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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

914–918

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pfeiffer, Matthias

Titel/Untertitel:

Einweisung in das neue Sein. Neutestamentliche Erwägungen zur Grundlegung der Ethik.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 348 S. gr.8 = Beiträge zur evangelischen Theologie, 119. Lw. ¬ 39,95. ISBN 3-579-05314-0.

Rezensent:

Wolfgang Schrage

Es handelt sich um eine von Hans Weder betreute Zürcher Dissertation aus dem Jahr 1999, die den großen Einfluss des Doktorvaters deutlich zu erkennen gibt. Sie ist stark von hermeneutisch-systematischen Interessen geprägt und exegetisch nur z. T. zu beurteilen. Der Vf. konzentriert sich auf das, was früher in der vielleicht etwas unglücklichen Formel Indikativ/Imperativ mit dem das Handeln begründenden Heilsindikativ umschrieben wurde und hier mit "Grundlegung der Ethik" bezeichnet wird. Diese wird an ausgewählten Textbeispielen, die den Intentionen des Vf.s besonders entgegenkommen, meist überzeugend, wenngleich z. T. etwas einseitig herausgearbeitet und vor allem dem neuzeitlichen Verständnis der Ethik konfrontiert, die als naturwissenschaftlich, autonom, subjektivistisch, hybrid u.ä. diagnostiziert wird.

Der mit "Hinführung" überschriebene Teil I (13-50) beginnt mit einem Abschnitt über "Wahrnehmungen des Ethischen" bei den beiden Vorsokratikern Anaximander und Heraklit (hier bilden Ontologie und Ethik eine Einheit) und in der Neuzeit. Für diese steht repräsentativ H. Jonas (26-30), bei dem die Ethik im "Bann der Technik" verbleibe und der Mensch als autonomes Subjekt über die Zukunft des Menschen und der Welt entscheide (30). Nach M. Heidegger dagegen (31-44) könne sich der neuzeitliche Mensch zwar auch vom wissenschaftlich-technischen Denken nicht lösen, wohl aber die Freiheit als Selbsttäuschung durchschauen, ja "Hirte des Seins" werden, wenn er "auf das entscheidende Denken zu warten" vermag (42), "sich von der Wahrheit des Seins ansprechen" (43) und von ihm "auch die Weisungen zuschicken" lässt (38). Seine eigene Position, die das hermeneutische Potential des NT zu erschließen versucht, verdeutlicht der Vf. im Anschluss an Heidegger so, dass die Frage nach dem Handeln des Menschen erst gestellt werden könne, "wenn zuvor die Fragen nach dem Verständnis der Welt, des Menschen und dem Sein des Menschen in der Welt im jeweiligen Wirklichkeitsentwurf geklärt worden sind" (44). Dabei werde im NT "von der Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes" ausgegangen, "der seine Schöpfung in die Wahrheit des Seins zurückgerufen" habe (45) und zur "Sensibilität für die Würde der Welt und des Nächsten" leite (9). Schon hier wird erkennbar systematisiert, was sich z. T. auch bei den folgenden Exegesen bemerkbar macht, wobei auf die literarkritischen, traditionsgeschichtlichen u. ä. Fragen hier nicht eingegangen werden kann.

