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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

956–960

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Krötke, Wolf

Titel/Untertitel:

Gottes Klarheiten. Eine Neuinterpretation der Lehre von Gottes "Eigenschaften".

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. XI, 314 S. gr.8. Kart. ¬ 64,00. ISBN 3-16-147582-8.

Rezensent:

Jörg Dierken

"Die massenhafte Gottesvergessenheit in unserer Gesellschaft, aber auch eine Religiosität, die sich ohne die Beziehung auf Gott selbst genügt, haben Gott in weiten Teilen unserer Gesellschaft aus der Sprache von Menschen verdrängt. Wo aber die Sprache für Gott verstummt, verstummt Gott selbst." (286, vgl. 7 u. ö.). Diese vor allem im Osten Deutschlands erhobenen Beobachtungen stehen im Hintergrund der Neuinterpretation der Lehre von Gottes Eigenschaften des Berliner Systematikers Wolf Krötke. In der Tradition der Wort-Gottes-Theologie stehend, sucht K. durch eine Reformulierung der theologischen Prädikatenlehre die "spezifisch göttliche Wirklichkeit" (101) zur Sprache zu bringen. Sosehr für K. diese Wirklichkeit selbstmächtig ist und in ihrer Göttlichkeit konsequent von der menschlichen Wirklichkeit abgehoben wird, sosehr modifiziert K. das für die ältere Wort-Gottes-Theologie charakteristische Motiv der absoluten Souveränität Gottes zugunsten des Motivs der Menschlichkeit Gottes, die alle humane Zwiespältigkeit überbiete. Damit folgt er einer schon beim späten Karl Barth sichtbaren Tendenz, die in Teilen von dessen Schülergeneration unter Anreicherung mit hermeneutischen Denkfiguren noch verstärkt worden ist.

Für sein theologisches Programm greift K. auf ein Lehrstück zurück, dessen traditioneller Ort die theologia naturalis darstellte. K. löst es konsequent aus diesem Kontext heraus und sucht die Lehre von Gottes Eigenschaften strikt offenbarungstheologisch - als sprachliche Befolgung des "Aus-Sich-Herausgehen[s] Gottes" (117) - zu fassen. Hierdurch wird die Hintergrundbeobachtung, nach der Gott selbst verstumme, wenn Gott in der Sprache von Menschen verstumme, in einer Flucht nach vorn - besser: nach oben - überholt. Zwar betont K. wiederholt, dass zum heutigen "Reden von Gott" ein Bemühen um die "Wahrnehmung der Lebensäußerungen und Phänomene" gehöre, "die in den Lebensvollzügen von Menschen schon immer einen Bezug zu dem aufweisen, was im Reden von Gott zur Sprache gebracht wird" (288). Doch das Anliegen der alten theologia naturalis in neuzeitlicher Interpretation, nämlich "durch eine religiöse Interpretation der Konstitutiva des Menschseins und der Grunderfahrungen im menschlichen Leben die Verwiesenheit von Menschen auf Gott darzulegen" (9), wird entschlossen zurückgedrängt. Zu sehr sei diese Interpretation bereits christlich-theologisch motiviert, zu sehr seien die religiösen Phänomene in synkretistische Sinnsuche diesseits des Unterschieds von "wahrer und falscher Religion" (18) verwickelt und zu sehr verdunkelten die gebildete Religionskritik und der massenhafte Alltagsatheismus die Szenerie.

Gegen theologische Religionstheorien, die dies nicht bestreiten, aber dennoch die Brauchbarkeit des Religionsbegriffs durch gedanklich anspruchsvolle Reflexionen aufzuzeigen suchen, wird eingewandt, sie setzten an die Stelle der Gottheit Gottes irgendwelche Erfahrungsdeutungen im Horizont des Unbedingten (vgl. 17 f.128) oder Symmetrisierungen des Verhältnisses von Gott und Mensch (vgl. 25.131 u. ö.). Demgegenüber ist es K. darum zu tun, das Gottsein Gottes eben in der "Unterschiedenheit von Gott und Mensch" (25) und Gottes schlechthinniger Weltüberlegenheit (vgl. 106) zu explizieren. Nur so werde das menschliche Sprechen von Gott gegenüber der - bis in die kirchliche Verkündigung reichenden - Diffusität zur Klarheit gebracht. Als "Klarheiten" Gottes (passim) versteht K. denn auch die Eigenschaften insgesamt. Die hierdurch erleuchtete Gotteserkenntnis vermittele zugleich die Erkenntnis der wahren Wirklichkeit von Selbst und Welt - zumal hierin die Sünde als ebenso machtvolle wie im letzten nichtige Unwahrheit, Täuschung und Lüge aufgedeckt werde (vgl. 145 f.191. 276). Auf diese Weise formuliert K.s Eigenschaftslehre implizit ein Kriterium zu ihrer Beurteilung - beansprucht das durch Gottes Klarheit erleuchtete Reden doch, die Phänomene des menschlichen Lebens intensiver (vgl. 19) erhellen zu können als das von K. zurückgewiesene der religiösen Lebensdeutung.

