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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

1008–1011

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ebeling, Gerhard

Titel/Untertitel:

Luthers Seelsorge. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen an seinen Briefen dargestellt.

Verlag:

Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1997. VIII, 511 S. gr.8 . Lw. DM 148.-. ISBN 3-16-146712-4.

Rezensent:

Martin Seils

Einer der bestimmenden Züge der Dogmatik Ebelings ist das Bemühen um Erfahrungs- und Lebensbezug. Der Lutherinterpret Ebeling muß es daher als eine besondere Fügung und Herausforderung empfunden haben, daß er 1989 von der Luther-Akademie Ratzeburg gebeten wurde, auf ihrer Herbsttagung 1990 einen Vortrag über "Luther als Seelsorger" zu halten, für den er das Thema "Der theologische Grundzug der Seelsorge Luthers" wählte. Bei der Vorbereitung hat Ebeling die Briefe Luthers als Quellen für dessen Wahrnehmung seelsorgerlicher Verantwortung entdeckt. Weit über den damaligen Vortrag hinaus ist Ebeling dann - in bezeichnender Verschränkung des Themas - dem "theologischen Grundzug der Seelsorge" und dem "seelsorgerlichen Grundzug der Theologie" Luthers anhand der Briefe nachgegangen. Daraus ist im Laufe der Jahre dieses Buch entstanden. Es dient der Bekräftigung der These, daß "Theologie ... nach Luther ihren Ort wesenhaft inmitten des Lebens" (3) hat.

Das Buch ist nicht ganz so ästhetisch gegliedert wie die sonstigen Schriften Ebelings, weil es sich an die konkreten Felder seelsorgerlicher Bemühungen Luthers zu halten hat. Da Ebeling dergleichen immer etwas zu beunruhigen scheint, hat er aber nun eine gleichsam musikalische Anordnung gewählt: auf ein "Präludium und Thema" mit einleitenden methodischen und grundlegenden Erwägungen folgen zwölf "Variationen" unmittelbarer seelsorgerlicher Handlungsvollzüge, die mit einer zusammenfassenden "Kadenz" abgeschlossen werden.

"Präludium und Thema" gehen dem Seelsorgethema im allgemeinen und Luthers Briefen als Seelsorgetexten im besonderen nach (vgl. dazu auch G. Ebeling: "Luthers Gebrauch der Wortfamilie ,Seelsorge’", LuJ 61, 1994, 7-44). Grundlegende thematische Einsichten im Sinne einer "Hauptdirektive" zur Seelsorge entnimmt Ebeling einem Brief Luthers als Distriktsvikar seines Ordens aus dem Herbst 1516, in dem alles Gewicht auf die "Leitung durch Gottes Wort" gelegt wird, und einer Eintragung Luthers in seinen Handpsalter aus dem Jahre 1543, in der Luther von der eigenen Seele sagt, Christus solle sie in der Hand haben, der niemand sie entreißen kann. Grundeinsichten sind demzufolge, daß es in der Seelsorge nicht darum geht, "sich selbst in die Hand zu bekommen, sondern sich der Hand eines andern zu überlassen" (44), daß sie "aufs Ganze" geht, weil "es ihr um das wahre Leben und dessen Quelle zu tun ist" (45) und daß Luther "die Seelsorge als in Christus zentriert" (45) versteht.

Die "Variationen" beschreiten ein weites Feld. Luthers sehr gegensätzlichen Ratschlägen zu "Klosteraustritten" (I) folgen dessen gutachtliche Äußerungen an Kurfürst Johann zur Wahl Erzherzog Ferdinands zum römischen König 1530/31 (II), an die sich Stellungnahmen Luthers zum bewaffneten Widerstand gegen den Kaiser anschließen, die einen gewissen Wandel der Einstellung Luthers dazu erkennen lassen (III). Danach behandelt Ebeling das schwierige Kapitel des Beichtrates Luthers zur Doppelehe Philipps von Hessen (IV) samt dem, "was alles an Mißverständnis und Unverständnis die seelsorgerlich-theologischen Äußerungen Luthers dazu bis in unsere Zeit überdeckt hat" (99), und darauf folgend Luthers seelsorgerliche Bemühungen in "sonstige(n) Ehefälle(n)" (V), wobei auch Luthers Kampf gegen die vom kanonischen Recht für bindend erklärten heimlichen Ehegelöbnisse zur Sprache kommt.