Teil II ("Der Mensch außerhalb der Wirklichkeit Gottes") beginnt 1. mit der Behandlung von Mk 1,21-28 ("Der Mensch als Besessener"). Hier hat sich der Mensch gerade nicht in der Hand und erscheint nicht als Herr seiner selbst (54), sondern ist auf Heilung und Befreiung angewiesen. Nach Darstellung der Chancen und Grenzen existentialer Interpretation, die die Bedrohlichkeit der Mächte nicht eskamotieren dürfe, wird der Text mit Recht in den eschatologischen Kontext eingeordnet (Lk 11,20; Mt 12,28), der vorrangig präsentisch bestimmt wird. Dass die Gottesherrschaft "nicht nur zeichenhaft, sondern real im vergehenden Äon präsent" werde (66), provoziert freilich die Frage, ob denn Zeichen nicht real sind. Erst recht die Rede von einer "Auferstehung der Toten im Jetzt" (74; ähnlich 93) scheint mir als Interpretation wenig angemessen, und die wegen eines angeblich chronologischen Zeitverständnisses abgelehnte Interpretation E. Käsemanns im Sinne eines "Vorspiels" (72, Anm. 94) die Sache dagegen eher zu treffen. 2. Bei seiner Exegese von Röm 7,7-25a ("Der Mensch als Sünder") findet der Vf. bestätigt, dass der Mensch ohne Glauben der Sünde ausgesetzt ist, ja sich auch sein ethisch überlegtes Handeln verhängnisvoll auswirken kann, wenn er sich mit "Werken des Gesetzes" Gerechtigkeit zu verschaffen sucht (88). Dass seine abgrundtiefe Verlorenheit, für die das ethische Scheitern lediglich Reflex ist, ihren eigentlichen Grund aber in der "gesetzlichen Verfaßtheit des Seins" habe (92), kann ich im Text nicht erkennen (der Passus ist doch gerade eine Apologie des Gesetzes, wie der Vf. selbst im Anschluss an G. Bornkamm u. a. richtig feststellt). 3. Bei Joh ("Der Mensch in der Finsternis") greift der Vf. weit aus, diskutiert das Verhältnis von Prolog und Evangelium sowie von 1,14a und 1,14b und erschließt dann aus den Schöpfungsaussagen (Joh 1,3.8), dass auch Joh "sich damit entschieden den Träumen einer sich autonom wähnenden Welt widersetzt" (114), ebenso freilich einer dualistischen Abwertung der Welt. Der inkarnierte Logos als Licht der Welt sei "der schöpferische Grund der Welt und der Menschen" (121), und der Glaubende könne wissen, dass "nicht das ethische Tun über Tod und Leben entscheidet" (128). Jedenfalls sieht der Vf. auch hier eine rezeptive und "zutiefst von der subjektivistischen Welt- und Selbstauslegung des neuzeitlichen Menschen" unterschiedene Anthropologie in Erscheinung treten.

Teil III ("Der Mensch in der Wirklichkeit Gottes") gilt dann Texten, die den Menschen dazu bewegen sollen, "sich in das neue Sein des Glaubens einweisen zu lassen" (151). Der 1. Abschnitt ("Die Freigabe der Welt") untersucht das Gleichnis von Mk 4,26-29, das für besonders geeignet gehalten wird, "um die Grundhaltung der Ethik Jesu zu behandeln" (153), was angesichts anderer Texte freilich schon eine bestimmte Vorentscheidung impliziert. Nach einer Skizze der modernen Gleichnisforschung (Gleichnisse als Metaphern) kommt der Vf. zu dem Ergebnis, dass im Licht der nahen Gottesherrschaft die Gleichnisse "das Geheimnis der Weltwirklichkeit inmitten der vertrauten Welt" (162) bzw. ihre "eschatologische Würde als Schöpfung Gottes" aufstrahlen lassen (184). Vor allem aber, und dem ist nicht zu widersprechen, erscheine das reife Korn "im Licht des nahen Eschaton nicht mehr als Produkt des für sich selbst sorgenden Menschen, sondern zutiefst als Gabe des für die Welt sorgenden Gottes, der seine Herrschaft endgültig aufrichten wird" (190). 2. ("Einübung des neuen Seins") beschäftigt sich mit "grundlegenden Überlegungen zum Leben in der christlichen Gemeinde" in 1Kor 12, wo die Geistbegabung als "die Lebensgrundlage glaubender Existenz" zur Geltung komme (211 f). Speziell aus den V. 4-6 wird zutreffend "das Angewiesensein auf die schöpferische Macht Gottes" entnommen, wobei die zugeteilten Dienste "unmittelbar dem andern und der Welt zugute" kommen (216 f.). Nach Ausführungen zum anthropologischen und ekklesiologischen soma wird V. 27 als performativer Sprechakt bestimmt, der den Korinthern nicht nur "eine neue Wahrnehmung der Welt im Licht des Christus", sondern "das Wunder der Menschwerdung des Menschen" "zuspielen" soll (231). Eine Verdichtung der paulinischen Ethik findet der Vf. in Gal 5,25, wo es um den "Einklang" mit der schöpferischen Macht des Geistes gehe (244f.) und nicht einfach an das subjektive Handlungsvermögen der Glaubenden appelliert werde. So richtig das ist, fragt sich jedoch, ob dieser Einklang für Paulus schon damit erreicht ist, dass sich der Mensch "zum Glauben bewegen läßt" (246 f.). Nicht zufällig wird denn auch von den folgenden konkreten Mahnungen weitgehend abgesehen. Von einer Anerkennung der "Würde der Schöpfung" und einer "Freude am Beziehungsreichtum der Schöpfung" (248 f.) vermag ich im Text wiederum kaum etwas zu erkennen, ebensowenig von einer Einkehr "in die Wahrheit des Seins" (261). 3. wird eingehend Joh 15,1-17 ("Bleiben in der Liebe") ausgelegt. Auch diese in die johanneische Grundlegung der Ethik Einblick gewährende Bildrede stellt nach dem Vf. jede Ethik fundamental in Frage, "die mit dem Menschen als einem autonomen handlungsfähigen Subjekt rechnet" (274), wie vor allem V. 5 ("Ohne mich könnt ihr nichts tun") verdeutlicht. Die "metaphorische Selbstprädikation" in V. 1 aber entdecke "in der weltlichen Wirklichkeit des Weinstocks mit seinen Rebzweigen voller Trauben die Herrlichkeit des Leben austeilenden Christus" (284).

