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Ausgabe: | September/2002 |
Spalte: | 931–934 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Reformationszeit |
Autor/Hrsg.: | Schindler, Alfred, u. Hans Stickelberger [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Die Zürcher Reformation. Ausstrahlungen und Rückwirkungen. Wissenschaftliche Tagung zum hundertjährigen Bestehen des Zwinglivereins (29. Oktober bis 2. November 1997 in Zürich). Hrsg. im Auftrag des Zwinglivereins. |
Verlag: | Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2001. 552 S. m. 16 Abb. 8 = Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, 18. Geb. ¬ 53,70. ISBN 3-906764-38-9. |
Rezensent: | Christian Peters |
Der vorliegende, leicht verspätet erschienene Band resümiert eine Tagung gleichen Titels, die aus Anlass des einhundertjährigen Bestehens des Zwinglivereins in der Zeit vom 29. Oktober bis zum 2. November 1997 in Zürich stattgefunden hat. Angesichts der fast 80 Referate, die während dieser Zeit in drei simultanen Sektionen gehalten worden waren (die Beitragenden kamen zumeist aus der Schweiz und Deutschland, daneben aber auch aus anderen Ländern Europas, den USA und Japan), musste allerdings eine Auswahl getroffen werden. Sie orientierte sich weniger an den drei den Kongress strukturierenden Sektionen ("I. Zeitgenössische Debatten, Kritik und Widerstände", "II. Beziehungen, Ausstrahlungen, Rückwirkungen" und "III. Systematische und theologiegeschichtliche Aspekte") als an den beiden dessen Thema bestimmenden Leitbegriffen ("Ausstrahlungen" und "Rückwirkungen").
Von besonderem Interesse war für die Herausgeber demgemäß auch die "Wirkung nach außen sowie [die] Gegnerschaft bei denjenigen, die nicht zum inneren Kreis der Zürcher Reformation gehörten. Es versteht sich von selbst, dass das 16. Jh. den Vorrang einnahm, ohne daß die späteren Epochen gänzlich ausgeschlossen wurden" (9).
Die nach diesen Kriterien ausgewählten insgesamt 29 Beiträge erscheinen in acht durchaus unterschiedlich dimensionierten Themenblöcken (s. u.). Dabei wurde darauf geachtet, "daß hier mit der älteren auch eine jüngere Forschergeneration zu Wort kommt" (10).
1. Eidgenossenschaft
Alfred Schindler (Der Aufbau der altgläubigen Front gegen Zwingli, 17-42) bietet einen Überblick über die (durchweg ältere) Forschung, markiert zukünftige Aufgaben und beleuchtet an einem Beispiel, dem Unterschreiber Joachim von Grüt (gest. nach 1526), "die zürcherische Opposition gegen Zwingli" (34).
Hans-Jürgen Goertz (Machtbeziehungen in der Zürcher Reformation. Noch einmal: Zwingli und die Täufer, 43-75) betont weniger "das Trennende" als "das Gemeinsame", "die spannungsvolle Beziehung" zwischen Zwingli und den Täufern. Diese machten "dem Reformator die Machtposition streitig, die ihm inzwischen [= August 1526] zugewachsen, aber noch nicht vollends gesichert war. Beide waren in eine Beziehung eingetreten, in der sie sich behaupten mußten. Diese These möchte ich am Modell der Machtbeziehung überprüfen, das Michel Foucault entwickelt hat" (45).
Friedhelm Krüger (Huldrych Zwingli und der Berner Synodus, 77- 85) bietet eine präzise Interpretation des im Wesentlichen auf Wolfgang Capito zurückgehenden Berner Synodus von 1532, durch den die auch für die Berner prekäre Situation des Spätjahrs 1531 aufgefangen und der Fortbestand ihrer Reformation sichergestellt wurde.
Akira Demura (From Zwingli to Calvin: A Comparative Study of Zwingli's Elenchus und Calvin's Briève Instruction, 87-99) beleuchtet die unterschiedliche Bewertung der Schleitheimer Artikel von 1527 durch Zwingli (August 1527) und Calvin (Sommer 1544).
Christoph Burger (Werben um Bullingers Beistand: Calvins Briefe von 1537/38, 101-120) skizziert drei Auseinandersetzungen, in die Wilhelm Farel und Johannes Calvin zwischen 1536 und 1538 verwickelt gewesen sind (Kampf um die geistliche Führungsrolle in Lausanne, Konkurrenz zwischen Bern und Genf, Reibereien zwischen den Fraktionen des Genfer Rates), und rekonstruiert, "wie Calvin versucht hat, Bullinger durch Briefe als Verbündeten in diesen Konflikten zu gewinnen" (101).
