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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

909–912

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Horn, Friedrich Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. VIII, 339 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 106. Lw. ¬ 98,00. ISBN 3-11-017001-9.

Rezensent:

Anna Maria Schwemer

Der Sammelband ist hervorgegangen aus der Neutestamentlichen Sozietät an der Universität Mainz im WS 1999/2000 und SS 2000. F. W. Horn sieht in seiner Einleitung (1-13) die "vereinigten Aufsätze als [...] wesentliche Bestandsaufnahme und als [...] Versuch [...], das Thema aus verschiedenen Perspektiven [...] zu betrachten, um so über den bisherigen Forschungsstand hinausgehen zu können." (1) Während es zahlreiche Untersuchungen aus den letzten Jahren über die Anfänge des Apostels, zu einzelnen Stätten seines Wirkens und zur Chronologie gebe, "werden Arbeiten zum Ende des Paulus auf einem entsprechenden Niveau vermißt" (16).

F. W. Horn ("Die letzte Jerusalemreise des Paulus", 15-35) untersucht, warum Paulus, obwohl er nach Rom und Spanien will, zuvor die gefährliche Reise nach Jerusalem unternimmt.

G. Ballhorn ("Die Miletrede - ein Literaturbericht", 36-47) referiert über die neueren Kommentare von J. Roloff (1981) bis zu Ben Witherington III (1998).

Überzeugend zeigt M. Reiser ("Von Caesarea nach Malta", 49-74), "daß in Act 27 nicht der geringste Anlaß für literarkritische Operationen besteht" und "[z]ur Erklärung der genauen Einzelheiten, die dieser ganz ungewöhnliche Bericht einer antiken Seereise gibt, [...] das gute Gedächtnis des Autors, der durch das Wir seine eigene Teilnahme anzeigt [genügt]" (72). Lukas berichtet von diesen Vorgängen als Reisebegleiter des Paulus und informiert zuverlässig über Windverhältnisse und den Aufenthalt auf Malta.

M. Labahn ("Paulus - ein homo honestus et iustus", 75-106) behandelt das "literarische Paulus-Portrait im Licht der antiken Quellen" (77) und die Erzählstrategie von Apg 27 f. Diese lasse "keinen Raum für eine Märtyrertheologie, die das bisherige Portrait oder die narrative Strategie vor dem Hintergrund des kulturellen Inventars in Frage stellen würde." (105 f.) War ein christlicher Märtyrer etwa kein homo honestus?

M. Tilly ("Das Ende des Paulus und die syrische Texttradition", 107- 125) betont: Die Abweichungen der Peschitta Apg 28,17-31 vom griechischen Text sprechen für heidenchristliches Milieu; die Berührung mit dem Prophetentargum im Verstockungszitat V. 28 weist nur auf gemeinsame exegetische Tradition hin. Bei "der Darstellung des zweijährigen Aufenthalts des Paulus in Rom in der syrischen Überlieferung ist auffällig, daß die Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigenen Mitteln", aber nicht der Tod des Paulus in Rom hervorgehoben wird.

H. Omerzu ("Das Schweigen des Lukas. Überlegungen zum offenen Ende der Apostelgeschichte", 127-156) stellt verschiedene Lösungsvorschläge vor und plädiert für einen "Informationsabbruch seit der Abreise von Caesarea" (155). Zwar sei es "denkbar, daß Lukas seinen Lesern [...] gar nichts verschweigen wollte, sondern das Ende des Paulus ausgelassen hat, weil es ihnen bereits bekannt war" (137), dennoch habe Lukas "für den Romaufenthalt des Paulus nicht mehr als [...] eine Notiz über eine erleichterte Haftform in einer gemieteten Unterkunft für die Dauer von zwei Jahren" (155 f.) vorgelegen. Er wusste nichts von einer Spanienreise, nur "von der Hinrichtung des Paulus nach Ablauf der erwähnten zwei Jahre" (156).

A. Scriba ("Von Korinth nach Rom. Die Chronologie der letzten Jahre des Paulus", 157-173) datiert das Todespassa Jesu auf den 30. April 28 n. Chr.; dann "läßt sich der Apostelkonvent problemlos auf das Jahr 46 oder 47 n. Chr. verlegen" (161). Einer Tabelle zu den Zeitangaben in Apg stellt S. eine zweite anhand der Korintherbriefe rekonstruierte gegenüber, wobei S. mit 9 Briefen rechnet. "Dabei zeigt sich, daß aufgrund der literarkritisch begründeten Teilung der Korinther-Korrespondenz kein Widerspruch zur Apostelgeschichte entsteht." (168) Die literarkritische Teilung wird nicht näher begründet, neuere Untersuchungen zur Chronologie des Apostels werden nicht berücksichtigt, aber Apg, 1Clem und 2Tim pauschal als "fast zeitgleich" bezeichnet (171). S. vermutet, dass Paulus "in einem ordentlichen Gerichtsverfahren noch vor dem Winter 62 n. Chr. hingerichtet" wurde.

