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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

940–942

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Petzoldt, Klaus

Titel/Untertitel:

Der unterlegene Sieger. Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Sachsen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 229 S. 1 Taf. gr.8. Kart. ¬ 18,50. ISBN 3-374-01865-3.

Rezensent:

Ernst Koch

Das Buch versteht sich als Ergänzung, teilweise als Korrektur zu Martin Greschats Löscher-Biographie von 1971. Es will sich nach "der betont geistesgeschichtlich ausgerichteten Monographie Greschats [...] auf die praktisch-theologischen und gemeindebezogenen Seiten der Lebensarbeit Löschers" konzentrieren (208). Auch der Titel von P.s Buch gibt zu erkennen, dass es Löschers Lebenswerk anders gewichten möchte als Greschat.

Nicht vergessen werden darf, dass P. mit einer Arbeit über "Studien zu einer Biographie V. E. Löschers mit einem Katalog der Manuskripte Löschers" 1971 in Leipzig zum Dr. theol. promoviert wurde. Diese Dissertation blieb ungedruckt, und die vorliegende Arbeit beruht auf einer nochmals erweiteren Quellenbasis, die in Gestalt von Ergänzungen und Berichtigungen zur Bibliographie im Anhang der Arbeit dokumentiert sind. Seine Letztgestalt verdankt das vorliegende Buch den Bemühungen von Martin Petzoldt.

Der biographische Aufriss setzt bei Löschers Herkunft und Bildungsweg ein und macht auf die weiträumig und interdisziplinär angelegten Interessen des Studenten aufmerksam, die auch seine Reisen durch Norddeutschland, die Niederlande und Dänemark beeinflussten. Als "Theologe in der Gemeinde" wird er in seiner Wirksamkeit in Jüterbog und Delitzsch vorgestellt. P. spricht an dieser Stelle vom "großen Umschwung in Löschers Einstellung seit 1699" (46, vgl. 34 f.). Die Professur in Wittenberg zeigt Löscher als den "kirchenbewußten Theologen", der auch in seiner Lehrmethode eigene Wege ging (vgl. 59-61).

Das Kapitel "Berufung zum Beruf" befasst sich mit seiner Berufung als Superintendent nach Dresden, als Assessor des Oberkonsistoriums und als Mitglied des Kirchenrats, ein weiteres Kapitel mit den wichtigsten Inhalten seiner Arbeit im neuen Amt, so im Bereich der Theologenausbildung, der Erweiterung der Zahl der Pfarrstellen und des Schulwesens. Löscher als "Der heimliche Hofprediger" und als "Der einsame Wächter" wird in den beiden umfangreichsten Kapiteln des Buches vorgestellt. Dabei geht es P. um die von Löscher auf Grund seines Amtsethos übernommene Rolle dem Kurfürsten und dem Hof gegenüber und damit auch um seinen Widerstand gegen die Übergriffe auf die Rechte der sächsischen Lutheraner. Hier kommt die kirchenpolitische Taktik des Hofes zur Sprache, die unter Beschneidung des durch die Mutter ausgeübten Einflusses auf die Erziehung des Kurprinzen auf die Konversion des Thronfolgers aus war. Löschers "Krise" im Jahr 1720 wurde durch eine Predigt im Juli dieses Jahres und den Wortlaut einer angeordneten Fürbitte anlässlich der Geburt des ersten Sohnes des Kurprinzen ausgelöst. Sie hätte beinahe zur Amtsenthebung des Superintendenten geführt. Die für die Beilegung der Kontroverse gehaltene Predigt Löschers nennt P. "ein Kabinettstück und ein Musterbeispiel für ungeschminkte Verkündigung unter Voraussetzungen, die für die Kirche jedenfalls nicht die günstigsten sein konnten" (121).

Das vom Dresdner Superintendenten gegründete Prediger-Consortium schildert das Buch als ein Institut zur geistlichen Erziehung und Weiterbildung von Pfarrern, die zur Amtsführung in Löschers Sinn angeleitet werden sollten. Weitere Aktionen Löschers wurden am Hof als "staatspolitischer Affront" verstanden, so seine Meinungsäußerungen zu den Unionsplänen des Corpus Evangelicorum (128).

Eine wichtige Rolle spielen in der Arbeit die Spannungen des "einsamen Wächters" mit den Hofpredigern Pipping und Marperger sowie seine Aktivitäten im Zusammenhang mit Bauarbeiten in Dresden, die auf Kosten der Lutheraner der Stadt gingen. Keinen Erfolg hatte er mit seinem Plan der Einrichtung eines interterritorialen theologischen Konvents, der an der Zurückhaltung auswärtiger Theologen scheiterte. P. möchte dennoch nicht mit M. Greschat von einer Ermüdung Löschers seit 1726 sprechen (149) und legt dafür Begründungen vor. Es leuchtet ein, dass er zu den Forschern zählt, die die Rolle Heinrich von Brühls seit 1730 im Blick auf den Stand der lutherischen Kirche in Sachsen äußerst negativ wertet.