2. Oberdeutschland, Oberelsaß
Herbert Immenkötter (Zwingli und die oberdeutsche Reichsstadt Kempten 1525 bis 1533, 123-130) knüpft an eine ältere Arbeit des Vf.s an. In Kempten lieferten demnach "weder die Abendmahlslehre noch die Christologie den entscheidenden Anstoß zur Reformationsentscheidung, sondern die Bilderfrage" (130).
Wolfgang Dobras Beitrag (Zwinglische Kirchenzucht in Konstanz? Die Konstanzer Reformatoren und die Frage des Kirchenbanns, 131-142) basiert im Wesentlichen auf den Ergebnissen der bereits 1993 erschienenen Dissertation des Vf.s (131, Anm. 1).
Hans Ulrich Bächtold (Frauen schreiben Bullinger - Bullinger schreibt Frauen. Heinrich Bullinger im Briefwechsel mit Frauen, insbesondere mit Anna Alexandria zu Rappoltstein, 143-160) gibt einen Überblick über Bullingers Korrespondenz mit Frauen (Briefliste) und beleuchtet dann dessen Briefbeziehung zu einer Adligen im oberelsässischen Rappoltsweiler/Ribeauvillé. Die Korrespondenz umfaßt "15 (16) Schreiben Anna Alexandrias und 10 von Bullinger" (148) aus der Zeit von 1561 bis 1573.
3. Übriges Deutsches Reich
Hellmut Zschoch (Zwingli und Augsburg, 163-176) widmet sich Zwinglis "brieflichen und publizistischen Kontakten zu Augsburg bzw. zu Augsburger Theologen und Bürgern" (164) und korrigiert eine Reihe älterer Fehlurteile: "Eine zwinglische Stadt, wie Zwingli es wollte, ist Augsburg nicht geworden; insofern ist seine reformatorische Strategie dort gescheitert. Zwingli hat aber mit seinem Werben um Augsburg dafür gesorgt, daß es auch keine lutherische Stadt wurde" (175).
Gerhard Müller (Huldrych Zwingli und Landgraf Philipp von Hessen. Eine ungewöhnliche Kooperation, 177-187) berichtet über seine Relecture der bekannten Quellen und konzentriert sich dabei ganz "auf den Dialog zwischen Zwingli und Philipp" (178).
Volker Gummelt (Die Auseinandersetzung über das Abendmahl zwischen Johannes Bugenhagen und Huldrych Zwingli im Jahre 1525, 189- 201) ist der Ansicht, dass die bisher kaum erforschte Kontroverse mehr war als nur der publizistische Auftakt der Abendmahlsstreitigkeiten zwischen Wittenberg und Zürich. Die Gegner nannten sich hier erstmals mit Namen und führten "einer breiten Öffentlichkeit sehr prägnant die Unterschiede [...] ihrer jeweiligen Auffassung vom Abendmahl vor Augen" (200 f).
Wim Janse (Der Heidelberger Zwinglianer Wilhelm Klebitz (um 1533-1568) und seine Stellung im aufkommenden Konfessionalismus, 203- 220) legt eine präzise Detailstudie vor. Die im Titel vorgenommene Verortung des Klebitz ("Heidelberger Zwinglianer") wird in processu aber immer stärker relativiert: "Hinter der Polemik [des Klebitz] verbirgt sich eine Strategie von Irenik; hinter dem umherirrenden Opfer des intoleranten Konfessionalismus steckt der Individualist, der, obwohl theologisch angeregt aus Zürich, Straßburg, Basel und anderswoher [!], sich mit keiner Gruppe oder Bewegung vereinigen kann und auch mit seinem Toleranzbestreben verhältnismäßig vereinzelt dasteht" (219 f.).
Andreas Mühling (Justina und Heinrich - ein Blick in die europäische Kirchenpolitik Bullingers, 221-227) wendet sich gegen "die These von einer schwindenden kirchenpolitischen Bedeutung Zürichs zur Zeit Heinrich Bullingers" (221) und kündigt eine Revision derselben im Rahmen seiner Habilitationsschrift zum Bullingerbriefwechsel an. Schildert sodann exemplarisch Bullingers jahrelange Kontakte zur Kölner Äbtissin von St. Ursula, Justina Gräfin zu Lupfen-Stühlingen (7 Briefe der Gräfin an Bullinger aus den Jahren 1555 bis 1564).
