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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

953–956

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hunsinger, George

Titel/Untertitel:

Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. IX, 375 S. gr.8. Geb. US$ 39,00. ISBN 0-8028-4644-0.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Der Band enthält wichtige Aufsätze des insbesondere für seine Barth-Forschungen bekannten, am Princeton Theological Seminary lehrenden Theologen. Der erste Teil enthält Überlegungen zur Theologischen Ethik des Politischen, es folgt der sicherlich fruchtbarste Abschnitt mit grundsätzlichen dogmatischen Untersuchungen, die abschließend in ökumenischer Perspektive vertieft werden. Der Titel "Disruptive Grace" ist mit Bedacht gewählt, denn stets betont H. die diskontinuierliche, überraschende, auch unbequeme Qualität des göttlichen Handelns - und Karl Barths Bestreben, diese Diskontinuität theologisch nachzuzeichnen. Das Buch liefert daher nicht unbedingt neue, aber wichtige Einsichten zur Methodologie und inhaltlichen Struktur der Barthschen Theologie. Das wird besonders deutlich an Kap. 6 ("Karl Barth's Christology: Its Basic Chalcedonian Character"). Die Formel von Chalcedon artikuliert die Tiefenstruktur des neutestamentlichen Christuszeugnisses (133). Dabei werden komplementäre Möglichkeiten verschränkt. H.s Schlüsseleinsicht lautet: "Barth is probably the first theologian in the history of Christian doctrine who alternates back and forth, deliberately, between an Alexandrian and an Antiochian idiom. [...] to comprehend the incomprehensibility of the incarnation precisely in its incomprehensibility" (135). Die Methode des Perspektivenwechsels "back and forth" ohne Synthese ist für Barth charakteristisch und erschließt zum einen die Konzentration auf den Namen, der nur narrativ angemessen zur Sprache kommen kann. Zum andern wird plausibel, warum Barth sich mit seiner "strategy of juxtaposition" (136) der systematischen "closure" verweigert. H. zeigt, dass Barth keineswegs in einer bloßen Antithetik verharrt, sondern abstrakte Begriffe aufeinander bezieht und in Bewegung bringt.

Damit hängt die Richtung innerhalb der theologischen Antithetik zusammen: Die Relation von göttlicher und menschlicher Natur ist asymmetrisch. So greift die Entfaltung der Relation gleichsam aus und umfasst auch andere systematisch-theologische Zusammenhänge. Es entsteht eine "Logik des Paradoxes", die im ersten der ökumenischen Beiträge skizziert wird. Kap. 11 behandelt zwar Karl Barth und die Zukunft der römisch-katholischen Theologie, doch konzentriert H. sich auf die Formel "in den Tod Christi getauft" und entfaltet zur Klärung dieser Formel die von ihm sogenannte "koinonia-Relation". "It is always a matter of two terms (or at least two terms) and a relationship, in which the relationship is one of mutual coinherence so that each term in the relation is somehow contained by the other." "Each term in the relationship retains its own particular and irreducible identity. The mutual containment [...] is a mutual enhancement in which the otherness of the other is somehow intensified and sustained" (258 f.). H. legt hier gleichsam die theo-logische Grundoperation der Dogmatik frei. Dies kombiniert er mit einer Konfrontation von "hoher" und "mittlerer" Christologie, die er in der römisch-katholischen Theologie von H.-U. von Balthasar bzw. von K. Rahner vertreten sieht. Dabei zeigt sich, dass eine Synthese unentbehrlich, aber schwierig ist (267). In der asymmetrischen Komplementarität der Christologie nach dem Modell von Chalcedon unterscheidet sich Barth sowohl von Balthasar als auch von Rahner. Die diffizile Relation von Gnade und Natur kann nämlich nur zur Sprache kommen in einem Geflecht von koinonia-Relationen (269 f.).

