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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

922–914

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hasse, Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569 bis 1575.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 493 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 5. Geb. ¬ 43,00. ISBN 3-374-01748-7.

Rezensent:

Irene Dingel

Die Leipziger Habilitationsschrift wählt ihren Ausgangspunkt bei der historischen Tatsache, dass Bücherzensur keineswegs nur im Katholizismus geübt wurde und daher als dessen Charakteristikum angesehen werden könnte, sondern auch im Protestantismus von Bedeutung war und gezielt eingesetzt wurde. Dabei handelte es sich in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s, auf die sich diese Untersuchung konzentriert, keineswegs um ein Novum. Dass Druckmanuskripte vor ihrer Publikation einer Prüfung unterzogen wurden, galt - so stellt der Autor heraus - inzwischen als normal. Denn ohnehin hatte seit dem Wormser Reichstag von 1521 und dem in diesem Zusammenhang erlassenen kaiserlichen "Gesetz der Druckerei" sowie der Einführung der Vorzensur an der Universität Wittenberg eine Entwicklung eingesetzt, die auf die Ausprägung sowohl reichsrechtlicher als auch landesrechtlicher Zensurbestimmungen hinauslief.

Dennoch ist die Frage der Zensur, ihrer Ausübung und ihrer Wirkungen bisher in der protestantischen Kirchengeschichtswissenschaft kein Thema gewesen. Hasse betritt deshalb mit dieser Arbeit Neuland. Selbst wenn er seinen Untersuchungsgegenstand auf einen territorialgeschichtlich begrenzten Raum, nämlich das Kurfürstentum Sachsen, und einen Zeitabschnitt von lediglich sechs Jahren, 1569-1575, zuschneidet, so kann er hier dennoch an einzelnen, quellenmäßig gut überlieferten und deshalb fassbaren Fällen in exemplarischer Weise Strukturen und Mechanismen der Zensur vor Augen führen, um am Beispiel nachzuzeichnen, wie die Zensur im protestantischen Zusammenhang im 16. Jh. überhaupt funktionierte. Die Untersuchung folgt dementsprechend den Fragen nach den Motiven und Zusammenhängen sowie den Trägern der Zensur in Kursachsen. Sie leuchtet den rechtlichen und institutionellen Hintergrund aus, betrachtet die Mittel, die man einsetzte, um den Buchmarkt zu kontrollieren, fragt nach den Objekten der Zensur, d. h. welche Bücher konfisziert und auf Indices gesetzt wurden, forscht nach den Personen, die für die Begutachtung von Druckmanuskripten zuständig waren und nach denjenigen, die Zensurgutachten in Auftrag gaben. Die gewählte Zeitspanne ist überdies insofern von übergreifendem Interesse, als sich Kursachsen in jener Periode unter Kurfürst August, in Abgrenzung vom Flacianismus einerseits und von einem zum Calvinismus tendierenden Philippismus andererseits, zum entschiedenen Förderer der lutherischen Konfessionsbildung mit der Konkordienformel entwickelte. Die Zensur erscheint als Instrument der Konfessionalisierung im Sinne konfessionell lutherischer Vereinheitlichung eines Territoriums und als Aspekt von "Sozialdisziplinierung".

Zugleich aber handelt es sich bei jenen sechs Jahren um eine besonders brisante Phase der Kirchengeschichte, nämlich den Sturz des sogenannten Kryptocalvinismus in Kursachsen und seine Vorgeschichte. Damit begibt sich der Autor auf ein Problemfeld, das schon lange eine genauere Untersuchung verdient hätte. Die - mit wenigen Ausnahmen - überwiegend aus dem 19. Jh. stammende Literatur dazu ist angesichts der Fragestellungen heutiger Forschung längst nicht mehr befriedigend. H. leistet mit seiner Habilitationsschrift einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung dieser Lücke. Denn über der Frage nach der Zensur und ihren Verlaufsformen erhebt er zugleich die Bezüge, aus denen die für den philippistisch-calvinisierenden Lehr- und Bekenntnisstand des Kurfürstentums ausschlaggebenden Schriften hervorgingen, wie z. B. der als Ersatz für flacianisch interpretierte Katechismen konzipierte Wittenberger Katechismus Christoph Pezels, der Consensus Dresdensis, die Grundfeste, die schließlich den Eklat herbeiführende Exegesis perspicua des Joachim Curaeus und die Torgauer Artikel von 1574, die zu einer Luther und Melanchthon möglichst verbindenden Theologie wieder zurückführen sollten. Dabei kommen die vielschichtigen Beziehungen zwischen dem kursächsischen Hof mit seinen politischen Räten und den Theologen des Landes, deren Verbindungen ins calvinistische Ausland und die Einflussnahmen aus Genfer Kreisen ebenso in den Blick. Licht fällt auf die Rolle des Kurfürsten und der nicht wenig einflussreichen Kurfürstin Anna sowie auf das Wirken der Hofprediger und Theologieprofessoren an den Universitäten Wittenberg und Leipzig, der Räte und Juristen am Hof und im Konsistorium. Interessant ist zu sehen, wie die Zensur zunächst die Flacianer traf, die ihre Kritik an der obrigkeitlich geübten Kontrolle und Beschränkung theologischer Bücher im Rahmen des von ihnen entwickelten Widerstandsrechts vertraten, bevor schließlich die calvinistischen oder zum Calvinismus tendierenden Erzeugnisse Zielscheibe der Zensur wurden. Sächsische Buchhändler mussten Listen der von ihnen angekauften Literatur erstellen und vorweisen. Konfiskationen waren üblich.

Bei der S. 164 mit Anm. 113 erwähnten, unter dem Pseudonym Christianus Hessiander erschienenen Abendmahlsschrift des Christoph Herdesianus (Hardesheim) handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit entweder um "Refutatio dogmatis de fictitia carnis Christi omnipraesentia", Genf 1571, oder um die Abhandlung "De communicatione et vivifica virtute carnis Christi", die zunächst im 2. Band der "Tractationes theologicae" Theodor Bezas erschienen war, zu Beginn des Jahres 1574 aber auch als Separatdruck in Heidelberg herauskam (vgl. Correspondance de Théodore de Bèze XII, Nr. 823, S. 46 f. mit Anm. 3 und Correspondance XV, Nr. 1049, S. 34-37 mit Anm. 6).

Es kam eine regelrechte landesherrliche Literaturpolitik in Gang, zu der auch - sozusagen als Kehrseite der Indices - die gezielte Propagierung und der Neudruck von Schriften Luthers und Melanchthons gehörte: eine "Publikationsoffensive", so der Autor. Denn schließlich ging es darum, angesichts der Tatsache, dass Melanchthon von den zum Calvinismus tendierenden Theologen als Gewährsmann in Anspruch genommen worden war, den Einklang beider Reformatoren zu propagieren. Dennoch landeten auch Schriften Melanchthons auf dem kursächsischen "Index".

So ersteht, vor allem auf der Basis der reichen archivalischen Quellen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden, ein zwar in erster Linie historisch-theologisch, aber auch sozialgeschichtlich aufschlussreiches Bild, das der Autor durch den Abdruck verschiedener, nur handschriftlich überlieferter Quellen im Anhang seines Buches illustriert. Seine umsichtige Quellenanalyse und unvoreingenommene Darstellung machen die Untersuchung zu einem wichtigen Beitrag nicht nur für die Zensurgeschichte, sondern auch für all jene, die sich mit der Zeit der lutherischen Konfessionalisierung und den Strukturen von Bekenntnisbildung und allmählicher Normierung eines Bekenntnisstandes beschäftigen.