Achim Detmers ("Sie nennen unseren Retter Christus einen Hurensohn und die göttliche Jungfrau eine Dirne". Heinrich Bullingers Gutachten zur Duldung von Juden 1572, 229-259) analysiert Bullingers Verhältnis zum Judentum. Skizziert dessen "Israel-Lehre" und interpretiert zwei von der Forschung bisher nicht berücksichtigte Briefe (Bullinger an Martin Bucer in Straßburg, 8. Dezember 1543 [Urteil über Luthers späte Judenschriften]; Bullinger an Georg von Stetten [1520-1573] in Augsburg, 10. Juni 1572 [Gutachten zur Duldung von Juden]): "Auch wenn sich das Gutachten Bullingers - anders als die Judenschriften Luthers - nicht nachteilig auf die jüdische Gemeinschaft ausgewirkt haben dürfte, so ist doch unverkennbar, dass sich Bullinger in der generellen Tendenz nur wenig von Luther unterscheidet. Beide Reformatoren raten nachdrücklich von einer Duldung der Juden ab" (250).
W. P. Stephens (Bullinger's Sermons on the Apocalypse, 261-280) legt dar, dass Bullinger - anders als Luther - die Offenbarung des Johannes hoch geschätzt, verteidigt und in toto christologisch ausgelegt hat (1555f.): "The appeal of the sermons lay in large part in their relevance, both theological and practical, to the sufferings and setbacks experienced by Protestants across Europe. They were dedicated to those exiled for their sufferings and they spoke to all those who had faced the challenge of suffering and persecution" (261).
Martin Brecht (Was war Zwinglianismus?, 281-300) meint - wie die jüngeren Handbücher zeigen -, dass heute vielerorts Schwierigkeiten bestehen, das Phänomen des "Zwinglianismus" präzise zu verorten ("Es könnte also sein, daß die zwinglische Reformation künftig der städtisch-kommunalen Reformation oder dem reformatorischen Spiritualismus subsumiert wird", 281). Angesichts dessen wird hier erhoben, was die Reformationszeit selbst unter "Zwinglianismus" verstanden hat. Das Resümee mahnt zur begrifflichen Sorgfalt: "Präzise verwendet ist Zwinglianismus eine Kategorie in der frühen innerevangelischen Konfessionalisierung mit ganz deutlichen Akzenten in der Sakramentstheologie und -frömmigkeit, zugleich mit bestimmten geographischen Zentren in der Schweiz und einem unterschiedlich und wechselnd identischen Umfeld" (300).
4. England und Schottland
Duncan Shaw (Action, Remembrance and Convenant. Zwinglian Contributions to the Scottish Reformation Understanding of the Lord's Supper, 303-316) markiert die Bedeutung Zwinglis für die Liturgie der Church of Scotland.
J. Andreas Löwe ("The bodie and bloud of Christ is not carnallie and corporallie in the bread and wine". The Oxford Disputation revisited: Zwinglian traits in the Eucharistic Theology of Pietro Martire Vermigli, 317-326): "We can claim with confidence that Vermigli shares many of the concerns laid down by the Zürich Reformers, particularly when examining his sacramental theology. His own sharp distinction between sign and the signified as well as his idea of a spiritual or mental communion, are closely akin to Zwingli's own and rooted in the Zürich reformer's Christology" (325). Der Einfluss Martin Bucers wird dabei aber wohl doch zu gering veranschlagt.
J. Wayne Baker (Erastianism in England: The Zürich Connection, 327-349) entwirft eine Geschichte des englischen "Erastianismus" (so nach Thomas Erastus, 1524-1583) in der Zeit vom späten 16. bis zur Mitte des 17. Jh.s. Lenkt den Blick dabei insbesondere auf dessen Zürcher Wurzeln ("doctrine of the single sphere - the proto-Erastian position - as it is developed in the thought of Zwingli and Bullinger", 328).
Kurt Jakob Rüetschi (Rudolf Gwalthers Kontakte zu Engländern und Schotten, 351-373) bietet eine präzise Untersuchung zum Briefwechsel Gwalthers (1519-1586), der Mitte des 16. Jh.s ein wichtiger Kontaktmann der Zürcher Theologen zur englischen Kirche war.