Das abschließende Kapitel des Buches vor dem Schlussresümee stellt unter der Überschrift "Einübung in die Kunst des Sterbens" Löschers pfarramtliche und kirchenleitende Tätigkeit zwischen 1740 und seinem Tode dar. P. arbeitet hier nochmals die Rolle des Dresdner Superintendenten im Kontext der politischen Geschichte Sachsens und der Stadtgeschichte Dresdens unter den nun gegebenen Bedingungen heraus.

Zu den neuen und die Forschung anregenden Aspekten des Buches gehören die bereits in der Dissertation des Vf.s erhobenen Ergebnisse zur Frühgeschichte des Herrnhuter Pietismus sowie zur Rolle, die Jakob Heinrich Flemming am Hof spielte, und vor allem zur eher angedeuteten als herausgearbeiteten Rolle der Anna Constanze Gräfin Cossell. Es wäre zu wünschen, dass die mehrfach erwähnten eigenen Forschungen P.s zu diesem Bereich zur Veröffentlichung kämen. Auch die aus den Quellen erhobenen Erkenntnisse zur Geschichte und Kirchengeschichte Dresdens gehören neben der Darstellung der Rolle Löschers selbst zu den Vorzügen der Arbeit.

Förderlich wäre in manchen Partien des Buches die stärkere Einbeziehung des historischen und kirchenhistorischen Gesamtkontextes gewesen. Auch Einzelheiten der Darstellung können gewiss anders beurteilt werden. So z. B. bedarf wohl die Charakterisierung Lübecks um 1690 (26 f.) der Differenzierung- im Unterschied zu einer Reihe von gut gelungenen Skizzen von Situationen und Persönlichkeiten. Löscher kunstgeschichtlich schwache Interessen nachzusagen (34), ist wohl ein Anachronismus. Auch das S. 19, Abs. 2 ausgesprochene Urteil liegt seiner Formulierung nach auf ähnlicher Linie.

Überzogen bzw. irreführend erscheinen mir einige Charakterisierungen des Dresdner Superintendenten, so seine Bezeichnung als "Pietist eigener Prägung mit freilich unterschiedenem Programm" (37). Es ist - gerade im Blick auf die lutherische Orthodoxie um 1700 - nicht nötig, jede Bemühung um persönlich ernst genommene Frömmigkeit sogleich als "pietistisch" zu bezeichnen. Analoges gilt für das Problem der Modernisierung von Gesangbuchtexten (46). Mit dem Urteil, Löscher sei "ein Vater der sächsischen Pfarrerschaft" geworden (136), steht das deutlich differenziertere Urteil S. 207 in Spannung. Ob es angemessen ist, davon zu sprechen, Löscher sei seit 1738 zum "Gejagten" geworden (164)?

P.s Buch hinterlässt den Eindruck warmer Parteinahme für die Person, mit der es sich beschäftigt, und wiederholt ist zu spüren, dass der Vf. in Löschers Biographie eigene Erfahrungen wiedererkennt. Für historische Arbeit ist eine solche Erkenntnis erschließend und förderlich, wenn sie in Erinnerung hält und eigener Erfahrung entgegenstellt, dass immer auch Differenzen zwischen den historischen Epochen bleiben. Unvermittelt gegenwartsbezogene Urteile (etwa wie die S. 21, Anm. 25 oder S. 45) können unangemessene Aktualisierungen historischer Vorgänge hervorrufen. Gleiches gilt von einzelnen Partien des Abschlusskapitels ("Das Bleibende").

Formal fällt die Häufung von Druckfehlern in der Bibliographie (14 f.) und in den Anmerkungen von S. 146 an auf. S. 181, Anm. 6 und S. 190, Anm. 63 und 64 sind offenbar völlig verdruckt. Sind die Namenschreibungen Gruhlich (10) oder Grulich, Kiesling oder Kießling (198) richtig?

Wichtig unter den Bildbeigaben sind die Stichreproduktionen von Löscher-Porträts.

Die Arbeit bleibt ohne Zweifel ein förderlicher und anregender Beitrag zur Erforschung der Kirchengeschichte Sachsens im 17. und 18. Jh. Zum Schluss stellt sich die Frage: War Löscher wirklich "Der unterlegene Sieger" oder nicht eher ein Zeuge für die Kraft von Gebet und Tränen (vgl. 103)?