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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

981–983

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dütemeyer, Dirk

Titel/Untertitel:

Dem Kirchenaustritt begegnen. Ein kirchenorientiertes Marketingkonzept.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2000. XIX, 311 S. mit Abb. 8 = Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie, 695. Kart. ¬ 45,50. ISBN 3-631-37059-8.

Rezensent:

Matthias Hoof

Der Titel dieses Buches macht neugierig und klingt vielversprechend. Mit seinem Unternehmen, sich der nach wie vor aktuellen Problematik des Kirchenaustritts auf der Grundlage betriebswirtschaftlicher Überlegungen anzunehmen und mittels eines interdisziplinär erarbeiteten Marketingkonzepts zu ihrer partiellen Lösung beizutragen, betritt der Vf. wissenschaftliches Neuland. D.s erklärtes Ziel ist es, der Kirche die Möglichkeit zu bieten, "Mitglieder zum Verbleib in der Kirche anzuregen und bereits ausgetretene Menschen wiederzugewinnen" (19). Sein Konzept basiert auf dem von Heribert Meffert, dem betriebswissenschaftlichen Betreuer des Dissertationsprojektes, entwickelten Managementprozess, dessen fünf Phasen auch die Disposition des Buches bestimmen.

Im ersten Kapitel, das der Analysephase entspricht, nimmt D. eine eingehende Bestandsaufnahme der Kirchenaustrittsproblematik vor. Nach der Begriffsklärung mit theologischem Exkurs 1Kor 12,12-27 über Kirchengliedschaft werden die juristischen, historischen und demoskopischen Aspekte ausführlich behandelt, ehe sich D. gegenwärtigen "kirchlichen Konzepten zur nachgehenden Seelsorge an Ausgetretenen" widmet, deren Vorzüge und Schwachstellen er abschließend aufzeigt.

Auch wenn das Gesamtkonzept auf das kirchenleitende Handeln im Umgang mit distanzierten Mitgliedern und Ausgetretenen zielt, stellt sich aus theologischer Sicht die Frage, warum in der ansonsten gründlichen Analyse eine fundierte kirchentheoretische und praktisch-theologische Auseinandersetzung mit der Kirchenaustrittsthematik ebenso unterbleibt wie deren gesellschaftstheoretische Verortung, obwohl neuere Studien gerade in der Vernachlässigung theologischer und soziologischer Aspekte ein elementares Defizit in der bisherigen theologischen und kirchlichen Wahrnehmung des Problems ausgemacht haben. Dass es neben der von D. implizit vertretenen theologischen Position einer in ihrer Stabilität bedrohten Volkskirche, deren zentrale Aufgabe es bleibt, "den Nutzen der christlichen Lehre für die Lebenswelt eines jeden Menschen [...] zu vermitteln" (253), auch andere theologisch wie soziologisch fundierte Deutungen der Austrittsproblematik gibt, bleibt ebenso unerwähnt wie der seit den 70er Jahren geführte kirchen- und religionssoziologische Diskurs zum Thema.

Bei der "Prognose" (Kap. II.) bedient sich D. des sog. "Heuristischen Prognoseverfahrens" und entwirft zunächst eine negative, dann eine positive Zukunftsperspektive der evangelischen Kirche. Abschließend legt er seine "persönliche Einschätzung der zukünftigen Entwicklung" dar, in welcher er sich eher dem negativen Zukunftsbild anschließt, nicht jedoch ohne die Hoffnung zu äußern, dass durch einen innerkirchlichen Umdenkungsprozess eine wesentlich positivere Entwicklung bewirkt werden könne. Zwar treten hier auch gesellschaftliche Einflussfaktoren in den Blick. Eine spätestens hier erforderliche soziologische Analyse der Problematik aber unterbleibt. Als einzigen Gewährsmann für seine überwiegend spekulativen Prognosen nennt D. den EKD-Ratsvorsitzenden Manfred Kock.

Unter "Zielfestlegung" (Kap. III.) benennt D. die Ziele seines Marketingkonzeptes: Bundesweit 10.000 Austritte aus der evangelischen Kirche weniger und 1.500 Eintritte pro Jahr. Als konkrete Zielgruppen hat er die sog. innerkirchlich Distanzierten und die ausgetretenen Kirchenmitglieder der letzten fünf Jahre im Blick. Besonders im Blick auf die erste Gruppe ergeben sich allerdings Bedenken insbesondere gegen das von D. entworfene "Persönlichkeitsprofil eines kirchenfernen Menschen" (190-194). Den kirchlich Distanzierten schlechthin gibt es gerade nicht, wie neuere religionssoziologische Studien herausgearbeitet haben, denn im Zuge des gesellschaftlichen wie innerkirchlichen Individualisierungsprozesses der letzten Jahrzehnte haben sich nicht nur die Lebenswelten der Menschen, sondern auch ihre religiösen Präferenzen pluralisiert. Auch wollen viele sog. Kirchenferne ganz bewusst in äußerer Distanz zur Kirche bleiben, fühlen sich ihr aber dennoch verbunden, nehmen zum Teil sogar kirchliche Angebote in Anspruch und sind keineswegs austrittswillig. Auch die geschilderten psychologischen Komponenten eines Austritts (197-207) bleiben weitgehend spekulativ, da empirisch nicht belegt.

In der "Operativen Marketingplanung" (Kap. IV.) operationalisiert D. die genannten Ziele unter den Überschriften "Leistungen", "Distribution" und "Kommunikation". Neben einigen durchaus bedenkenswerten Empfehlungen (u. a. freie Wahl des Wiederaufnahmeverfahrens, Berufung von Mitgliederbeauftragten, Einrichtung von Wiedereintrittsstellen, persönliche und schriftliche Kontaktaufnahme zu Ausgetretenen) finden sich hier auch problematische Vorschläge. Die angestrebte generelle und kircheneinheitliche Verweigerung von Amtshandlungen für und an Ausgetretene(n) ist theologisch bedenklich und kann in der Praxis ebenso zu einem der Intention gegenläufigen Reaktanzeffekt führen. Nicht nur realitätsfern, sondern auch im kirchenjuristischen Sinne bedenklich ist die Forderung, die Kirche selbst zur Adressatin von Austrittserklärungen zu machen. Hier wird - durchaus im Bewusstsein der abschreckenden Wirkung dieser Maßnahme (222) - in letzter Konsequenz das im Grundgesetz verankerte Recht auf Religionsfreiheit und negative Vereinigungsfreiheit unterlaufen.

Von daher ergeben sich schließlich auch Bedenken gegen den von D. zwar explizierten, aber nirgends problematisierten terminus technicus "nachgehende Seelsorge", zumal bei dem damit erhobenen Anspruch die auf Seiten der Kirche und ihrer Leitungsgremien erforderliche Bereitschaft zur selbstkritischen Reflexion vernachlässigt zu werden droht. Jeder Austritt beruht letztlich auf einer freien und unbedingt zu respektierenden Willensentscheidung eines Einzelnen. Von daher sind allen strategischen Bemühungen, Austritte zu verhindern und Ausgetretene für einen Wiedereintritt zu gewinnen, die unter der Überschrift "Realisation und Kontrolle" im letzten Kapitel noch einmal skizziert werden, deutliche Grenzen aufgezeigt. Selbst wenn es gelänge, gegen wohlbegründete massive innerkirchliche wie politische Widerstände, die maßgeblichen Elemente dieser Strategie umzusetzen, wofür gegenwärtig allerdings wenig spricht, bliebe es fraglich, ob die ja durchaus überprüfbaren Zielvorgaben erreicht werden könnten.