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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1016–1018

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rohls, Jan

Titel/Untertitel:

Protestantische Theologie der Neuzeit. II: Das 20. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1997. XIII, 882 S. gr.8. Kart. DM 98,-. ISBN 3-16-146644-6.

Rezensent:

Friedrich Mildenberger

Die Darstellung ist in jeder Hinsicht breit angelegt. Das gilt einmal für den Zeitraum. Rohls greift nicht nur auf die Reformation zurück, sondern behandelt auch Renaissance und Humanismus. Denn er will auch die Vorläufer des mit der Aufklärung beginnenden Neuprotestantismus, - neben Renaissance und Humanismus nennt er hier die heterodoxen Gruppen des Protetantismus, Täufer, Sozinianer und Spiritualisten - mit in seine Darstellung einbebeziehen. Auch wenn das thematische Interesse der Theologie gilt, soll doch das ganze kulturelle Umfeld, insbesondere natürlich die Philosophie, mit berücksichtigt werden. Erst recht will er sich nicht auf das deutsche Sprachgebiet beschränken, sondern zieht vor allem französische, englische und amerikanische, aber auch niederländische und skandinavische Theologie und Philosophie heran. Auch von der katholischen Theologie kann er nicht ganz absehen, auch wenn diese nicht eigentlich Gegenstand der Darstellung sein soll.

Dieser umfangreiche Stoff wird in drei Teilen dargeboten. Der erste Band behandelt zunächst die Voraussetzungen und dann das 19. Jh., der zweite Band umfaßt den Zeitraum von 1890-1990. Man mag sich fragen, ob es eine glückliche Wahl war, in der Untergliederung dann gängigen politischen Einteilungen zu folgen. Aber wahrscheinlich ließen sich nur so die angesammelten Stoffmassen einigermaßen bändigen. Ich nenne die 12 Abschnitte der Untergliederung, um davon einen Eindruck zu geben:

I. Von der Renaissance zur Aufklärung. II. Der Ausgang des Ancien Régime. III. Revolutionszeit und napoleonische Ära. IV. Die Epoche der Restauration. V. Der Vormärz. VI. Zwischen Revolution und Reichsgründung. VII. Die Epoche Bismarcks. VIII. Das Zeitalter des Imperialismus. IX. Die zwanziger Jahre. X. Die nationalsozialistische Ära. XI. Die Nachkriegszeit. XII. Der Ausklang der Nachkriegszeit.

In den einzelnen Abschnitten begint der Vf. jeweils mit einer knappen Darstellung des politischen und kulturellen Hintergrundes. Dann folgen Philosophie und Theologie in Frankreich, Großbritannien, den USA, den Niederlanden und Skandinavien, ehe die deutschsprachige Philosophie und Theologie dargestellt wird. Die hier dann vorgelegte Reihenfolge der Darbietung wird nicht mehr weiter begründet, ist auch nicht immer ganz schlüssig. Doch läßt sich das sicher mit den Schwierigkeiten entschuldigen, einen derart umfangreichen Stoff in eine noch einigermaßen überschaubare Darstellung zu integrieren. R. kommt dem Leser auch damit entgegen, daß er am Rand der Seiten Stichworte und knappste Hinweise zu dem behandelten Stoff gibt, so daß sowohl ein rascher Überblick möglich ist, wie das Auffinden bestimmter einzelner Sachverhalte im Text.

Im einzelnen ist die Arbeit so angelegt, daß vor allem Autorennamen und Buchtitel aufgeführt werden. Diesen folgen dann jeweils mehr oder weniger ausführliche Inhaltsangaben, die damit auch eine Gewichtung verraten. Dabei spielt selbstverständlich auch die Perspektive des Autors eine Rolle. So sehr er einen Gesamtüberblick geben will, so sehr bestimmt doch auch der eigene Ort das Bild mit. So sind die umfangreichsten und informativsten Referate der Kirchlichen Dogmatik Barths und der Systematischen Theologie Pannenbergs gewidmet, während andererseits von vielen Autoren nur Buchtitel genannt werden. Anders ließe sich die Fülle des Materials nicht bewältigen - das Autorenregister nennt 1027 und 897 Namen, und von vielen Autoren werden eine ganze Reihe von Arbeiten genannt oder mit Inhaltsangaben vorgestellt.

In diesem Zusammenhang muß ich freilich auf eine gewisse Schwierigkeit der gewählten Einteilung verweisen: Da die Bücher der einzelnen Autoren mit dem jeweiligen Erscheinungsjahr in das zeitliche Raster eingeordnet werden, müssen einzelne Autoren an mehreren Orten behandelt werden. So gehört Kierkegaard zwar mit seinen meisten Schriften zum Vormärz. Die 1849 und 1850 erschienenen Schriften "Die Krankheit zum Tode" und "Einübung in das Christentum" aber werden 130 Seiten später "Zwischen Revolution und Reichsgründung" aufgeführt. Karl Barth erscheint gar in vier verschiedenen Unterabschnitten. Das macht nicht nur dem Leser Mühe, der sich über einen einzelnen Theologen oder Philosophen informieren möchte, sondern läßt fragen, ob die Einteilung in die aufgeführten Abschnitte überall glücklich gewählt ist und ob sie dem behandelten Thema angemessen ist.