Kap. 7 ("The Mediator of Communion: Karl Barth's Doctrine of the Holy Spirit") gibt einen ausgezeichneten pneumatologischen Überblick. Die Grundspannung besteht auch hier wieder in einer Komplementarität, denn einerseits bedarf das Werk Christi keiner Vervollständigung, andererseits kann das Werk des Geistes nicht als sekundär untergeordnet werden. Vielmehr muss die ganze Bewegung in zwei Richtungen entfaltet werden: "The mediation of the Spirit thus moves in two directions at once: from the eternal Trinity through Jesus Christ to humankind, and from humankind through Jesus Christ to the eternal Trinity" (151). Der Heilige Geist ist eine unterscheidbare trinitarische Seinsweise gerade als Vermittler (vgl. 153), und so lässt sich in aller gottgewirkten Vermittlung des Heilshandelns der Geist kenntlich machen. Der Geist ist gerade darin göttliche Hypostase, dass er niemals auf sich selbst fixiert ist (162). Das Wirken des Geistes wird leider nur summarisch, aber treffend beschrieben als Überwindung der vertrauten Alternativen von "Determinismus" und "Freiheit" (163). Auch hier lehnt Barth eine systematische, d. h. das Geheimnis eliminierende Zuordnung ab (164). Und genau an dieser Stelle kommt der Titel des Buchs besonders zur Geltung: Gnade ist disruptive. In Kap. 8 ("Mysterium Trinitatis: Karl Barth's Conception of Eternity") zeichnet H. den komplexen Begriff "Ewigkeit" nach, der einerseits die radikale Differenz gegenüber geschöpflicher Zeit, andererseits eine eigentümliche Zeitlichkeit Gottes umgreift. Barths Analysen stehen in der Regel quer zu alternativen Disjunktionen, die sich dann allerdings als einseitig erweisen und kreativ und überraschend aufeinander bezogen werden. So wie die Einheit und die Dreiheit Gottes nicht zusammenzudenken sind - "that the one divine being correlates with God's freedom, that the three divine modes of being correlate with God's love, and that their perpetual unification correlates with God's eternal life" (190) -, so gilt auch für Gottes ewiges Sein: "Its own unique process of becoming moves from perfection to perfection, from pure duration to pure duration, in the simultaneity of its own eternal forms" (198).

Bedenklich und ein wenig verräterisch ist freilich die Einschränkung, es handle sich nur um eine formale Parallele (ebd.). Es zeigt sich nämlich immer wieder, dass H. seine Analysen nicht weit genug treibt. Das Chalcedonian pattern durchzieht in der Tat die gesamte Theologie Barths. Aber seine Anwendungen stehen nicht beziehungslos nebeneinander, greifen vielmehr einander vertiefend ineinander. H. zitiert die überaus treffende Bemerkung seines Kollegen Robert Jenson: "it is astonishing how many wheels within wheels Barth's dialectical engine could keep spinning" (128). Tatsächlich haben Einheit, Differenzierung und Perichorese mit Gottes Freiheit, Liebe und Leben zu tun, aber raffinierterweise lassen sich die beiden Ternare gut den drei Hypostasen appropriieren. Daher beschreibt Barth die Vollkommenheiten Gottes nicht einfach durch ein dialektisch-komplementäres "Hin-und-Her", sondern durch ineinander verschlungene dialektische Bewegungen. Und dieses Modell ist immer noch zu einfach, weil bereits unsere Gotteserkenntnis mit in die Bewegung hineingezogen wird (vgl. KD II/1, 384 ff.). Wie ist dann aber der Vorbehalt zu verstehen, Barth denke Gottes Wesen nicht als in sich dialektisch, sondern als "unified, constant, and stable in itself", wenn auch "endlessly vibrant in its life" (193)? Warum soll die Einheit von Freiheit und Liebe in Gott nicht spannend sein? Aus der tiefsinnigen Bemerkung, dass jede Unterscheidung in Gott wieder jeweils das Ganze umgreift (196 f.), wäre doch gerade eine eigentümliche narrative Logik der Paradoxien zu entwickeln. Das gilt auch für die Pneumatologie. Es wäre genauer auszuführen, wie gerade ein sich selbst entzogener Wille zwar unfrei, aber in einem sehr qualifizierten Sinne befreit und daher entkrampft, also keineswegs apersonal oder verantwortungslos ist. Barth bewegt sich nicht einfach "hin und her", vielmehr kommt es auch zur wechselweisen Durchdringung der einander ausschließenden Perspektiven. Musikalisch gesprochen: Barths komplementäre Strategie ist nicht bitonal, sondern polyphon. Die Perspektiven werden einander nicht nur entgegengesetzt, sie kippen überraschend ineinander um.