K.s Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Während die ersten drei Kapitel das Anliegen seiner theo-logischen Eigenschaftslehre durch zeitdiagnostische, theologiegeschichtliche und fundamentaltheologische Reflexionen herausschälen, entfalten die letzten vier Kapitel "Gottes klarmachende Klarheiten" materialiter (104). Dazwischen steht ein - viertes - Kapitel mit methodischen Prolegomena zur materialen Eigenschaftslehre. Eine "Schlußbemerkung" (286-292) rundet das Buch ab.

Im Ausgang von den skizzierten Krisendiagnosen setzt sich das erste Kap. (1-33) mit Einwänden gegen das von K. empfohlene Therapeutikum auseinander. Stichworten wie Offenbarungspositivismus und autoritäres Gottesverständnis wird die "Menschlichkeit" des vermittels der Person Jesu analogen Redens von Gott entgegengehalten. Das zweite Kap. (34-59) geht von der auf dem Boden des klassischen Drei-Wege-Schemas erwachsenden Prädikatenlehre aus, die die transzendente Erhabenheit Gottes fokussiere. Ihr wird Luthers Unterscheidung zwischen Deus absconditus und revelatus gegenüber gestellt, in deren Hintergrund indes die Eigenschaftslehre des Aquinaten schimmere. Sie scheine noch durch die altprotestantische Ermäßigung des Deus absconditus zum "allerhöchsten Wesen" (47) hindurch. Da die überkommene metaphysische Eigenschaftslehre die göttlichen Eigenschaften als "Ausdruck menschlichen Prädizierens" fasse und nicht als etwas, "was Gott selbst charakterisiert", berge sie den "Keim zu ihrer eigenen Infragestellung" in sich (58 f.). Demgegenüber sucht K. an einen in der Eigenschaftslehre unterschwellig seit alters her mitlaufenden Strang anzuknüpfen, der auf das Ausstrahlen der göttlichen DOXA abstellt. Er sei insbesondere in dem "auf Sünde und Gnade bezogenen" reformatorischen Gottesverständnis hervorgetreten und eröffne die Möglichkeit, Konkretionen der als Klarheit verstandenen DOXA "aus der Glaubensrelation zu Gott [zu formulieren], dessen DOXA in der Offenbarung in Jesus Christus auch die menschliche Sprache für sich gewährt" (58 f.).

Das dritte Kap. (60-103) thematisiert "Wege aus der metaphysischen Lehre von den Eigenschaften Gottes". "Anthropologische Zugänge" wie bei Schleiermacher krankten daran, dass "Gott nicht unzweideutig als sich selbst für die Erfahrung und die Sprache von Menschen präzisierender Gott" verstanden werde (67) - was schließlich trotz mancher gewaltsamen Verkürzung in Feuerbachs Dekonstruktion der göttlichen Eigenschaften als solchen der menschlichen Gattung zutage getreten sei. Demgegenüber wird als "unterscheidend Göttliche[s]" (73) die prädikative Bestimmung Gottes als Liebe diskutiert. Um der Konsequenz zu entgehen, den als Liebe gefassten Gott doch wieder in seiner Göttlichkeit durch ins Unendliche gesteigerte Liebesidealisierungen zu qualifizieren, sei Gottes Wesen im Vollzug eines trinitarischen Liebens zu verstehen, wonach "Gott sich in Konzentrationen seiner DOXA im Gegenüber reflektiert" (101). Dies erlaube es, in "Umkehrung der Aussagerichtung" der traditionellen Eigenschaftslehre die zu Klarheiten geläuterten Eigenschaften "als Wirk-Weisen seiner Liebe" aufzuzeigen. Damit gehe "zwingend" der "hohe Anspruch" einher, "daß Unklarheiten oder gar Willkürlichkeiten in bezug darauf, was man von Gott sagen darf", kein "Einfallstor mehr in das christliche Reden von Gott finden" (103).

Die folgenden Kapitel entfalten sodann die Eigenschaften. Nach der methodischen Zwischenreflexion (Kap. 4, 104-120) werden die Klarheiten der "Wahrheit Gottes" (Kap. 5, 121- 159), der "Liebe Gottes" (Kap. 6, 160-200), der "Macht Gottes" (Kap. 7, 201-245) und der "Ewigkeit Gottes" (Kap. 8, 246-285) behandelt. Die Auswahl schließt die traditionellen negativen Eigenschaften (z. B. infinitas, immutabilitas usw.) aus, da sie in Spannung stünden zur "kommunikative[n]" (108, vgl. 115) Selbstvergegenwärtigung Gottes in seinem Wirken. Auch die klassische Eigenschaft der Heiligkeit fehlt. Sie kennzeichne Gottes Wesen insgesamt und sei in der weltdifferenten "Dimension des uns bleibend entzogenen Geheimnisses Gottes" impliziert (116).