Der Vf. legt eine gescheite und nachdenkenswerte, allerdings oft breit und redundant geschriebene Arbeit vor, die Zustimmung, aber auch manche Kritik verdient. Seiner vom NT her gewonnenen Kritik am neuzeitlichen Menschen, der sich mit seiner autonomen Ethik als Herrscher der Welt aufspielt und diese nur noch als Potential und Ressource und nicht mehr als Schöpfung wahrnimmt, wird man gewiss zustimmen. Dass aber umgekehrt dem Glaubenden die Welt "als der elementar gewährte Lebensraum" erscheine, "der ihn vom ersten Augenblick an, da er die Welt erblickte, geborgen" hat (84) bzw. ihm die Phänomene der Welt "in ihrer eigenen Würde erscheinen" (87), halte ich für eine Überzeichnung, nicht nur exegetisch vom Seufzen und Stöhnen der Schöpfung (Röm 8,18 ff.), vom Sein des Menschen in phthora in dieser Weltzeit (1Kor 15,42- 45) u.a. her, sondern auch von dem heute besonders bedrängenden Fehlen auch nur der geringsten Lebenschance schon unzähliger Säuglinge her, die "vom ersten Augenblick an" dem Hungertod ausgeliefert sind usw. Mir fällt es als einem auf einer Wohlstandsinsel privilegiert Lebenden schwer, angesichts des Massenelends und den alles andere als erfreulichen Alltagserfahrungen in vielen Teilen der Welt so ungeschützt und verallgemeinernd zu erklären, dass für die Glaubenden "in den alltäglichen Erfahrungen von Freude die eschatologische Freude" aufleuchtet (276). Nicht ganz zufällig tritt die futurisch-eschatologische Begründung der Ethik als Verheißung (vgl. nur den Lohngedanken bei Jesus und in den Evangelien oder 1Kor 15,58 u. ä. Stellen) wie als Gericht stark zurück. Der Gerichtsgedanke etwa wird offenbar als bloß sekundär angesehen, wenn z. B. zu Joh 3,20 f. die Frage gestellt wird, ob die johanneische Gemeinde "im Horizont der universalen Liebe Gottes zur Welt" "das eschatologische Gericht überhaupt noch denken" könne (126), oder wenn zu Gal 6,7-9 gar von einem "Rückfall" gesprochen wird (187 f.).

