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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

943–945

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schwaiger, Axel

Titel/Untertitel:

Christliche Geschichtsdeutung in der Moderne. Eine Untersuchung zum Geschichtsdenken von Juan Donoso Cortés, Ernst von Lasaulx und Vladimir Solov'ev in der Zusammenschau christlicher Historiographieentwicklung.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2001. 440 S. m. Abb. gr.8 = Philosophische Schriften, 41. Kart. ¬ 96,00. ISBN 3-428-09886-2.

Rezensent:

Volker Leppin

Die vorliegende Erlanger historische Dissertation will darlegen, dass auch unter den Bedingungen der Moderne eine christlichen Deutungskategorien folgende Historiographie möglich ist. Sie tut dies anhand dreier Autoren des 19. Jh.s, zweier Katholiken und eines dem Katholizismus zuneigenden Orthodoxen: Untersucht werden der Spanier Juan Donoso Cortés (1809-1853), der in Bayern tätige Rheinländer Ernst von Lasaulx (1805-1861) und der Russe Vladimir Solov'ev (1853- 1900).

Die chronologische Auswahl wird mit der Stellung des 19. Jh.s als "geistesgeschichtliche Schlüsselzeit" begründet - wobei in der Begründung dieser Einordnung der Hauptakzent auf der historiographischen Wirkung des Historismus liegt. Die konfessionelle Begrenzung fällt leicht, wenn man bei Lessing und Ranke nur noch von "christlich angehauchten idealistischen Zugänge[n]" sprechen kann (161), Herder letztlich in derselben Schublade ablegt (159 f.), den württembergischen Pietismus ins "Schneckenhaus biblizistischer Bibelauslegung und Endzeitberechnung" zurückweist (26) und bei dem habilitieren Historiker Johannes von Hofmann unter Verweis auf seine letztlich theologische Professur offenbar "echte historische Fragestellungen" nicht erkennen kann (25). Melanchthon, der "noch einmal christliche Geschichtsschreibung in einer einzigartigen Dichte zum Ausdruck gebracht" hat (126), hat eben leider zu früh gelebt, um in die Untersuchung aufgenommen zu werden. Die Umformung, die der Protestantismus durch die Aufklärung erfuhr, hat ihn von dem entfernt, was Sch. als "christliche Geschichtsdeutung" im eigentlichen Sinne versteht, sie wird als möglicherweise ja auch legitime Neubestimmung des Christlichen auch nicht näherungsweise in den Blick genommen.

Was nach Sch. "christliche Geschichtsdeutung" ist, macht neben einer theologiegeschichtlichen Tour d'horizon eine übersichtliche, die Einzelergebnisse der Studie schön zusammenfassende Graphik auf S. 362 f. deutlich: Als christlich werden die Deutungskategorien eines kreationistisch-urgeschichtlichen Beginns, die Annahme eines Tun-Ergehen-Zusammenhanges, providentielles Denken, die Annahme einer eschatologisch-apokalyptischen Bewegung sowie eine Christozentrik in der Geschichtssicht diagnostiziert; hieran gemessen, wird dann freilich auch Lasaulx' Geschichtsschau als nicht mehr originär biblisch-christlich, ja als "verfehlte, will heißen verzerrte Übertragung christlichen Geschichtsdenkens in die Moderne" abqualifiziert (282). Mangelnde Deutlichkeit im Urteil wird man Sch. jedenfalls nicht vorwerfen können.

Bemerkenswert ist sein unkritisches Verhältnis zur Bestimmung dessen, was "christlich" oder gar "biblisch" heißen darf: Die bei Solov'ev wiederkehrenden Grundelemente der mittelalterlichen Antichristlegende werden schlicht als "das biblische Antichrist-Gerüst" identifiziert (319), als handelte es sich nicht biblisch etwa bei 1Joh 2,19; 2Thess 2; Apk 13 um durchaus heterogenes Material, das, wie auch Nicht-Theologen den einschlägigen Lexika rasch entnehmen können, erst sekundär zu einem einheitlichen Gerüst zusammengefasst wurde.

Ebenso undifferenziert erfolgt der Aufweis einer Modernefähigkeit christlicher Geschichtssicht bloß dadurch, dass einzelne moderne Elemente im jeweiligen Denken aufgewiesen werden. So berechtigt der Hinweis ist, dass alle drei untersuchten Denker nicht einfach an vormoderne Konzepte anknüpfen, so sehr bedürfte doch die Frage einer Modernefähigkeit einer differenzierteren Untersuchung, in welcher Weise ihre Systeme als Ganze Züge der Moderne selbst und nicht bloß der auf diese - im Einzelnen durchaus differenziert - reagierenden Antimodernität aufweisen. Freilich wird man auch bei einer solchen Einordnung noch einmal nach der Vergleichbarkeit dieser drei denkerischen Ansätze und ihrer jeweiligen Entstehungskontexte fragen müssen: Ist die nach Sch.s eindringlicher Darlegung für Donoso prägende Moderne der Revolution von 1848/49 in Westeuropa wirklich dieselbe wie die Modernität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die Lasaulx in sein spätromantisch-organistisches Gesellschaftsmodell integriert? Und was verbindet beides mit der russischen Moderne, in der Solov'ev seine apokalyptische Hoffnung auf Einheit von Gott und Mensch entwarf?

Dass die Folgen solch geographisch, kulturell und zeitlich unterschiedlicher Ausprägungen der Moderne für die Möglichkeit des letztlich abstrakt-geistig durchgeführten Vergleichs der Konzepte nicht zureichend bedacht werden, überrascht, weil in den Einzeluntersuchungen die konkrete Anbindung an politisch-gesellschaftliche Fragen durchaus eine Rolle spielt, die auch überzeugend herausgearbeitet wird. Die gelungensten Passagen des Buches zeigen die antiliberale Stoßrichtung des Denkens von Donoso und die stark auf das zaristische Imperium orientierte Geschichtsschau Solov'evs überaus deutlich. Dass sich hier die christliche Geschichtsschau, wie Sch. sie versteht, mit den beharrenden politischen Kräften verbindet, hätte allerdings noch stärkerer kritischer Reflexion bedurft.

Und wenn denn eine Kritik an gegenwärtigen historiographischen Grundoptionen, "an der historiographischen Absolutsetzung" modernen Geschichtsdenkens (20), intendiert ist, wie es in der kulturpessimistisch grundierten Einleitung deutlich wird, so hätte man sich doch auch gewünscht, dass der Autor das 19. Jh. nicht nur in einem Ausblick verlassen hätte (der in einem Hinweis auf den antievolutionistischen Kreationismus gipfelt), sondern seine Folgerungen für ein gegenwärtiges Gespräch zwischen christlicher Geschichtsschau und allgemeiner Geschichtswissenschaft explizit dargelegt und dabei auch deutlich gemacht hätte, welchen Gewinn die von ihm so ausführlich dargestellte historiographische Option für ein präziseres Erfassen historischer Prozesse zu erbringen vermag. So ist es jedenfalls dem Rez. verborgen geblieben, was aus diesem Buch für gegenwärtiges historisches Arbeiten zu lernen sei.