Ein nächstes Kapitel bespricht Luthers Auseinandersetzung mit Kurfürst Joachim I. von Brandenburg in Sachen von dessen Mätresse Katharina Hornung (VI), worauf umfassend über "Grund und Grenzen der Gehorsamspflicht" in Beziehung auf Luthers eigenes Leben (Vater, Kirche, weltliche Obrigkeit) und in verschiedenen Seelsorgefällen gehandelt wird (VII). Sehr bewegend ist der nächste Abschnitt über Luthers Leiden an der Kirche im ganzen und an seiner Wittenberger Gemeinde im Konkreten (VIII): das "Zwielicht der Machtfrage" (262). Eingehend wird darauf als "Seelsorge an zersorgter Seele" Luthers Zuspruch an Melanchthon insbesondere im Jahr von Augsburg/Koburg 1530 besprochen (IX). Es geht um "fundamentaltheologische Steuerung" (277) mit dem Skopus, die Sache nicht sorgend selbst in der Hand behalten zu wollen, sondern sie der Hand Christi anvertraut zu lassen (313). Danach wird von "Todesangst und Lebenshoffnung" insbesondere zu Pestzeiten anhand einer fast von Zeile zu Zeile erfolgenden Analyse eines Briefes vom 25.11.1538 an Nikolaus v. Amsdorf gehandelt (X), die auf die - landläufigen Ansichten durchaus widersprechende - Sentenz hinausläuft: "Wer den Tod nicht ernst nimmt, dem sagt das Leben des Gekreuzigten nichts" (349). Dergleichen spiegeln auch die "Trostbriefe Luthers an Leidtragende" (XI), mit denen sich ja meistens die Ansicht vom Trostcharakter vieler Briefe Luthers verbindet. Das u. E. dichteste Kapitel ist das letzte: Es legt auf sehr eingehende Weise die tiefe und bis in den Kern des Lebens greifende Anfechtungssituation Luthers selber (XII) in den Jahren 1527/28 dar: Luther sieht Christus und den Satan um sich streiten, weiß sich nur an einem "hauchdünnen Faden" von Christus gehalten, fleht die Freude um Fürbitte an und durchlebt den "äußerste(n) Ernstfall im Umgang mit der Schrift" als "Kampf darum, daß diese Bindung, die wahrhaft freimacht, nicht reiße" (426). Als Ergänzung dazu - aber das ist ein eigenes forschungsmäßiges Kabinettstück - zeigt Ebeling an den "Grußformeln am Eingang und am Schluß der Briefe" den Wandel in Luthers Eingangsformeln vom antik-humanistischen "salutem dicit" zum paulinischen "gratia et pacem, Gnade und Friede" (434) und in den Schlußformeln vom "vale" zum häufig verwendeten "Hiemit Gott befohlen" auf. Ein letzter Hinweis gilt dem Gebet in den Briefen: "Die Funktion des Gebets ist ein Verklammern und Zusammenhalten dessen, was das Leben ausmacht, - in der Weise nicht eines Gedankensystems, sondern eines elementaren ganzheitlichen Lebensvorgangs, analog dem Atmen oder dem Blutkreislauf" (441).

Ebeling weist in der Tat anhand des seelsorgerlichen Wirkens Luthers in dessen Briefen einen umfassenden und tiefgreifenden Lebensbezug der Lutherschen Theologie auf. Er macht zugleich klar, welche noch kaum entdeckten Möglichkeiten nicht nur zur Darstellung von Luthers Seelsorge, sondern auch seiner Theologie in den Briefen Luthers enthalten sind. Daß Ebeling - wie er selbst sieht und reflektiert - den Bereich von "Seelsorge" nicht nur im Bezug auf individuelle Zuspruchsvorgänge, sondern auch im Bezug auf allgemeinere Ratschläge und Auseinandersetzungen darstellt, ist sachgegeben: Zuspruch und Ratschlag gehen bei Luther ineinander über. Beherrschend ist der Eindruck von Luthers starker Zugriffs- und Entscheidungsfähigkeit bei gleichzeitigem tiefem Bewußtsein der eigenen Schwäche und Angewiesenheit. Aber gab es bei Luther nie Getäuschtwerden, Leichtgläubigkeit, Argumentations- und Aussagegegensätzlichkeit und dergleichen? So etwas deutet Ebeling eher zart und zurückhaltend an, wohl mit Recht angesichts des Befundes einer sichleitenlassenden Zuspruchszuversicht.

Eine Zusammenfassung hat Ebeling in der "Kadenz" seines Buches selbst gegeben. Den "theologischen Grundzug" der Seelsorge bei Luther findet er in der Berufung auf "Gottes Dasein", das dessen "Bei-uns-, Mit-uns- und Für-uns Sein" mit umgreift (450), im Zuspruch des "Verbundensein(s) mit Christus", wobei "Seelsorge ... nicht eine nachträgliche praktische Anwendung der Kreuzestheologie" ist, sondern "das einzig mögliche Medium ihrer Entfaltung" (456), und im "Zuhausesein im Worte Gottes", wodurch das Schriftwort in der jeweiligen Situation "sprachlich und sachlich zuweilen eine ganz überwältigende Ausstrahlung und Leuchtkraft" (462) erhält. Recht unerwartet, aber bei seinem hermeneutischen Ansatz doch verständlich, behandelt Ebeling schließlich den "seelsorgerlichen Grundzug" von Luthers Theologie in einer ausgreifenden Meditation über das Zeitgebundene und Zeitübergreifende in Luthers Seelsorgewirksamkeit, wobei er das "Kontinuum des Menschseins" (472) in allen Veränderungen von Verhältnissen und menschlichem Sichverstehen hervorhebt, die Orientierung der Kreuzestheologie Luthers an der bleibenden Grundsituation des Menschen betont und die Beziehung wie die Strittigkeit des Freiheitsproblems zwischen Luther und der Neuzeit herausstellt. "Das Eingebundensein in die gefallene Menschheit und das befreiende Angegangensein jedes Einzelnen in seinem Gewissen durch Gott bildet ... den Grundakkord der Theologie Luthers. Das macht sie so seelsorgerlich und über den Wandel der Zeiten hinweg so wirklichkeitsnah" (482).

Möglicherweise wird es Stimmen geben, die dies alles als für eine neuzeitliche und gegenwartsbezogene Seelsorgetheorie und -ausübung irrelevant erklären möchten. Aber es ist ein aus eingehender Lutherinterpretation ergehender Ruf zum Zentralen, Eigentlichen und so auch Konkreten, ohne das reformatorisch bestimmte Theologie wie Seelsorge nicht werden sein können.