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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

983–985

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kumlehn, Martin

Titel/Untertitel:

Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Kirchentheorie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2000. 296 S. gr.8 = Praktische Theologie und Kultur, 1. Kart. ¬ 42,95. ISBN 3-579-03481-2.

Rezensent:

Martin Weeber

Die Praktische Theologie der Gegenwart ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in weiten Teilen anschickt, die Beschränkung ihres Interesses auf die kirchlichen Erscheinungsformen des Christentums zu überwinden. Es bildet sich damit im veränderten Zuschnitt der Praktischen Theologie die Einsicht in die Mehrdimensionalität des neuzeitlichen Christentums ab. Dieses tritt, um die inzwischen klassisch gewordene Formel Dietrich Rösslers zu zitieren, in dreifacher Gestalt auf: als kirchliches, öffentliches und privates Christentum. Gegenüber einer in ihrer Wahrnehmung auf die binnenkirchliche Religionspraxis beschränkten Spielart der Praktischen Theologie erweitert sich also der Themenbestand der Praktischen Theologie um die Bereiche des öffentlichen und des privaten Christentums. Diese Erweiterung des Aufmerksamkeitshorizontes hat dem in der Praktischen Theologie zu Grunde gelegten Bilde des Christentums wesentliche Facetten hinzugefügt, neue Sichtweisen begründet und vielfältige Forschungsaufgaben erschlossen.

Inzwischen ist nun freilich eine Forschungslage entstanden, in der sich die Frage aufdrängt, worin denn der spezifische und unverzichtbare Beitrag bestehe, den die Kirche zum Aufbau der vielfältig ausdifferenzierten Religionskultur zu leisten vermag. Dieser Frage geht K. in seiner Arbeit nach. Er lässt sich dabei leiten von der Überzeugung, dass nur ein theologisch begründeter Kirchenbegriff zum produktiven Umgang mit der individualisierten und pluralisierten Frömmigkeit der Zeitgenossen in der Lage sei. (17) Solch ein Kirchenbegriff müsste in der Lage sein, die dogmatischen Normbegriffe von Kirche mit den empirischen Faktizitäten gelebter Religion so zu vermitteln, dass den kirchlichen Akteuren die religionsvermittelnde Funktion ihres Handelns einsichtig gemacht werden könnte.

Diese hier nur kurz angedeuteten Zusammenhänge werden von K. im ersten Hauptteil seiner Arbeit ausführlich, geistvoll und kenntnisreich erörtert. K. zeigt sich dabei vor allem den Konzeptionen D. Rösslers, V. Drehsens und W. Gräbs verpflichtet, die er aber auf originelle und selbständige Weise verarbeitet.

Der zweite Hauptteil der Arbeit gilt theologiegeschichtlichen Rekonstruktionen. Zunächst werden in jeweils relativ ausführlicher und stets kundiger Darstellung die Beiträge Schleiermachers, Ph. Marheinekes, C. I. Nitzschs und F. Ehrenfeuchters zur Herausbildung eines spezifisch praktisch-theologischen Kirchenverständnisses erläutert:

Schleiermachers Kirchenverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass es religionstheoretische, kulturtheoretische und genuin theologische Gesichtspunkte und Motive vereinigt zu einer Kirchentheorie, für welche die prinzipielle Anerkennung der Differenz von Religion und Kirche ebenso kennzeichnend ist wie die Herausarbeitung der funktionalen Beziehung zwischen individuellem und institutionalisiertem Christentum. Marheineke unternimmt den Versuch, seine Kirchentheorie aus der internen Logik des christlichen Gottesgedankens zu entwickeln. Diese Kirchentheorie bleibt daher, was ihren Wissenschaftsstatus anlangt, auf charakteristische Weise empiriefern. In inhaltlicher Hinsicht vermag es Marheineke nicht, die Selbständigkeit des Religiösen zur Geltung zu bringen. Sein Kirchenverständnis trägt deutliche staatsintegrative Züge. Nitzsch erhebt die Kirche zum "fundamentalen Reflexionsgegenstand der praktisch-theologischen Theoriebildung". (129) Es gelingt ihm dabei, "den dogmatischen Kirchenbegriff zu entideologisieren, ohne die konstitutive Bedeutung des kirchlich verfaßten Christentums für den allgemeinen Kulturprozeß aus dem Blick geraten zu lassen." (134) Der gelegentlich erhobene Vorwurf einer "kirchlichen Verengung" (144) der Praktischen Theologie bei Nitzsch (G. Otto, H. Luther) trifft im Grundsätzlichen nicht zu. Andererseits lässt sich Nitzsch auch nicht zum Schutzheiligen eines außerkirchlichen Christentums stilisieren. Ehrenfeuchter greift in seinem Kirchenverständnis gleichzeitig auf Schleiermacher zurück und über Nitzsch hinaus, indem er deutlicher als Nitzsch die "ethische Bestimmung der kulturellen Funktion des kirchlichen Christentums" (150) hervorhebt und das Kirchenverständnis religionstheoretisch präziser fundiert.

