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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

971–973

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kuschel, Karl-Josef, Pinzani, Alessandro, u. Martin Zillinger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ein Ethos für eine Welt? Globalisierung als ethische Herausforderung.

Verlag:

Frankfurt-New York: Campus 1999. 406 S. 8. ISBN 3-593-36331-3.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Die Globalisierung stellt nicht nur einen ökonomischen, sozial- und entwicklungspolitischen, sondern ebenfalls einen religiös-weltanschaulichen, den interkulturellen und interreligiösen Dialog betreffenden Einschnitt dar. Hierauf suchten das "Projekt Weltethos", das sich mit dem Namen von Hans Küng verbindet, aber auch eine von Politikern getragene Bemühung zu reagieren: Der Inter Action Council, eine Vereinigung von mehr als zwanzig früheren Staats- und Regierungschefs - darunter der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, Jimmy Carter und Michail Gorbatschow - schlug 1997 vor, die Vereinten Nationen sollten aus Anlass der 50-jährigen Wiederkehr der Menschenrechtserklärung von 1948 nunmehr auch eine "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" proklamieren. Hierzu wurde ein Moralkodex entworfen, der der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 spiegelbildlich entsprach. Der Entwurf forderte verschiedenste Pflichten der Humanität, der Achtung vor dem Leben, der Gerechtigkeit, der individuellen Wahrhaftigkeit, der Toleranz und Nichtdiskriminierung oder der Partnerschaftlichkeit in der Ehe ein.

Der hier zu rezensierende Sammelband nimmt auf das Projekt Weltethos und die Ideen des Inter Action Council Bezug. Der Band geht auf einen in Tübingen auf Initiative von Studierenden veranstalteten internationalen Kongress zurück, der unter der Schirmherrschaft der UNESCO und von Helmut Schmidt stand (405). Der Beitrag von Hans Küng erläutert das Vorhaben einer Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten. Es dürfe nicht in Vergessenheit geraten, dass Menschen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten bzw. moralische Verantwortlichkeiten haben. Durch eine Proklamation von Menschenpflichten seitens der UNO solle dies weltweit ins Bewusstsein gerückt werden. Im Einklang mit Äußerungen von Helmut Schmidt, der die Menschenpflichtenerklärung politisch promulgierte, formuliert Küng: "Keine Rechte ohne Verantwortlichkeiten!" (32) "Wir leben weitgehend in einer Gesellschaft, in der einzelne Gruppen allzu oft auf ihren Rechten gegen die anderen bestehen, ohne ihre eigenen Verantwortlichkeiten anzuerkennen" (33).

Inzwischen hat sich gezeigt, dass das Bemühen, eine internationale Proklamation von Menschenpflichten zu erreichen, gescheitert ist. Gegen dieses Vorhaben sind freilich in der Tat ganz erhebliche Bedenken geltend zu machen. Hintergründig war - besonders in Voten von Helmut Schmidt selbst - eine zu undifferenzierte These über den generellen Werteverfall in der säkularisierten westlichen Gesellschaft leitend. Vor allem ist es hochproblematisch, wenn Staaten oder die Staatengemeinschaft mo- ralische Bürgerpflichten deklarieren und diese damit für quasi verbindlich erklären, darunter die Pflicht, "fair" oder "fleißig" zu sein oder die Wahrheit zu sagen (Art. 8, 10, 12 des Entwurfs der Menschenpflichtenerklärung). Auf diese Weise könnte - zumal in manchen fernöstlichen oder in islamisch fundamentalistischen Staaten, die die individuellen Menschenrechte ohnehin nicht hinreichend achten - gar ein Sog befördert werden, die Gewährung von Menschenrechten als individuellen Schutzrechten davon abhängig zu machen, dass die Einzelnen erst einmal staatlich deklarierte Pflichten erfüllen. Dieser Einwand wurde durch Voten Helmut Schmidts aus den Jahren 1997/1998 nicht ausgeräumt. Auch Hans Küng bleibt zu schillernd in der Fragestellung (34 f.), ob eine internationale Proklamation von Menschenpflichten nur als bloßer moralischer Appell gelten solle oder ob bzw. inwiefern sie als bindende Rechtsverpflichtung für die Bürger zu verstehen sei. Das Letztere wäre, wie gesagt, sozialethisch und rechtspolitisch äußerst problematisch.

Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen ist das Anliegen des vorliegenden Buches, nämlich das Bemühen um friedliche Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und Religionen, nur zu unterstreichen. Das gilt nach dem 11. September 2001, dem fundamentalistisch bedingten Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA, noch verstärkt. Der katholische Theologe und Vizepräsident der Stiftung Weltethos, Karl-Josef Kuschel, macht in seinem Beitrag zu Recht darauf aufmerksam, dass derzeit die soziokulturelle Relevanz von Religion keineswegs abnimmt, sondern im Gegenteil angesichts der Globalisierung vermehrt Bemühungen um interreligiösen Dialog vonnöten sind (122). Dem Christentum verlangt er die Revision der traditionellen "aggressiven Missionstheologie" ab (132). Zur Stützung seines Plädoyers für den interreligiösen Dialog beruft er sich auf das II. Vatikanum, das die Menschenrechte aller anerkannte und auch in nichtchristlichen Religionen zumindest Strahlen der Wahrheit wahrnahm (131). Man fragt sich allerdings - zumal im Licht der vatikanischen Erklärung Dominus Iesus vom 6. August 2000 -, ob diese katholische Position nicht doch der traditionellen asymmetrisch-hierarchischen Verhältnisbestimmung von Christentum und nichtchristlichen Religionen allzu sehr verhaftet bleibt, so dass zu einem authentischen, wechselseitige Lernbereitschaft einschließenden Dialog letztlich doch nicht vorgedrungen wird. Wegweisend sind allerdings konkrete Gesichtspunkte Kuschels: etwa der Gedanke, dass - in der Hoffnung auf interkulturelle Ausstrahlung und Beispielhaftigkeit für andere - das jeweils eigene Land und die eigene Religion im Umgang mit kulturellen und religiösen Minderheiten bewusst vorbildlich sein soll, oder die Vorstellung, dass sich die Religionen auf eine gemeinsame Appellationsinstanz für diskriminierte Minderheiten und auf interreligiöse Organisationen einigen sollten (128).

Insgesamt erörtern die Beiträge des Buches die Globalisierung in unterschiedlichen Perspektiven: 1) philosophisch-ethisch: z.B. Michael Walzer oder Karl-Otto Apel mit einem Artikel, der Grundideen der Diskursethik verdeutlicht und berechtigte Kritik an kommunitaristischen Engführungen übt; 2) rechtsethisch: z. B. Otfried Höffe zur Idee einer föderalen Weltrepublik; Mireille Delmas-Marty, Paris; Véronique Zanetti, Fribourg, zum Thema humanitärer Interventionen, die präventiv und auch nichtmilitärisch verstanden werden. Hierbei werden - ein nachdenkenswerter Gesichtspunkt - präventive humanitäre Interventionen nicht mehr mit Hilfe eines Interventionsrechtes von Staaten, sondern auf der Basis von Schutzansprüchen bedrohter Individuen begründet (212); 3) ökonomisch und entwicklungspolitisch: z. B. Klaus M. Leisinger, Basel; Manfred Gentz von Daimler/Chrysler; Ade T. Ojo, Lagos.

In einem Sammelband bleibt es nicht aus, dass gewichtige Einzelthemen nicht vertieft werden können. Dies gilt etwa für die Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). NGOs haben international in beeindruckender Weise humanitäre Impulse gesetzt, etwa im weltweiten Kampf gegen Kinderprostitution und Kindesmissbrauch. Gleichwohl stellen sich Anfragen zur demokratischen Legitimierung von NGOs oder zur möglichen Instrumentalisierung durch Dritte (Dirk Messner, 232-262). Sodann: Wenn man an den Rückstand afrikanischer Länder in Bezug auf Internet und elektronische Kommunikation denkt, treten die entwicklungspolitischen Schattenseiten des globalen technologischen Fortschritts bedrückend zu Tage. Die Entwicklungspolitik und die Belange derer, die die Verlierer der Globalisierung sind (vgl. A. T. Ojo, 379 ff.), hätten in dem vorliegenden Band noch höhere Beachtung verdient. Dies gilt auch für die Frage nach wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten angesichts der Globalisierung.

Insgesamt setzt der Band aber auf jeden Fall einen sehr beachtlichen Impuls dahingehend, ethische, kulturelle und interreligiöse Konsequenzen der Globalisierung hierzulande nicht zu verdrängen.