Der Vf. betont mit Recht die Liebe als Frucht des Geistes, lässt aber kaum etwas darüber verlauten, dass sie bei Markus, Paulus und Johannes ebenso Gebot ist und die Paränese z. B. bei Paulus keineswegs nur "die Gestalt der Bitte" hat (264). Wenn man in 1Kor 12,31a bloß einen "ironischen Klang" vernimmt (233), wäre das mit 14,1 abzugleichen, wo unzweifelhaft imperativisch das menschliche zeloun angesprochen wird. Dass das Wollen und Vollbringen Gott zugeschrieben wird (Phil 2,13), nimmt den Imperativen von V. 12 und V. 14 f. nichts von ihrem Gewicht (zu 263, Anm. 237). Dass alles und also auch das christliche Leben in all seinen Bezügen und Konkretionen Gabe Gottes ist (1Kor 4,7 u. ö.), legt den Christen nicht auf eine rein passive Rolle fest und lässt neben der Gabe die darin implizierte Aufgabe nicht verblassen. Gewiss ist bei Johannes das kathos primär begründend und erst dann vergleichend und der Imperativ "nicht als Einschränkung des indikativischen Zuspruchs" zu verstehen (288), sondern in das eschatologische Handeln Gottes zu integrieren (291), es fragt sich jedoch, ob die von R. Bultmann u. a. betonte Dialektik von soteriologischen und ethischen Aussagen vom Vf. nicht doch unzulässig entschärft wird. Der mehrfach negativ apostrophierte "naive Synergismus" (G. Theißen) ist im NT wohl doch stärker präsent, als dem Vf. lieb ist, und wenn man zwischen soteriologischem und ethischem "Synergismus" differenziert, tritt das für die Ethik noch deutlicher hervor und ist dann m. E. alles andere als naiv (vgl. 1Kor 3,9 u. ö.).

Schon deshalb sollte auch die heute von vielen Christen angemahnte "Bewahrung der Schöpfung" nicht so negativ bewertet werden, wie es beim Vf. geschieht, als ob damit die creatio continua geleugnet, der Mensch gar "in die Position Gottes" gerückt und "ganz auf sich selbst und sein Handeln zurückgeworfen" werde (47 f.). Christen, die zur Bewahrung der Schöpfung aufrufen, wollen nicht die Rolle des Atlas übernehmen und die Ethik soteriologisch überfordern, sondern als vom Schema dieser Welt Befreite und in Verantwortung Gestellte von der ruinösen Ausbeutung der Schöpfung zurückrufen, und zwar ganz konkret. Beim Vf. aber bleibt die zur Einweisung gehörende konkrete Anweisung weitgehend unbeachtet, aber nicht von ungefähr, um nur ein vom Vf. selbst (255 f.) kurz erwähntes Beispiel zu nennen, begegnen schon in der Taufkatechese Tugend- und Lasterkataloge (Gal 5,19 ff.), d. h. "Einweisung" und konkrete Anleitung zur christlichen Identität sind von vornherein eng miteinander verbunden. Gewiss wäre es von der Fragestellung des Vf.s her unbillig, eine konkrete Entfaltung zu erwarten, doch mindestens ansatzweise und beispielhaft hätte deutlich gemacht werden können, dass es keine "Einweisung in das neue Sein" ohne eine solche in ein neues konkretes "Sollen" gibt, auch wenn man das nicht auf ein und dieselbe Stufe stellen darf.

Ein Problem bildet auch die Auswahl der Texte, nicht nur, was die drei Autoren Markus, Paulus und Johannes (warum gehören z. B. Matthäus und Lukas nicht zu den "theologischen Hauptlinien" [140]?), sondern vor allem, was die ausgewählten Texte der drei neutestamentlichen Autoren betrifft. Inwiefern z. B. gerade das Gleichnis in Mk 4 typisch für die markinische oder jesuanische Grundlegung der Ethik ist, wäre erst noch zu begründen. Auch die paulinische Ethik kennt viele mindestens ebenso zentrale Texte wie 1Kor 12, die andere Akzente setzen. Diese Rückfragen sollen die Qualität und Originalität vieler hier nicht zu referierender Beobachtungen zum Text und zur neuzeitlichen Anthropologie nicht in Frage stellen, wohl aber zur kritischen Lektüre des Buches einladen.

Die Literaturauswahl ist recht einseitig und fast ausnahmslos auf deutschsprachige Literatur beschränkt. Im Literaturverzeichnis sind nur vier englischsprachige Autoren verzeichnet (vor allem das Fehlen zahlreicher Ethiken und einschlägiger Monographien macht sich hier empfindlich bemerkbar), daneben noch ein einziger französischer Aufsatz und Kommentar. Außerdem kommt das umfangreiche Literaturverzeichnis nicht recht zur Geltung, da der Vf. sich allzu oft auf dieselben Gewährsleute stützt. Leider fehlen Register, die das eindrücklich belegen würden. Das Buch ist sorgfältig redigiert und enthält kaum Druckfehler (78, Z. 1 muss es ein neues, 170, Z. 5 und 171, Z. 2 muss es bale und 238, Anm. 142 Z. 4 zur statt der heißen).