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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

912–914

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nikolakopoulos, Konstantin

Titel/Untertitel:

Die "unbekannten" Hymnen des Neuen Testaments. Die orthodoxe Hermeneutik und die historisch-kritische Methode. Exegetische und theologische Deutung neutestamentlicher Stellen unter Berücksichtigung des orthodoxen Kultus.

Verlag:

Aachen: Shaker 2000. 172 S. gr.8 = Veröffentlichungen des Instituts für Orthodoxe Theologie, 7. Kart. ¬ 19,50. ISBN 3-8265-7719-1.

Rezensent:

Thomas Söding

Nach wie vor sind die Prämissen, Methoden und Resultate orthodoxer Exegese im Westen zu wenig bekannt. Die Vorurteile sind schnell bei der Hand: An der Orthodoxie sei die Aufklärung vorübergegangen; deshalb komme sie als gleichberechtigte Partnerin bibelwissenschaftlicher Diskussion allenfalls auf dem Felde der Textkritik in Betracht, nicht aber bei der konkreten Auslegungs- und historischen Rekonstruktionsarbeit. Tatsächlich zeigen sich im exegetischen Bereich wegen der ähnlichen Hermeneutik und identischen Methodik zwischen Katholiken und Protestanten weit intensivere Möglichkeiten einer ökumenischen Verständigung auf wissenschaftlicher Basis. Um so wichtiger ist es, den Dialog mit Orthodoxen zu intensivieren- nicht, um sie langsam an die westlichen Standards heranzuführen, sondern um die Prämissen historischer Kritik auf den Prüfstand zu stellen und gemeinsam ein vertieftes Schriftverständnis zu erarbeiten.

Die vorliegende Arbeit eines orthodoxen Neutestamentlers leistet einen wichtigen Gesprächsbeitrag. Sie stellt die gedruckte Fassung einer Habilitationsschrift dar, die 1998 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät zu München angenommen worden ist. Der Vf. hat den Standortvorteil, den ein Institut für Orthodoxe Theologie in der Nachbarschaft beider Münchener Fakultäten bietet, trefflich genutzt. N. ist tief in orthodoxer Hermeneutik verwurzelt, aber er kennt die westliche Alternative aus lebendiger Anschauung. Nicht zuletzt ist er von F. Hahn beeinflusst, der sich des Habilitationsprojekts besonders angenommen hat.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste, auf Wunsch der Habilitationskommission hinzugefügt, setzt theoretisch an, indem er die Hermeneutik orthodoxer mit derjenigen historisch-kritischer Exegese vergleicht (13-50). Der zweite, die Keimzelle der Studie, widmet sich der Exegese von Eph 5,18 f. und Kol 3,16. Beide Teile hängen (nur) insoweit zusammen, als der erste die theoretische Basis für die im zweiten angewandte Methodik liefert. Beide Teile können aber auch je für sich gelesen werden.

Von besonderem methodologischem Interesse ist der erste Abschnitt. N. liefert zunächst auf gut zehn Seiten eine treffende Porträtskizze orthodoxer Hermeneutik. Entscheidend sind "der ekklesiale Bezug" (13 f.) und die "pneumatische" Dimension (14 f.) sowie "die Vorgaben der Tradition" (17 ff.). In allen drei Fällen geht es jeweils um den Zusammenhang zwischen dem vergangenen Text und seiner gegenwärtigen Bedeutung. Im Unterschied zum historisch-kritischen Paradigma ist gerade nicht die Kunst der Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition, wissenschaftlicher und kirchlicher Schriftauslegung, Vergangenheits- und Gegenwartsbedeutung die Pointe, sondern die Kunst der Verbindung. Die Pneumatologie liefert - wie in der Väterzeit begründet - den Rahmen, innerhalb dessen die Tradition nicht als Gegenüber der Schrift erscheint, sondern als der Raum, in dem sie ihre Wirkung entfaltet und in dem sie verstanden werden kann. Die Symbiose von Schrift und Tradition ist deutlich unterschieden auch von den neuen ökumenisch interessierten Verhältnisbestimmungen (zuletzt in "Communio Sanctorum"), welche auf katholischer Seite die Position des II. Vatikanums fruchtbar machten, Schrift und Tradition weder additiv noch integral, sondern konsekutiv zu verstehen, und die Einsichten evangelischer Hermeneutik nutzten, das traditionskritische Potential der Schrift sei nur auf dem Boden einer positiven Verhältnisbestimmung zu gewinnen. Das Kapitel zeigt jedoch, dass die orthodoxe Hermeneutik alles andere als unkritisch und statisch ist, sondern im Gegenteil die Einheit von Schrift und Tradition je neu auf eine Weise ausbalanciert, dass hohe Kontinuität mit kritischer Zeitgenossenschaft sich verbinden. Was der westliche Leser allenfalls vermisst, ist eine Kriteriologie, weshalb z. B. monophysitisch angehauchte Interpretationen oder auch antijüdische Ausfälle mancher Väter keine (kanonische) Tradition - mehr - sind. Mit S. Agourides stellt der Vf. als Grundsatz orthodoxer Hermeneutik fest, die Kirchenväter hätten den Sinn der Schrift nicht voll ausgeschöpft (19); das bewahrt vor erstarrtem Traditionalismus und eröffnet der zeitgenössischen Exegese breite Spielräume; aber das Problem eines Irrtums kommt nicht in Sicht.