Der Aufsatz zu Barths Hermeneutischem Realismus jenseits von Literalismus und Expressivismus (Kap. 9) betont die eigenartige exegetische Arbeitsweise: Barth legt biblische Texte nicht so aus, als gebe es eine univoke, rein kognitive, abbildende Relation von Text und Wirklichkeit. Zugleich aber kann auch eine Legende oder Sage durch intratextuelle Bezüge auf außersprachliche Realität verweisen. Und gerade daher kann Barth sich auf die intratextuelle Vielfalt konzentrieren, etwa auf vielfache Analogien und Muster, die insgesamt - als narrative Struktur - auf die göttliche Wirklichkeit bezogen sind. So ist Barths Hermeneutik von bloß "expressiver" Interpretation abzusetzen, die mittels philosophischer oder gar kulturanthropologischer Analyse die Bedeutung erheben könnte. Die Analogien sind zwar notwendig anthropomorph, aber zugleich können sie treffend sein: "of course, by no power of their own, but solely by virtue of divine grace" (217). Vertieft wird der Gedanke durch einen der "ökumenischen" Beiträge zu Barth und George Lindbeck ("Truth as Self-Involving"). Auch hier findet sich die quasi-dialektische Einsicht, dass Gottes Gebrauch der menschlichen Äußerungen einerseits für uns unverfügbar bleibt, also keine eindeutige Zuordnung von Wahrheitskriterien zu unserem menschlichen Sprachgebrauch ermöglicht, andererseits aber als Selbstbezeugung Gottes unser Reden von Gott derart wahr macht, dass es auch durch Missbrauch nicht einfach falsifiziert werden kann. Im Unterschied zu Lindbeck gibt es bei Barth keinen allgemeinen - wenn auch noch so differenzierten- Wahrheitsbegriff, der die Zuordnung von theologischen und außertheologischen Kontexten leiten könnte. Allerdings gibt es durchaus ein Repertoire möglicher Schritte, was auch H. selbst zeigt, etwa die verschärfte Profilierung dialektischer Komplementaritäten und die Ausnutzung von Ambivalenzen. Denn auch H. spricht von einer "logic of paradox" (316). Eine solche Logik muss ausgearbeitet werden - über die koinonia-Relation hinaus und in Richtung auf eine sehr verwickelte theologische Semantik: Die koinonia-Relation zeigt H. auch in Karl Barths Auseinandersetzung mit Luther (Kap. 12). Das Chalcedonian pattern findet sich auch in der Übertragung auf Gnade und Freiheit. Tatsächlich ist dieses pattern bereits in nuce im Anti-Latomus zu finden (vgl. 303): Es geht darum, die Prädikate jeweils der ganzen Person zu übertragen. Allerdings müssten dann auch die raffinierten Strukturmuster in Luthers Schrift nachgezeichnet werden. Denn dort (WA 8,103 ff.) geht es um die vertrackten Relationen innerhalb einer reflexiven Struktur.

Problematischer als die dogmatischen und ökumenischen Beiträge sind die politisch-theologischen Aufsätze. Im Mittelpunkt steht die Grundidee der Gewaltlosigkeit. Sicherlich ist H. zuzustimmen: "the forced option between progressive politics and traditional faith is false" (3). Und in der Tat ist die Gewaltlosigkeit Gottes ein christologisches Zentralmotiv (Kap. 1). Gerade weil aber Feindesliebe eine Gnade ist und nicht ein Gesetz, wäre doch zu fragen, wie ein christlicher Pazifismus - unter dem Vorbehalt des simul iustus simul peccator - zu konturieren ist, ohne durch eine kulturkritische "Bekenntnisbildung" (die in der Reagan-Ära sicherlich wichtig war) simplifiziert zu werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Fehlen aller Hinweise auf Paul Lehmann (der nur beiläufig auf S. 5 vorkommt).