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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

929 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Matz, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 279 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 81. Geb. ¬ 49,00. ISBN 3-525-55189-4.

Rezensent:

Michael Basse

Ziel der Untersuchung (Diss. theol. Univ. Bonn 1998/99) ist es, die Entwicklung von Melanchthons Willenslehre aufzuzeigen. Der Hauptteil der Arbeit besteht aus einer Einzelanalyse ausgewählter Schriften von der Theologica Institutio aus dem Jahre 1519 bis zum Liber de anima von 1553. Den Nachteil gewisser inhaltlicher Doppelungen hat der Vf. bewusst in Kauf genommen, um die Genese im Detail nachzeichnen zu können. Dabei führt der Vf. zunächst in die Entstehung und die historischen Umstände der jeweiligen Schriften ein, bevor dann deren Hauptaussagen analysiert und ausgewertet werden.

Melanchthons Willenslehre entwickelt sich in der Zeit von 1518 bis 1521 im Spannungsfeld von humanistischen Denktraditionen einerseits und dem Anliegen reformatorischer Theologie andererseits (27-38). Am Ende dieser ersten Phase dominiert die Auffassung von der Unfreiheit des Willens, ohne dass die Grundspannung zwischen einem unfreien Willen coram Deo und einer Willensfreiheit coram mundo ausgeglichen ist. Dieses zeigt sich auch noch in den Loci communes von 1521, insofern hier die Willensfreiheit in äußeren Dingen so sehr von der Prädestinationslehre eingeschränkt wird, dass sie kaum noch plausibel gemacht werden kann. Weiterhin wird deutlich, dass in Melanchthons Willenslehre die reformatorische Theologie Luthers und die humanistische Anthropologie parallel liefen (39-78). Während Melanchthon in der Frontstellung gegenüber der scholastischen Gnaden- und Verdienstlehre ganz auf der Seite Luthers stand, unterschied er sich von diesem doch dadurch, dass er die Rechtfertigung als ein "effektives Geschehen im Menschen" (74) betrachtete, dessen pneumatologische Begründung humanistischen Einfluss erkennen lässt. So operiert Melanchthon zur Beschreibung der Effekte, die der Heilige Geist im Menschen wirkt, mit "substanzontologischen Strukturen" (75), ohne sie zu verfremden, wie es Luthers radikalem "Analogie-Bruch" (W. Joest) entsprochen hätte.

Hat Melanchthons Ohnmacht gegenüber den Zwickauer Propheten während der Wittenberger Unruhen 1521/22 in dieser pneumatologischen Konzeption seiner Anthroplogie ihren tieferen Grund, so werden die Veränderungen, die sich dann in Melanchthons Willenslehre zwischen 1522 und den Scholien zum Kolosserbrief 1527 zeigen, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Bauernkrieges sowie des theologischen Streites um die Willensfreiheit zwischen Luther und Erasmus nachvollziehbar (79-107). Durch Differenzierungen sowohl innerhalb der Affektenlehre als auch des Gesetzesverständnisses wird die Unfreiheit des menschlichen Willens coram Deo schärfer gefasst und zugleich die Freiheit in äußeren Dingen so begründet, dass die Verantwortung menschlichen Handelns für die Ordnung weltlicher Gerechtigkeit eingefordert werden kann. Diese Linie setzt sich in den Fragmenta locorum communium von 1533 fort (108-138), bis dann in den Loci communes von 1535 Gesetz und Evangelium so präzisiert werden, dass mit der Unterscheidung von Rechtfertigung und Heiligung auch der von Gott befreite Wille des Menschen zur Geltung gebracht wird (139-158). Wesentliche Impulse gingen dabei von Melanchthons Beschäftigung mit dem Römerbrief sowie den Auseinandersetzungen mit Agricola und mit Servet aus. Der Hinweis darauf, dass die Veränderungen in Melanchthons Willenslehre auch "von den persönlichen Erfahrungen in den 1520er Jahren her zu verstehen sind" (138), bleibt allerdings unscharf, wenn nicht auch Melanchthons Rolle bei den Visitationen und sein daraus resultierender Einsatz für die religionspädagogische Theoriebildung sowie deren schulpraktische Umsetzung gerade in ihrer Bedeutung für die Willenslehre zur Sprache kommen.

Vor dem Hintergrund der Religionsgespräche 1539 und 1540/41 und hier vor allem im Blick auf den Dissens in der Erbsündenlehre wird verständlich, warum Melanchthon seine Willenslehre dann 1543 in den Loci praecipui theologici im Kontext der Lehre von der Kirche entfaltet hat (159-191), ging es ihm doch nunmehr darum aufzuzeigen, "dass der Mensch mit seinen Fähigkeiten vollständig in die sichtbare Kirche eingebunden ist" (185). Ist damit die theologische Entwicklung von Melanchthons Willenslehre zum Abschluss gekommen, so werden diese Präzisierungen auch in der fortwährenden Auseinandersetzung mit Aristoteles zur Geltung gebracht. Während Melanchthon 1546 in seinem Ethik-Kommentar unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Differenz zwischen theologischer und philosophischer Ethik die unverzichtbare Funktion des von Gott befreiten Willens für die Heiligung herausgearbeitet hat (192-213), wird der Wille dann 1553 im Liber de anima "fest eingebunden in die physiologische und die psychologische Struktur des Menschen" (229).

Abschließend werden dann noch einmal die fünf Phasen der Entwicklung von Melanchthons Willenslehre sowie deren leitende Gesichtspunkte zusammengefasst (232-248). Insgesamt leistet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag dazu, dass Melanchthons Theologie in ihrer Eigenständigkeit erfasst und "weder als Kopie noch als Abschwächung oder Verdunkelung von Luthers Theologie wahrgenommen" wird (250).