Die faire und kompetente Darstellung der historisch-kritischen Exegese (25-38), die dem orthodoxen Selbstporträt zur Seite steht, würdigt deren unbestrittene Leistungen, legt aber auch den Finger auf offene Wunden: die Zerstrittenheit der Schulen, den Eigensinn der Forscher, das Fehlen einer differenzierten Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Historie (38 ff.). N. plädiert für eine "harmonische Synthese" (49): Weder dürfe die Orthodoxie die wissenschaftliche Methode der Westkirche verwerfen, weil sie nur durch eine konstruktive Auseinandersetzung der Gefahr allegorischer Übertreibungen wehren könne, noch die Westkirche sich vom großen Atem der orthodoxen Exegese abschneiden, wenn sie nicht der Versuchung erliegen wolle, die Texte nur analytisch zu sezieren und nicht ihren Gesamtsinn zu erarbeiten (ebd.). Dieser Option pflichtet man gerne bei. Zu fragen bleibt aber, welche Möglichkeiten einer wirklichen Verständigung es nicht nur von den Rändern her, sondern von der jeweiligen Mitte der hermeneutischen Konzeptionen aus gibt. Hier gibt es gegenwärtig mehr Fragen als Antworten. Welche Bedeutung hätte zum Beispiel für eine heutige Hermeneutik, dass die Väter - jedenfalls theoretisch und gewiss mit charakteristischen Unterschieden - den Anspruch erhoben haben, auf der Basis des Literalsinnes zu argumentieren? Welche Konsequenzen zieht umgekehrt die westliche Exegese in ihrer Hermeneutik, wenn sie bei der Analyse und Interpretation ihrer Texte auf Wahrheitsansprüche stößt, die eine Kanonisierung anstoßen? Die Überlegungen sind erst am Anfang. Sie angestoßen zu haben, ist ein Verdienst des Autors.

Der zweite Hauptteil ist einer eingehenden semantischen und liturgiehistorischen Untersuchung von Eph 5,18 f. und Kol 3, 16 gewidmet. (Beide Briefe betrachtet N. im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung im Westen als authentisch.) N. verfolgt die These, beide Verse zeigten, wie früh es einen differenzierten liturgischen Liedgebrauch im Urchristentum gegeben habe. Psalmos, ymnos und pneumatike ode bezeichneten unterschiedliche Gattungen christlicher Dichtungen (was auch Schnackenburg in seinem Kommentar vertritt). Methodisch geht der Vf. zur Begründung so vor, dass er zuerst den lexikalischen und etymologischen Befund auf der Basis griechischer und jüdischer Quellen erhebt, um dann den paulinischen Sprachgebrauch zu erläutern, wobei er sich von der Überzeugung einer hohen Übereinstimmung zwischen den Wortbedeutungen im Neuen Testament und in der Alten Kirche leiten lässt. In den Wortfelduntersuchungen gibt es keine substantiellen Methoden-Differenzen zwischen Ost und West; während katholische und evangelische Exegeten gemeinhin zurückhaltender in der historischen Auswertung patristischer Zeugnisse sind, so dürfen sie doch dankbar sein, von orthodoxer Seite an die auch ihnen offenstehenden Belege der Väter erinnert zu werden, die mindestens eine heuristische Funktion haben und jedenfalls eine frühe Wirkungsgeschichte bezeugen. Über den Bereich der Exegese hinaus führen die interessanten Studien des Vf.s zur Musik- und Liturgiegeschichte über die byzantinische Zeit bis in die Gegenwart. N. zeigt, wie stark sie von paulinischer Sprache geprägt ist - und folgert daraus, Paulus als den neutestamentlichen Schutzpatron nicht nur protestantischer Rechtfertigungstheologie und katholischer Heiligkeit, sondern auch orthodoxer Liturgie zu entdecken.

Darf man die Themenwahl der Habilitationsschrift "typisch orthodox" nennen? Das wäre nicht als Einwand, sondern als Ausdruck des Respekts zu verstehen. Allerdings ist das hermeneutische Konfliktfeld beim Thema Hymnologie klein - wenn westliche Exegeten sich vom Rationalismus verabschieden. Wie aber steht es auf dem Gebiet der Einleitungswissenschaft, der Jesusforschung, der Geschichte des Urchristentums? Es steht zu hoffen, dass die Münchener Habilitationsschrift den Auftakt eines intensiveren Forschungsgespräches bildet, das die Orthodoxie weit stärker als bislang ins Gespräch integriert.