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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

962–964

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Voegelin, Eric

Titel/Untertitel:

Evangelium und Kultur. Das Evangelium als Antwort. Mit einem Vorwort von W. Pannenberg. Aus dem Engl. u. mit einem Nachwort von H. Winterholler.

Verlag:

München: Fink 1997. 123 S. 8 = Periagoge. Kart. ¬ 23,20. ISBN 3-7705-3137-X.

Rezensent:

Gunther Wenz

Politische Ordnung ist gesellschaftlich repräsentierte Transzendenzerfahrung. Wie wenige Denker der Moderne hat der Philosoph und Politologe Eric Voegelin (1901-1985) die elementare Relevanz der Religion für die Konstitution des Gemeinwesens und der öffentlichen Lebensordnungen hervorgehoben und zum Gegenstand eingehender Studien gemacht. Um nur einige Werke des anfangs (1935) in Wien, nach seiner Emigration (1938) an der Louisiana State University in Baton Rouge (1942), sodann in München (1958) und schließlich an der Hoover Institution in Stanford (1969) wirkenden Gelehrten zu benennen: Die politischen Religionen, 1938; The New Science of Politics, 1952, dt. 1959; Order and History, 5 Bde., 1956- 1987; Anamnesis, 1966; Science, Politics and Gnosticism, 1968; Ordnung, Bewusstsein, Geschichte, 1988; Das Volk Gottes, 1994 (vgl. insgesamt The Collected Works of E. V., hrsg. v. P. Caringella u. a., 1990 ff.).

Der Vortrag "Gospel and Culture" von 1971, dessen deutsche Übersetzung im vorliegenden Band zusammen mit einer Studie zu Existenztypen im Neuen Testament (67-72) und einem das Studium der frühen Christentumsgeschichte betreffenden Brief V.s an Alfred Schütz vom 1. Januar 1953 (73-86) erstmals publiziert worden ist (13-65), gehört in den Kontext von "Order and History", näherhin in eine späte Planungsphase des monumentalen und mehrfach umorganisierten Werkes.

Inhaltlich dokumentiert der Text V.s intensive Beschäftigung mit der soziokulturellen Bedeutung des frühen Christentums. Im Vergleich mit der klassischen Philosophie der Antike soll das komplexe frühchristliche Symbolsystem samt der ihm zu Grunde liegenden spezifischen Transzendenzerfahrung erhoben und auf seine politischen Implikationen hin befragt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Verhältnis von antikem Kosmosdenken und inkarnatorischem Geschichtsverständnis im Christentum geschenkt. Dieses Verhältnis ist keineswegs durch einen Gegensatz bestimmt; es ist im Gegenteil so, dass die Kulturwirkung des frühen Christentums ohne die enge Verbindung von Glaube und philosophischer Weltvernunft nicht zu begreifen ist. Indes hängt die christliche Kulturwirkung ebenso eindeutig mit der vollzogenen Aufhebung antiker Kosmosorientierung in eine geschichtliche Denkungsart zusammen, die von der Wahrnehmung realer Präsenz des unsichtbaren Gottes in der individuellen Leibhaftigkeit eines konkreten Lebens, kurzum: von der Annahme göttlicher Inkarnation in Jesus Christus, geprägt ist: "Die Stärke des Evangeliums ist die Konzentration auf den entscheidenden Punkt: dass die Wahrheit der Realität ihr Zentrum nicht im Kosmos in seiner Gesamtheit hat, nicht in der Natur, der Gesellschaft oder imperialer Herrschaft, sondern in der Gegenwart des Unbekannten Gottes in einem Menschen, der auf seinen Tod und sein Leben hin existiert." (63)

Mit der Umsetzung kosmischer in anthropologisch konzentrierte und geschichtlich orientierte Frömmigkeit und Philosophie, die er als Stärke des Christentums würdigt, sieht V. indes zugleich eine Ambivalenz und eine Gefahr gegeben, wie sie in der christlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts akut geworden sei, als das Zentrum der Wahrheit so stark betont wurde, "daß die Beziehungen zu der Realität, deren Zentrum sie ist, vernachlässigt oder gar unterbrochen werden.