Für den zweiten Teil seiner theologiegeschichtlichen Rekonstruktionen wählt K. ein anderes Darstellungsverfahren. Hatte er sich im ersten Teil an den bedeutendsten Autoren der praktisch-theologischen Sattelzeit orientiert, so strukturiert er seine Ausführungen nun durch Verschränkung chronologischer und thematischer Gesichtspunkte. Er gliedert die Entwicklungsgeschichte des praktisch-theologischen Kirchenverständnisses von Theodosius Harnack bis Otto Haendler in fünf Phasen, deren jede durch eine dominante Aufmerksamkeitsperspektive charakterisiert ist:

Einer Phase praktisch-theologischer Kirchentheorie "im Zeichen rekonfessionalisierter Theologie" folgen "Reformansätze zur Überwindung des Wirklichkeitsdefizits in der Praktischen Theologie". In den als krisenhaft erfahrenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entwirft sich die praktisch-theologische Kirchentheorie dann einerseits am Leitfaden einer "Kritik des religiösen Individualismus" und andererseits in der Gestalt einer prinzipiellen Kirchen- und Kulturkritik durch die Dialektische Theologie. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich lassen sich Versuche der "Erneuerung einer kulturtheologisch verantworteten Kirchentheorie" namhaft machen.

Ein besonderes Augenmerk legt K. in beiden Teilen seiner theologiegeschichtlichen Darlegung auf die Herausarbeitung der Bedeutung des Reich-Gottes-Gedankens: Dieser sei immer wieder zum Medium differenzierter Entfaltung der gesamtkulturellen Funktionen und Zielsetzungen der kirchlichen Praxis gemacht worden.

Im dritten Hauptteil seiner Arbeit schließlich skizziert K. "Grundzüge einer praktisch-theologischen Kirchentheorie", die sich im Horizont einer subjektivitätstheoretisch aufgeschlüsselten und damit für individuell-biographische Aneignung offenen Rechtfertigungslehre einerseits und eines kulturtheoretisch gedeuteten Reich-Gottes-Gedankens andererseits entfaltet. Die "unverzichtbare Funktion der Kirche für die Religion der Menschen" bestünde der von K. hier entfalteten Kirchentheorie zufolge "in der gesellschaftsöffentlichen Identifizierung der transzendenten Bedingtheit von Selbstsein und Kulturpraxis" (261, Hervorhebung im Original).

K.s Arbeit ist hervorragend geeignet als Einführung in den komplexen Diskussionsstand der praktisch-theologischen Auseinandersetzungen über ein angemessenes Verständnis und eine zukunftsfähige Gestaltung der Kirche im Protestantismus. Zugleich spitzt K. die Diskussion auf den entscheidenden Punkt zu: Es gehe nicht darum, "die dogmatisch-ekklesiologische Perspektive einfach gegen eine empirische, kultur- bzw. sozialwissenschaftliche auszutauschen." (220) Es müsse vielmehr "die mit psychologischen, sozio-empirischen oder phänomenologischen Methoden erfaßte und beschriebene Religionspraxis auch mit Bezug auf bestimmte Deutungskategorien der dogmatischen Tradition interpretiert" (224) werden. Ertragreich werde eine solche Deutung freilich nur, wenn die dogmatischen Kategorien ihrerseits so aufgeschlüsselt und kommunikativ vermittelt werden können, dass sich auch an ihnen die Struktur christlich-religiöser Erfahrung aufweisen lässt, die in der steten Selbstunterscheidung des religiösen Ausdrucks und der religiösen Institution von ihrem transzendenten Grund bestehe (Tillich). K.s Arbeit eröffnet eine von Wilhelm Gräb und Michael Meyer-Blanck herausgegebene Publikationsreihe mit dem ebenso weiten wie anspruchsvollen Titel "Praktische Theologie und Kultur". Man kann dieser Reihe nur wünschen, dass sie mit K.s Arbeit ihre Programmschrift gefunden hat.