Wenngleich "das Ganze der Theologie als Gotteslehre" entfaltet werden könne (290), lassen die unter den vier Eigenschaften verhandelten dogmatischen Themen keine strenge Ordnung erkennen. Kontinuität stiftet lediglich die Auslegung der jeweiligen Eigenschaft durch das "Gleichnis des Menschen Jesu" (131.171.212.254). Im Zusammenhang des Wahrheitsthemas kommt der Offenbarungsbegriff zur Sprache; von der göttlichen Liebe werden Linien zur Auferstehung, Gerechtigkeit Gottes und zur Sünde gezogen; die Macht Gottes wird zum Anlass, zur Auferweckung und zur Schöpfung hinüberzublicken; und von der Ewigkeit Gottes her rücken naturgemäß Zeitverständnis und Eschatologie in den Vordergrund. In den Darlegungen greift zunehmend ein plakativer, in manchem geradezu beschwörender Stil Platz.

So "erfahren" die Menschen, wenn sie an der Geschichte der Offenbarung als Wahrheitsgeschehen teilnehmen, "daß ihr Leben in Wahrheit wirklicher, das heißt im ganzen beständiger und offenbarer wird, als alle ihre Versuche, sich selbst Beständigkeit zu geben und die Wahrheit der Wirklichkeit selbst festzuschreiben" (127). Von solchem Stil ist auch die Abwehr gegenteiliger Positionen nicht frei - etwa die Enthüllung der "Unwahrheit des Atheismus" im Lichte der Wahrheit Gottes: "Der wahre Gott hat vielmehr alles schon besser gemacht, als es der Atheismus in seinem echten Kern will und als er es faktisch kann" (148.157). An die Stelle von argumentativen Auseinandersetzungen treten steile Behauptungen im Überbietungsgestus. Der Logik von eher assoziativ aneinandergefügten Gedanken und Motiven zu folgen, bereitet dem Leser durchaus Mühe. Auch wünschte man sich eine gedankliche Klärung der vielfach beanspruchten Modalkategorie Wirklichkeit und ihrer Opposita. Wie sich die spezifisch wirkmächtige Wirklichkeit Gottes zu der durch göttliche Bejahung vom Nichts abgehobenen geschöpflichen Wirklichkeit verhält, wäre ebenso zu erhellen gewesen wie der Modus der Sünde, die zwischen wirklicher Macht, Schein und Nichtig-Sein oszilliert (vgl. 23.32.101.106. 127 f.141.144 f.191.222.276).

Gut nachvollziehbar sind hingegen die phänomenal gesättigten Reflexionen, die gelegentlich in die dogmatischen Aufstellungen eingeschoben werden. Sie betreffen etwa die mit dem Menschsein verbundenen Leidenserfahrungen, die nicht beschönigt oder gar theologisch verklärt werden, so sehr Leiden sub specie Dei immer auch etwas Nichtseinsollendes bleibt (vgl. 230 ff.; bes. 239 f.). Ähnliches gilt für die Beschreibung des seiner Endlichkeit innewerdenden Lebens, das seine Einmaligkeit wie Vergänglichkeit erlebt und sich zwischen gefülltem Augenblick und resignativem Einverständnis "so menschenwürdig wie möglich wahrzunehmen" sucht (274). Diese und ähnliche Reflexionen gewinnen in dem Maße an Plausibilität, in dem die Lebensphänomene im Lichte gegenläufiger theologischer Gedanken gedeutet werden, ohne schon immer passgenau auf sie hin modelliert zu sein. Leider zeigt K. in unmittelbarer Nachbarschaft hierzu auch die gegenteilige Tendenz. So gerät die Grenzdialektik des sich in seiner Endlichkeit wahrnehmenden Lebens alsbald wieder aus dem Blick, und der generelle, nicht näher entfaltete Verweis auf die mit ihm unlösbar verbundenen "Aporien" (275) legitimiert es, den theologischen Gedanken letztlich gegenüber solcher Dialektik schadlos zu halten.

Die These von K.s Buch, die Klarheiten Gottes befähigten "zur unzweideutigen Artikulation des eigentümlich Menschlichen" (290), bewährt sich offenbar in dem Maße, in dem die Gotteslehre ihren Widerschein in der Dialektik religiöser Lebensäußerungen und Phänomene (s. o.) findet. Deshalb sei das Programm, die Eigenschaftslehre aus der theologia naturalis und ihren religionstheoretischen Nachfolgegestalten herauszulösen, mit einem Fragezeichen versehen. Will man mit K. die "Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch" (157) zur Wahrnehmung des spezifisch Humanen heranziehen, dann wäre jedoch gegen K. diese Leitdifferenz aus der dem Menschen selbst zugänglichen, mithin endlichkeitsgeprägten Perspektive zu explizieren - statt aus der Überperspektive des weltüberlegenen Gottes. Denn sofern solche Weltüberlegenheit für die Gottheit Gottes steht und diese nach K. durch eine bleibend asymmetrische Differenz gegenüber allem Welthaft-Humanen gekennzeichnet ist (vgl. 131), bleibt sie ihm trotz ihrer Aura gesteigerter Menschlichkeit entzogen.