5. Niederlande, Skandinavien
Frank van der Pol (Handschriftliche Notizen niederländischer Pfarrer in Bibelkommentaren Bullingers und Gwalthers, 377-389) analysiert Benutzerspuren in mehreren Bänden des Kampener Stadtarchivs, die z. T. präzise zugewiesen werden können.
Martin Friedrich (Ausstrahlungen der Zürcher Reformation auf Skandinavien, 391-402) versucht zu zeigen, dass es auch in der frühen dänischen Reformation zwinglianische Strömungen gegeben habe: "Ernst Koch hat, als er die Zwinglianer in Norddeutschland suchte, Fehlanzeige melden müssen: Die angeblichen Zwinglianer waren Schwenckfeldianer. Ich meine, dass Peter Laurentsen [ca. 1485/90-1552] und die anderen ostdänischen Reformatoren durchaus der zwinglianischen Reformation zugerechnet werden können. Die durchgreifende Lutheranisierung in Dänemark nach 1536 hat diese Spuren verwischt, aber nicht völlig zerstört" (402). Hier ist aber wohl doch eher von einem Nachwirken der Anschauungen Andreas Bodensteins von Karlstadt auszugehen.
6. Polen:
Janusz Mallek (Die Zürcher Reformation und Polen, 405-413) trägt einen Forschungsbericht bei (Korrespondenzen, persönliche Kontakte, literarische Beziehungen). - Erich Bryner ("Den rechten Glauben bewahren". Bullingers Anliegen in seinen Briefen an polnische Theologen 1556 bis 1561, 415-424) skizziert die Inhalte dieser Korrespondenz unter sechs Aspekten (Einführung der Reformation in Polen, Errichtung von theologischen Schulen, innerprotestantische Ökumene, Kampf gegen Häresien, Personalia und Persönliches). Die Beziehung war spannungsvoll und intensiv: "Den Briefen folgten lange, gründliche theologische Abhandlungen zu Christologie und Trinitätslehre. Doch all diese Bemühungen konnten Aufsplitterung und Verfall der reformierten Kirche in Polen nicht aufhalten" (424).
Lorenz Hein (Das Zweite Helvetische Bekenntnis und der Sandomirer Konsens von 1570, 425-431) bearbeitet die Entstehung der Sandomirer Konfession von 1570, die die Confessio Helvetica Posterior von 1566 ins Polnische übertrug und erstmals eine Gottesdienst- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen Reformierten, Lutheranern und Böhmischen Brüdern ermöglichte.
7. Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert
Angelika Dörfler-Dierken (Luther und Zwingli in Amerika. Der Zwinglianismusvorwurf als kirchenpolitische Taktik neokonfessioneller Lutheraner, 435-469) überprüft den Zwinglianismusvorwurf gegen Samuel Simon Schmucker, "den anerkannten Führer des amerikanischen Luthertums zwischen etwa 1825 und 1855" (435).
Thomas K. Kuhn (Reformator - Prophet - Patriot. Huldrych Zwingli und die nationale Besinnung der Schweiz bei Leonhard Ragaz, 471- 482) rekonstruiert Ragaz' Zwinglibild, "erhellt Zusammenhänge zwischen Zwingli und der Geschichte des schweizerischen Nationalbewußtseins [...] und fasst Zweck und Ziel der Ragazschen Zwingli-Rezeption in Thesen zusammen" (472).
8. Besondere Medien der Rezeption
Max Engammare (Apports zurichois étonnants et remarquables à l'histoire des Figures de la Bible [Bilderbibeln] 1530-1780, 485-519) legt einen reich illustrierten Beitrag zur Geschichte der sog. Bilderbibeln vor.
Helmut Meyer (Zwingli im Schulbuch, 521-531) referiert die Darstellung Zwinglis in schweizerischen Schulbüchern der Zeit seit 1870. Dann folgen noch ein - bei einem Buch dieses Umfangs wohl doch besser zu trennendes - "Register der Personen- und Ortsnamen" (533-549) sowie ein "Verzeichnis der Mitarbeiterin und der Mitarbeiter" (551 f.).
Resümee: Ein facettenreicher und sorgfältig gestalteter Band. Hervorgehoben seien vor allem die zahlreichen Beiträge aus der jüngeren Bullingerforschung. Zumindest zu registrieren sind daneben aber auch die deutlichen Anfragen zur Verortung der zwinglischen Reformation. Und schließlich: Inwiefern es tatsächlich angemessen ist, auch das so vielschichtige und weitgespannte Wirken Heinrich Bullingers unter den Zwinglianismus zu verbuchen, bleibt eine spannende Frage.