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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

973–975

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller, Wolfgang Erich

Titel/Untertitel:

Evangelische Ethik.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 192 S. gr.8. Kart. ¬ 19,90. ISBN 3-534-14166-0.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Wolfgang Erich Müllers "Evangelische Ethik" gehört in die von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft veröffentlichte Reihe der "Einführungen" in die Einzeldisziplinen evangelischer und katholischer Theologie und ist daher als evangelisches Seitenstück zu Franz Furgers "Einführung in die Moraltheologie" (Darmstadt 21997) zu lesen. Abgesehen von dieser vordergründigen Rechtfertigung des Titels stellt sich die grundsätzliche Frage, ob und inwiefern es eine spezifisch evangelische Ethik tatsächlich gibt.

M. versucht, hierauf eine Antwort zu geben. Auf knappem Raum, den die Reihe vorschreibt, bietet er nicht nur erste Sachinformationen, sondern auch einen eigenständigen Entwurf evangelischer Ethik, der sich an den Leitbegriffen der Liebe ("Grund der Ethik"), der Freiheit ("Ermöglichung eigenen Lebens in der Kultur") und der Gerechtigkeit ("Gestaltung eines humanen Miteinander") orientiert. Durch diese drei Begriffe soll eine Ethik aus dem Geist der Rechtfertigungslehre umrissen werden, die zugleich "die Anschlußfähigkeit evangelischer Ethik an die heutige philosophisch-ethische Debatte" (8) unter Beweis stellt.

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil (13- 21), in welchem zunächst einige Grundbegriffe der Ethik eingeführt werden, kreist vor allem um Begründungsprobleme einer modernen Ethik im Allgemeinen wie um diejenigen einer theologischen Ethik unter den Bedingungen des modernen Pluralismus im Besonderen. Nach B. Taureck befindet sich die theologische Ethik im Dilemma zwischen Redundanz oder Destruktivität (15), nach E. Tugendhat als traditionalistische Moral im Gegensatz zu einer modernen Moral (18 ff.). M. zieht allerdings in Zweifel, dass Tugendhats Sichtweise religiöser Moral "wirklich das Anliegen ihrer evangelischen Ausprägung trifft" (21).

Zur Begründung werden im zweiten Hauptteil (21-79) ältere und neuere Ansätze evangelischer Ethik von Luther bis T. Rendtorff vorgestellt. Für die Reformation kommen Luther und Calvin zu Wort, für die Wende vom 18. zum 19. Jh. Schleiermacher, für das 20. Jh. W. Herrmann, K. Barth, D. Bonhoeffer, H. Thielicke, A. Rich, W. Trillhaas und T. Rendtorff. Die Darstellung ist notgedrungen knapp, aber durchaus informativ.

Bisweilen fehlen für Studierende jedoch genauere Informationen zur theologiegeschichtlichen Einordnung und zur Person des Autors, z. B. bei A. Rich oder W. Trillhaas. Dass Barth Schüler von W. Herrmann war, bleibt ebenso unerwähnt wie die Bewegung der Dialektischen Theologie, ohne die doch auch Bonhoeffer nicht zu verstehen ist.

Anhand der genannten Autoren stellt M. eine Typologie von drei Hauptlinien evangelischer Ethik auf: "eine, die sich allgemeiner Ethik vermitteln kann" (Luther, Schleiermacher, Herrmann, Trillhaas, Rendtorff), "eine zweite, die exklusiv theologisch argumentiert" (Calvin, Barth, Bonhoeffer), und schließ- lich "eine dritte, die Ethik im eschatologischen Bezug sieht" (Rich, Thielicke). Wie stichhaltig die Konstruktion dieser Traditionslinien ist, wäre im Einzelnen zu diskutieren. M. jedenfalls ordnet seinen Ansatz der erstgenannten zu. Von Rendtorff lässt er sich auch bei der Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik leiten (77 ff.). Nur die Ansätze der ersten Gruppe hielten dem Vorwurf der Destruktivität und - zumindest "intentional" - auch demjenigen der Redundanz stand (77). Heißt dies nun, dass die philosophische Kritik die gute Absicht des Theologen schon für die Tat nehmen soll? Wie also steht es um die Durchführung von M.s Intention?

Sein eigenes Verständnis einer dezidiert evangelischen Ethik entfaltet M. im dritten Hauptabschnitt (80-151), erstaunlicherweise aber ohne jeden Bezug zur ökumenischen Diskussionslage. M. führt das Gespräch nicht mit der heutigen katholischen Moraltheologie, sondern nur mit der Philosophie. Die Anschlussfähigkeit theologischer an philosophische Ethik wird "interpretationsphilosophisch" (80 f.) begründet. Die grundlegenden Kategorien der Liebe, der Freiheit und der Gerechtigkeit - letztere konkretisiert M. am Beispiel der Wirtschaftsethik (132 ff.) - werden zunächst philosophisch entfaltet, um dann eine theologische Deutung für die philosophisch beschriebenen Sachverhalte anzubieten. Hier kommen biblische Texte und Traditionen ins Spiel. Abgesehen davon, dass bei diesem Verfahren die theologische Ethik in Abhängigkeit von den ausführlich referierten philosophischen Einzelpositionen zu geraten droht, stellt sich die Frage nach den Kriterien für ihre Auswahl.

Evangelische Ethik erscheint bei M. "als Konkretisierung des philosophisch gemeinten" (98). Auch wenn sie "von der Voraussetzung Gottes" (77) ausgeht und als ihr entscheidendes Kriterium die Geschöpflichkeit nennt (150), wird sie nicht müde, der Philosophie zu versichern, sie respektiere den modernen Pluralismus und wolle gewiss niemanden bevormunden. Dafür erwartet evangelische Ethik nun aber im Gegenzug das Wohlwollen, "in einer säkular bestimmten Welt auch nicht zurückgewiesen zu werden, wenn sie die Bedingungen einer plausiblen und sinnvollen Interpretation der Lebenszusammenhänge erfüllt und anderen vermittelbar ist" (147). Ob ihr die Philosophie diesen Gefallen tun wird, sei dahingestellt, zumal letztendlich vom Beitrag evangelischer Ethik die Grundlegung einer "Hermeneutik des Anderen" abhängig gemacht wird, an welcher sich "das Schicksal der Weltgesellschaft" entscheide (151). Bricht zum Schluss also doch der theologische Letztbegründungsanspruch durch, dem abgeschworen werden sollte?

Abgerundet wird das Lehrbuch durch eine 264 Titel umfassende und nach Rubriken gegliederte Bibliographie. So gibt es die Möglichkeit, die dargelegten Positionen selbst zu erarbeiten. In der Einleitung (9 ff.) werden auch einschlägige Lehrbücher für das vertiefende Studium der Ethik aufgeführt, die dieses Buch sicher nicht ersetzen kann und will. Was es aber bietet, ist eine erste Orientierung und Wegweisung.