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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

975–977

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Peschke, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Christliche Ethik. Grundlegungen der Moraltheologie.

Verlag:

Trier: Paulinus 1997. XIII, 425 S. 8. Geb. ¬ 24,60. ISBN 3-7902-0064-6.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Die Christliche Ethik des Moraltheologen Karl-Heinz Peschke erschien zunächst englisch; für die deutsche Fassung wurde das Buch überarbeitet. Das Werk ist an klassischen Themen katholischer Morallehre orientiert und fragt nach dem Wesen der Moral, daher also nach der göttlich fundierten Seinsordnung und einer in Gott als dem Absoluten verankerten Wertlehre (43) sowie nach dem Sitten- und Naturgesetz. Schwerpunktmäßig werden das Gewissensverständnis sowie die Struktur und Bewertung sittlichen Handelns erörtert. Indem teleologisch ein auf Gott gegründetes Ziel von Welt und Geschichte betont wird (43 ff.) - hierin zeigt sich die Rückbindung an Eschatologie sowie an eine letztlich aristotelisch fundierte Metaphysik -, gelangt ein geschichtsdynamisches Denken zum Tragen, das Wandlungen der Moral akzeptiert und sich von einem statisch-essentialistischen Naturrechts- oder Wertbegriff deutlich abhebt. Dies verdient Beachtung, selbst wenn man in außerkatholischer Perspektive die Rückbindung dieser Konzeption an ontologisch-metaphysische Grundlagen und an die Idee einer "Seinsordnung" (126) schwerlich nachvollzieht.

Im Rahmen der von P. entwickelten Sicht gelangen die Willensfreiheit (4), die persönliche Verantwortung und sittliche Kreativitität Einzelner (20), das Anliegen von Charakter- und Gewissensbildung (249 ff.232 ff.) und die Epikie, also ethische Freiheits- und Klugheitsregeln zur Geltung (172 ff.), ebenso wie der ethische Konfliktfall (129) und der ethische Kompromiss (314) Beachtung finden. Im Einklang mit anderen neueren Ansätzen katholischer Moraltheologie und der Thomas-Deutung werden, abgesehen von den ganz allgemeinen Naturrechtsprinzipien ("Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden"), konkretere sittliche Normen als sekundäres Naturrecht betrachtet, welches gerade nicht überzeitlich gültig, sondern revidierbar und wandelbar ist (120 f.). Dies wird dadurch noch illustriert, dass das Buch historische Irrtümer oder sachliche Fehleinschätzungen innerhalb der katholischen kirchlichen Lehrbildung erwähnt. Hierdurch untermauert es die Einsicht in die Notwendigkeit der Revidierbarkeit sowie Fortschreibung von Normen. Z. B. wurde 1452 in der Bulle Dum diversas die Versklavung von Heiden für erlaubt erklärt; die Bulle Veritas ipse Pauls III. korrigierte dies im Jahr 1537. Im 19. Jh. und sogar noch später hat die katholische Kirche die Religions-, Gewissens-, Meinungs- oder Pressefreiheit schroff verworfen. Von Interesse ist P.s Hinweis darauf, dass die katholische Kirche in den 50er Jahren des 20. Jh.s Organspenden zu Gunsten Dritter ablehnte, und zwar auf Grund des Verbotes der Selbstverstümmelung (123, Anm. 1; 304 f.). Dieses Verbot galt absolut. Dass die katholische Kirche dieses Verbot revidierte und Organtransplantationen nun befürwortet, bildet einen instruktiven Beleg für den Sachverhalt, dass auch auf katholischer Seite als absolut erklärte Normen faktisch dann doch zur Disposition gestellt, relativiert und abgewandelt werden. Es ist nur konsequent, dass - wie P. erwähnt - Autoren der katholischen Moraltheologie selbst die Theorie absolut böser und unerlaubter Handlungen inzwischen in Frage stellen (284.313).