Ich habe freilich nicht nur mit dieser Einteilung meine Schwierigkeiten. Zwar ist es aus Gründen der Arbeits- und Druckvereinfachung verständlich, wenn der Vf. auf genauere Nachweise für das, was er referiert, verzichtet und sich mit dem Hinweis auf das jeweilige Buch begnügt. Doch erschwert er damit dem Leser, die Darbietung nachzuprüfen. Denn dieser muß dann entweder selbst den ganzen referierten Text durchgehen, oder sich darauf verlassen, daß er richtig informiert wurde. Das aber ist nicht nur bei Einzelangaben in einem derartigen ausführlichen Werk nicht durchgehend zu vermuten.

In seinem Vorwort deutet der Vf. an, wie er seine eigene theologiegeschichtliche Arbeit verstanden wissen will. Er verwahrt sich energisch gegen die durch Barth initiierte negative Wertung der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts. Ihm selbst sei an einer Betonung der Kontinuität der Theologie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gelegen. Dabei wird die Bestimmung Barths als "neoorthodox" zustimmend aufgenommen. Gerade darum aber müsse nicht nur die Unterscheidung von Alt- und Neuprotetantismus, wie sie durch Troeltsch eingeführt und in der großen "Geschichte der neueren evangelischen Theologie" Hirschs scharf durchgeführt wurde, festgehalten werden. Vielmehr habe dieser Neuprotestantismus seine Vorläufer, auf die mit zurückgegriffen werden müsse. Sein Werk fühle sich dem Geist der freien Theologie, wie er in der Schweiz am längsten lebendig war, verpflichtet. Diese Tendenz zeigt sich zwar gelegentlich, doch wird sie nicht explizit ausgeführt. Ist sie in Auswahl und Gewichtung der vorgestellten Arbeiten wirksam? Der Vf. begründet diese Auswahl und Gewichtung nirgends. Deshalb wird der kritische Leser hier mit seinen Fragen alleingelassen. Warum wird bei der erklärten Sympathie des Autors für die freie Theologie z. B. Adolf Hilgenfeld nicht erwähnt, der nach dem Ende der Tübinger "Theologischen Jahrbücher" in seiner "Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie" ein halbes Jahrhundert lang den kritischen Theologen von Vatke und Biedermann bis zu Walter Bauer und Lietzmann ein Diskussionsforum bot? Oder: Wer mit der theologischen Szene des letzten Menschenalters einigermaßen vertraut ist, der wird natürlich fragen, warum unter den lutherischen Theologen zwar Graß und Herms aufgeführt werden, Wilfried Joest aber, der doch nicht nur mit seinen systematischen Monographien zu Luther, sondern mit seiner Fundamentaltheologie und mit seiner Dogmatik gewichtige Beiträge zur theologischen Diskussion leistete, nicht berücksichtigt wird. Daß Pannenberg ausführlich dargestellt wird, ist nicht zu beanstanden. Warum aber wird Gerhard Sauter, der doch nicht nur in der wissenschaftstheoretischen Diskussion der frühen siebziger Jahre Kontrahent Pannenbergs war, sondern seither mit einer Reihe von gewichtigen Arbeiten hervortrat, nur eben im Vorspann zu Moltmanns Theologie der Hoffnung mit seiner Arbeit über "Zukunft und Verheißung" angeführt? Warum fehlen die Heidelberger Theologen H. E. Tödt und seine Schüler oder Dietrich Ritschl und der Philosoph Georg Picht? Ist das Zufall, oder werden sie absichtlich übergangen, weil sie nicht auf jenem Weg zu versammeln sind, der letzlich zum Idealismus hinleitetet, und dem die Symphatien des Autors gelten (2, 859).

Diese Überlegungen zu Details der vorgelegten Darstellung führen natürlich weiter zur Frage nach der Möglichkeit und Methodik einer derartigen weit ausgreifenden theologiegeschichtlichen Darstellung. Eine bloße Bestandsaufnahme ist ja weder möglich - dazu gibt es einfach zu viele theologische und philosophische Texte aus dem genannten Zeitraum - noch erforderlich: Wem sollte sie nützen? Wer sich in ein bestimmtes Teilgebiet einarbeiten möchte, der hat ja immer die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren. Wer einen Überblick sucht, würde sich in einem solchen Werk verirren. Darum muß eine solche Geschichte auswählen und Zusammenhänge herausarbeiten. Das sollte dann aber auch explizit geschehen. Dann ist in Zustimmung und Widerspruch zu einer vorgelegten Theologiegeschichte ein Diskurs darüber möglich, wie es angesichts dessen, was gewesen ist, mit der Theologie weiter gehen soll. So sehr das Werk von R. durch die Fülle des verarbeiteten Materials imponiert: Mit diesen Fragen sehe ich mich allein gelassen.