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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

942 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schicketanz, Peter

Titel/Untertitel:

Der Pietismus von 1675 bis 1800.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 196 S. gr.8 = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, III/1. Geb. ¬ 19,80. ISBN 3-374-01858-0.

Rezensent:

Christian Peters

Der vorzustellende Band zielt auf ein breiteres Publikum. Er bietet einen zusammenfassenden Überblick über die Geschichte des Pietismus und die diesem zuzuordnenden Personen und Gruppierungen. Dabei weiß er sich zwar den Modellen der jüngeren Forschung verpflichtet, muss sich aber gleichwohl der älteren Systematik der Reihe einfügen: "Als die vorliegende Reihe Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen vor zwei Jahrzehnten geplant wurde, legte man bezüglich des Pietismus den früher üblichen, engeren Begriff zu Grunde, der sich auf die Zeit von 1675 bis ca. 1800 bezog. Danach folgte im ersten Teil desselben die Erweckungsbewegung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Gemeinschaftsfrömmigkeit (jedenfalls in Deutschland) und im 20. Jh. weltweit der Evangelikalismus. Auf Grund der Tatsache, daß sich zwar durchaus charakteristische Unterschiede zwischen diesen Bewegungen entdecken lassen, andererseits aber eine Fülle von Übergängen und Übereinstimmungen besteht, wird der Begriff Pietismus heute nicht mehr auf jene klassische Zeit beschränkt. Außerdem wird sein Beginn heute nicht mehr bei Philipp Jakob Spener angesetzt, sondern bei Johann Arndt bzw. dem englischen Puritanismus. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß das im Entstehen begriffene Standardwerk über die Geschichte des Pietismus von 1600 bis an das Ende des 20. Jahrhunderts konzipiert ist. Das vorliegende Buch muß aber wegen jener vor Jahrzehnten getroffenen Entscheidung bei dem engeren Begriff des Pietismus bleiben, ohne daß der Verfasser die Berechtigung eines weitergehenden Begriffes des Pietismus bestreiten will" (5).

Auch wenn der Autor schon im Vorwort (5 f.) betont, wie hinterfragbar ihm das eigene Unternehmen erscheint (Beibehaltung der "Unschärfen bisheriger Darstellungen", "Einteilung des Stoffes" nach verschiedenartigen Gesichtspunkten [Konfession, Biographie, Geographie und Phänomenologie], unzureichender Aufweis der innerpietistischen Vernetzungen [vor allem im Bereich des radikalen Pietismus], Ausblendung der "Entwicklung pietistischer Gemeinschaften in anderen Ländern" [Skandinavien, England und Nordamerika]), ist das tatsächlich Gebotene dann doch durchaus eindrücklich.

Der Darstellung voran geht ein komprimiertes "Literaturverzeichnis" (10-12: Bibliographien, Quelleneditionen, Gesamtdarstellungen). Dann folgen 9 Kapitel: (1) "Der klassische Pietismus in seiner Zeit" (13-18: Grundzüge des Pietismus zwischen 1648 und 1789, Verhältnis zu Orthodoxie und Aufklärung, Was heißt Pietismus?), (2) "Die Traditionen im Pietismus" (19-26: Verhältnis zur Reformation, Johann Arndt und die Frömmigkeitsbewegung, westeuropäische Erbauungsliteratur), (3) "Der Pietismus in den Niederlanden, am Niederrhein und in Bremen" (27-45: Nadere Reformatie, Jean de Labadie, Pietismus in Nordwestdeutschland, Gerhard Tersteegen, Pietismus im Rheinland), (4) "Philipp Jakob Spener" (46-67: Jugend und Ausbildung, Wirksamkeiten in Frankfurt/Main, Dresden und Berlin), (5) "Radikaler Pietismus" (68-87: Saalhofpietismus in Frankfurt/Main, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen, Gottfried Arnold, Johann Konrad Dippel, Hochmann von Hochenau, radikalpietistische Gruppen: Buttlarsche Rotte, Schwarzenauer Neutäufer, Inspirierte und Berleburger Philadelphier), (6) "August Hermann Francke und der Hallesche Pietismus" (88-113: Leben und Werk, weltweite Ausstrahlung des Halleschen Pietismus, Hallescher Pietismus nach Franckes Tod), (7) "Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Brüdergemeine" (114-139: Leben und Werk, Theologie des Grafen, Entwicklung der Brüdergemeine nach Zinzendorfs Tod), (8) "Der württembergische Pietismus" (140-158: Anfänge, Johann Albrecht Bengel und seine Schüler, Friedrich Christoph Oetinger, Pietismus neben und nach Oetinger) und (9) "Übergang zur Erweckungsbewegung" (159-176: Deutsche Christentumsgesellschaft, Johann Kaspar Lavater, Johann Friedrich Oberlin, Johann Heinrich Jung-Stilling, Matthias Claudius).

Eine eigene, neue Interpretation des Begriffes "Pietismus" wird nicht geboten; zu Grunde gelegt werden vielmehr so offene Bestimmungen, wie sie "z. B. Martin Brecht" vorgetragen hat: "Der Pietismus gilt als die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung oder religiöse Erneuerungsbewegung des Protestantismus nach der Reformation" (16-18; das Zitat hier S. 16 nach TRE 26, 1996, 606). "Dabei wird darauf verzichtet, kontroverse Standpunkte in der Erforschung des Pietismus ausdrücklich zu benennen oder gar zu vertiefen" (5). Die Darstellung ist bei aller Kompaktheit fast immer präzise. Der Fußnotenapparat wird bewusst schlank gehalten. Mitunter kann dies aber auch zu schmerzlichen Lücken führen. Dazu nur ein Beispiel: Zu Kapitel 4 D "Spener in Berlin" (63-67) fehlt in jedem Fall ein Verweis auf Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener in Berlin 1691-1705, in: ZThK 84, 1987, 58-85. Hilfreich sind die immerhin fünf, wie Stichproben zeigen, zuverlässigen Register, das "Liedregister" (177), das "Bibelstellenregister" (178), das "Sachregister" (179-182), das "Ortsregister" (183-187) und das "Personenregister" (188-192).

Fazit: Der Band ist eine sinnvolle Ergänzung der bisherigen Überblicksliteratur zur Geschichte des klassischen Pietismus. Zwar wird die Forschung wohl auch zukünftig eher zu anderen Werken greifen (maßgeblich dabei immer noch Johannes Wallmann, Der Pietismus, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lieferung O1, Göttingen 1990). Gerade für ein breiteres Publikum fehlte es aber bislang an einer leicht lesbaren und nicht zu umfänglichen Darstellung. Vor allem jedoch zeigt das Buch, welche großen Fortschritte die Erforschung des Pietismus in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht hat und welche beachtlichen Impulse dabei schon jetzt von den beiden ersten Bänden der neuen "Geschichte des Pietismus" (Göttingen 1993 und 1995) ausgegangen sind.