zutiefst pessimistischen Anthropologie" (353). Gegen eine verbreitete Meinung versteht der Vf. den Pentateuch nicht als Kompromisswerk zwischen dtn-dtr und priesterlicher Literatur, sondern wegen vieler Leerstellen als "Minimalkonsens". "Indem nun in Ez 40-48 Teile der priesterschriftlichen Texte des Pentateuch ausgelegt, aktualisiert, vereindeutigt und ergänzt werden, wird die Normativität des Pentateuch nicht nur bestätigt. Sie wird durch diese Auslegung generiert" (355). Was schließlich u. a. zum nasi' und zur Ausweisung des Fremden aus dem Kult gesagt wird, führt zu der zugespitzten These, dass Ez 40-48 "Oppositionsliteratur der priesterlichen Eliteklasse gegen die achämenidische Oberhoheit" (356) ist.

Mag man auch an einigen Stellen anderer Meinung sein, so liegt doch insgesamt eine die Forschung anregende und weiterbringende Arbeit vor, die im Anhang (358-365) zwei Exkurse zur Tempelterminologie und zum Fremden aufweist, 11 Abbildungen (366-374) bietet und mit einem Literaturverzeichnis (375-389) sowie einem Stellenregister (390-398) schließt. Das Verdienst der Arbeit liegt vor allem in dem Nachweis, dass mit Ez 40-48 keine randständige und wirklichkeitsferne Literatur vorliegt, sondern eine dezidiert kulttheologische Programmatik angesichts der Kultpraxis des zweiten Tempels. Hervorzuheben ist der behutsame Umgang mit dem Axiom der Intertextualität, das in anderen Arbeiten oft zu rasant die Vorstellung literarischer Abhängigkeiten propagiert (z. B. 202 und 208). Gern hätte man sich eine stärkere Verzahnung der Beobachtungen mit dem Buch Ezechiel insgesamt gewünscht, ein Desiderat, das der Vf. selbst sieht (7).

Wohltuend ist die unprätentiöse Art, in der die Analysen vorgetragen werden. Was dem Vf. nicht erklärbar ist, erzwingt er auch nicht. Methodisch ist die Untersuchung kohärent und nachvollziehbar, auch wenn die erarbeitete Literaturgeschichte recht deutlich von der kurz vorher erschienenen Arbeit von Th. A. Rudnig (Heilig und Profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40-48, BZAW 287, 2000, s. dazu ThLZ 126, 2001, 1256- 1259) abweicht, die der Vf. nicht mehr berücksichtigen konnte. Aufbau, Sprache und didaktische Präsentation der Dissertation sind klar und lebendig, die Schreibfehler - vor allem in Hebräischpassagen - halten sich in Grenzen. Der Rez. hofft, dass der Vf. (für seine Erarbeitung des Verhältnisses von Ez 40-48 zu den priesterlichen Kultbestimmungen der Tora) nicht wie Rabbi Chananja ben Hiskija 300 Fässer Lampenöl brauchte (die Anekdote: 165, Anm. 472). Rabbi Chananja musste eben die Widersprüche des Ezechielbuches zur Tora erklären und rettete damit nach bShab 13b die Kanonizität des Buches. Andere Zeiten, manchmal auch andere Probleme.