Detailliert und informativ sind die Darlegungen des Buches über Wertvorzugsregeln, Regeln der Güter- oder Übelabwägung (293 ff.), über das Prinzip der Doppelwirkung (299 ff.) oder über die Frage der Mitwirkung am unrechten, unerlaubten Handeln anderer (310 ff.). Zu Letzterem wird moraltheologischer Tradition gemäß zwischen formaler, auf eigener Gesinnung beruhender, und materialer, äußerlich bleibender cooperatio unterschieden; letztere hat den Sinn, dass durch die eigene Beteiligung an einem Tun ein noch größeres Übel vermieden wird. Auch das Anraten einer "geringeren Sünde" kann dann statthaft werden (313 f.).

Vor diesem Hintergrund und um der konkret Betroffenen willen votierte das - 1997 erschienene - Buch übrigens für die Teilnahme christlicher Sozialdienste an der Schwangerschaftskonfliktberatung (317). Damit befürwortete es wie andere Moraltheologen und die Mehrheit der deutschen katholischen Bischöfe jene Position der Beteiligung der katholischen Kirche am deutschen gesetzlichen System der Schwangerschaftskonfliktberatung, die der Vatikan 1998/1999 unterbunden hat. Inzwischen ist der Ausstieg der deutschen katholischen Kirche aus dem gesetzlichen Beratungssystem durchweg vollzogen - und dies, obwohl die Lehre von der materialen Mitwirkung in der katholischen Moraltheologie stark verankert und sie moraltheoretisch gut begründbar ist. Was den Schwangerschaftsabbruch anbelangt, so hat der Vatikan 1995 in der Enzyklika Evangelium vitae offensichtlich sogar eine Auffassung formuliert, die sogar die medizinische Indikation - in der katholischen Diskussion: die therapeutische Abtreibung (Lebensrettung der Mutter durch Abtreibung eines Kindes) - verneint (vgl. 306, bes. Anm. 1).

Doch nicht nur das katholische Lehramt fordert - offenbar wieder vermehrt - absolute moralische Verbote ein, die sehr problematisch sind. Im Jahr 2001 haben bei den öffentlichen Auseinandersetzungen über Embryonenschutz, embryonale Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik in erstaunlichem Maß auch Stimmen außerhalb der katholischen Kirche, Medien und Politiker die Kategorie des moralisch Absoluten bzw. des absolut Verbotenen aufgegriffen und popularisiert. In Bezug auf absolute moralische Normen oder Verbote sind die Klärungen, Bedenken und Einwände, die P.s Buch darstellt oder wiedergibt (z. B. 303 ff.), lesenswert.

Das vorliegende Buch ermöglicht es zugleich, sich auf der Grundsatzebene Standpunkte und Argumente der katholischen Morallehre zu vergegenwärtigen. Neben ethischen Weisungen der Bibel, historischen Lehrentwicklungen und der amtlichen kirchlichen Lehre gilt die Vernunft als Grundlage katholischer Ethik (8 f.), so dass auf die allgemeinmenschliche Universalität und Einheit der Moral abgehoben und eine materiale Differenz zwischen christlicher und "natürlicher" Ethik verneint wird (98. 116); auch das kirchliche Lehramt sei der Vernunft verpflichtet (230 f.). Nun braucht hier nicht betont zu werden, dass im Kirchen-, Amts- sowie Lehrverständnis zwischen katholischer und nichtkatholischer Ethik gravierende, unüberbrückbare Differenzen bestehen. Andere Aspekte des Buches, darunter die Aufarbeitung des Pluralismus in Gesellschaft und Staat der Gegenwart und die Betonung der Notwendigkeit des ethischen Kompromisses, z. B. bei demokratischen parlamentarischen Abstimmungen (226 f.313.314 ff.), oder die Reflexionen über Güterabwägungen, über ethisch zulässige Ausnahmen und über Vorzugsregeln sind erhellend und regen zum Diskurs über heute adäquate Argumentationen und Methoden der Ethik an.