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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

970 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut u. Hans-Jürgen Kaatsch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenwürde, Medizin und Bioethik. Heutige Fragen medizinischer und ökologischer Ethik.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 220 S. mit 4 Abb. 8 = Ethik interdisziplinär, 1. Kart. ¬ 17,90. ISBN 3-8258-4912-0.

Rezensent:

Christian Schwarke

Seit einigen Jahren wird es immer deutlicher, dass die gesamte Wissenschaftslandschaft einer stärkeren Interdisziplinarität bedarf, wenn sie die anstehenden Probleme bewältigen will. Was allerdings von Wissenschaftsorganisationen und Hochschulentwicklungskommissionen vollmundig gefordert wird, erweist sich im Detail als schwierig. Wirkliche Interdisziplinarität entsteht dort, wo Wissenschaftler über einen längeren Zeitraum gemeinsam arbeiten und dabei einen gemeinsamen Verständigungshorizont schaffen. Solche Prozesse bedürfen freilich institutioneller Rahmen, wie sie neben anderen das Zentrum für Ethik an der Universität Kiel darstellt, das von Hartmut Kreß (Sozialethik) und Hans-Jürgen Kaatsch (Rechtsmedizin) ins Leben gerufen wurde.

Der vorliegende Sammelband stellt den ersten Band der Reihe "Ethik interdisziplinär" dar, die das Zentrum herausgibt.

In einem ersten Teil werden Probleme der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion behandelt. Kreß widmet sich differenziert der Frage nach der "Menschenwürde vor der Geburt" und den konkreten Problemen der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzellenforschung. Indem er die Konfliktlage in einen historischen und interkulturellen Rahmen stellt, zeigt er die Vielfältigkeit der Sichtweisen und die in jeder Hinsicht unterschiedlichen Folgewirkungen der modernen Medizin auf.

Michael Ludwig und Klaus Diedrich - die Protagonisten der Präimplantationsdiagnostik in Lübeck - fassen Stand und Perspektiven der Technik aus medizinischer Sicht zusammen. Jean-Pierre Wils zeigt in seinem Beitrag zur Stammzellen-Transplantation aus Nabelschnurblut, wie tief man als Ethiker in die naturwissenschaftliche Materie einsteigen kann - und muss, wenn man mit dem Anspruch auf Gehör mitreden will.

Brigitte Schlegelberger und Dieter Harms reflektieren aus ärztlicher Sicht Fragen der prädiktiven Gendiagnostik und des Registers für Tumorerkrankungen bei Kindern.

Der Bochumer Medizinethiker Hans-Martin Sass führt anhand der Diskussion um Patientenverfügungen seinen Ansatz vor, ethische Fragen in Anlehnung an medizinische Vorgehensweisen zu lösen. So soll die Autonomie der Patienten durch eine "Wertanamnese" erhärtet werden. Die letzten vier Beiträge dieses medizinethischen Teils behandeln Probleme der Transplantationsmedizin: Gerechtigkeit bei der Organverteilung (Hans-Jürgen Kaatsch), Probleme der Lebendspende von Organen (Jochem Hoyer; Doris Henne-Bruns), Xenotransplantation (Dietrich von Engelhardt).

Der zweite Teil versammelt unter der Überschrift "Natur-Energie-Technik in ethischer Perspektive" Beiträge zu sehr unterschiedlichen Themen:

Frank Surall diskutiert die potentielle Relativierung der Menschenwürde, wenn man Tieren eine parallele Würde zuschreibt. Claus Günzler fragt, wie sich von Menschenwürde sprechen lässt, wenn man sich die kosmische Randständigkeit der Hominiden vor Augen führt. Günzler, der auch Mitherausgeber der Schriften A. Schweitzers im Münchener Beck-Verlag ist, und Surall beziehen sich in ihrer Argumentation auf A. Schweitzer. Dabei arbeiten sie überzeugend heraus, wie weit entfernt Schweitzer von der Ökoromantik war, für die er lange Zeit vereinnahmt wurde. Schweitzer entfaltete seine Ethik gerade im Bewusstsein der Ambivalenz irdischen Lebens und der offenkundigen Unbekümmertheit der Natur um alles, was Menschen mit ethischer Reflexion zu gestalten versuchen. In der Koppelung von moralischem Anspruch und nüchternem Realismus im Blick auf die Bedingungen ökologischen Handelns liegt die Herausforderung Schweitzers.

Zwei andere Gewährsmänner wählt der ehemalige Bundesbildungsminister Volker Hauff zur Fortschreibung des Prinzips der "Nachhaltigkeit". Hauff schließt Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung" mit Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung" zusammen, um so den notwendigen Optimismus in der Motivation zum Handeln mit der Vorsicht im Blick auf die Folgen dieses Handelns zu verbinden. Holger Krawinkel und Hans Langmaack behandeln schließlich das Feld der erneuerbaren Energien bzw. der informationstechnischen Systeme im Blick auf ihre Folgen.

Über die Einzelinformationen der Beiträge hinaus, gewinnen interessierte Leser und Leserinnen in diesem Band einen Eindruck von der Unterschiedlichkeit der möglichen Zugangsweisen zu den ethischen Fragen der Gegenwart in Medizin, Ethik und Politik. Damit leistet der Band einen Beitrag zu der notwendigen Entstehung einer Kultur echter Interdisziplinarität, die bislang kaum in Umrissen erkennbar ist.