Wenn der Unbekannte Gott nicht die noch undifferenzierte göttliche Gegenwart hinter den spezifischen intra-kosmischen Göttern ist, dann ist er wirklich ein für die kosmische Primärerfahrung unbekannter Gott. In diesem Fall aber gibt es kein Fortschreiten der Offenbarung in die Geschichte und keine sich über Jahrtausende hinweg erstreckende Bewegung, die in der Epiphanie des Gottessohnes kulminiert, sondern einzig und allein die Irruption eines extra-kosmischen Gottes in einen Kosmos, für dessen Menschheit er bis dahin verborgen war. Da zudem die Offenbarung dieses extra-kosmischen Gottes die einzige Wahrheit ist, auf die es existentiell ankommt, wird der Kosmos, seine Götter und seine Geschichte zu einer Realität mit dem Index existentieller Unwahrheit. Insbesondere entsteht die Vorstellung, dass der Jahwe Israels ein böser Dämon ist, der den Kosmos geschaffen hat, um seiner Machtgier zu frönen und den Menschen, dessen Bestimmung extra-kosmisch ist, in der Welt seiner Schöpfung gefangen zu halten. Schließlich ist dieser Gott der Gnostiker nicht der Gott des Evangeliums, der in einem Menschen den Tod erleidet, um den Menschen zum Leben zu erwecken, aber er ist ein Gott, der aus der Bewegung entstehen kann, wenn das existentielle Bewußtsein sich durch einen imaginativen Akt aus der Realität des Kosmos zurückzieht, in der es sich durch Differenzierung entwickelt hat." (63 f.)

Die Frage, unter welchen Konstellationen es zur tatsächlichen Gnosis kommen konnte, die nach seinem Urteil im frühen Christentum lediglich als strukturelle Möglichkeit vorhanden war, ist für das Gesamtwerk V.s insofern von erheblicher Wichtigkeit, als für ihn Gnosis bzw. die gnostische Isolierung des Existenzbewusstseins des Einzelnen aus dem Zusammenhang kosmischer Realität nicht lediglich ein vergangenes kulturgeschichtliches Faktum bezeichnet, sondern eine Verirrung, welche nachgerade die politische Welt der Neuzeit durchwaltet: Die Tradition der Moderne wird in weiten Teilen unter Gnostizismusverdacht gestellt, um einen latenten oder manifesten Gnostizismus für die massive Dekulturation und Vernunftdeformation der Neuzeit im Zuge ihrer Selbstvergottungstheorien und magischen Selbstapotheosepraktiken verantwortlich zu machen.

Dass damit der geschichtliche Bogen nicht nur sehr weit gespannt, sondern überspannt wird, hat Wolfhart Pannenberg in einem lehrreichen Vorwort angemerkt: "Es ist wohl doch irreführend, die Probleme der neuzeitlichen, aus der abendländischen Kirchenspaltung hervorgegangenen Anthropozentrik mit den gnostischen Systemen der Spätantike unter dem gemeinsamen Namen Gnosis zusammenzufassen. Es mag sicherlich in Einzelpunkten mehr oder weniger vage Analogien zwischen beiden Erscheinungen geben: so in der Weltlosigkeit eines subjektivistisch gedeuteten Glaubens und im Verlust der Bezogenheit menschlicher Existenz auf eine erst in der Zukunft durch den Tod hindurch von Gott selbst zu realisierende Vollendung, die in der Auferstehung der Toten mit dem Menschen auch seine Welt betrifft. Aber der Weltlosigkeit gnostischer Mentalität ist das moderne Pathos weltverändernder Diesseitigkeit so entgegengesetzt wie nur möglich." (9) Ohne auf konzeptionelle Anfragen vergleichbar grundsätzlicher Art einzugehen, enthält das Nachwort von Helmut Winterholler bemerkenswerte Hinweise auf den Ort und Stellenwert von "The Gospel and Culture" im Gesamtwerk V.s.