Fundiert ist die Untersuchung von B. Wander ("Warum wollte Paulus nach Spanien? Ein forschungs- und motivgeschichtlicher Überblick", 175-195). Einem Resümee zu älteren Untersuchungen folgt die Darstellung der wesentlichen "Tendenzen der neueren Forschung". Die älteren Vorbehalte gegen eine paulinische Mission in Spanien, man hätte dort einen Griechisch sprechenden Paulus nicht verstehen können, relativiert W. zu Recht und schließt: "Letztlich bleibt es also dabei, daß der Weg der Forschung in Zukunft schwerpunktmäßig den neueren Ansatz nach dem Warum einschlagen und die Frage der älteren Forschung nach der Realisierung hinter sich, oder besser, offen lassen sollte."

H. Löhr ("Zur Paulus-Notiz in 1Clem 5,5-7", 197-213) bietet eine sehr sorgfältige und sensible Exegese zum Martyrium des Paulus in 1Clem. Die Datierung lässt L. offen, rechnet damit, das lukanische Doppelwerk sei erst nach dem 1Clem entstanden, aber betont mit Recht den Quellenwert des 1Clem. Die eigenartige Hervorhebung, Paulus habe die ganze Welt Gerechtigkeit gelehrt, ja sei bis zum "Endpunkt des Westens", to terma tes dyseos, gelangt, bedeutet in der agonalen Sprache dieses Abschnitts "die Ziel- oder Wendemarke im Wagenrennen und im Wettlauf" (208). Vorsichtig versteckt L. in Anm. 26: "In das Bild integrierbar- aber nicht zwingend damit verbunden - wäre so auch eine Rückkehr des Paulus nach Rom". Entsprechend zurückhaltend urteilt er: "Die Paulus-Notiz in 1Clem bietet dem Historiker ein gutes Indiz für die Vermutung, Paulus sei über Rom hinausgelangt und durch einen Konflikt mit staatlichen Autoritäten zu Tode gekommen." (213)

Claudia Büllesbach ("Das Verhältnis der Acta Pauli zur Apostelgeschichte des Lukas. Darstellung und Kritik der Forschungsgeschichte", 215-237) fragt: "Sind die Paulus-Akten von Lukas beeinflußt oder beruhen die Gemeinsamkeiten [...] auf unabhängigen mündlichen Traditionen?" (216), und kommt zu dem Ergebnis: "Die lukanische Apostelgeschichte diente als literarisches Vorbild [...] Der Autor der Acta Pauli verfolgt einen selbständigen Plan und stellt aus einem Mosaik von mündlichen und schriftlichen Traditionen sein Werk zusammen." (236) Der "historische Wert der Acta Pauli für das Ende des Paulus" bestehe darin, dass sowohl die Apg wie die Acta Pauli "bestätigen [...], daß Paulus nur einmal in Rom war und nicht freigelassen wurde" (237).

M. Frenschkowski ("Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe", 239-272) rügt Neutestamentler, die das Problem der Pseudepigraphie auf die leichte Schulter nehmen. Seine These, bei den Pastoralbriefen handle es sich um von Timotheus in hohem Alter verfasste Schriften, muss sich nach seinen eigenen Worten daran prüfen lassen, "ob sie die Textbeobachtungen erklären kann, ohne [...] in Spannung zu bekannten Sachverhalten zu geraten" (269). Eine solche Spannung lässt sich m. E. nur vermeiden, wenn man die Pastoralbriefe um 110-120 n. Chr. ansetzt, denn sie reagieren wie Ignatius und der Polykarpbrief auf die ersten Gnostiker. Sie verwenden die Apg, die ca. 30-40 Jahre vorher geschrieben wurde. Die Martyriumsparänese 1Tim 6,12 f. setzt m. E. nicht nur den Tod des Paulus, sondern auch den des Timotheus voraus.

G. Guttenberger ("Ist der Tod der Apostel der Rede nicht wert? Vorstellungen von Tod und Sterben in den lukanischen Acta", 273-305) listet die verschiedenen Todesarten in Apg auf: natürlicher Tod, Fluchtod, Martyriumstod, um dann für "das Ende des Paulus" bei Lukas zu dem Ergebnis zu kommen: "Paulus soll nicht Märtyrer werden" (304). Mit dem offenen Schluss wolle Lukas "den römischen Behörden [...] Raum geben [...], ob sie die Rolle, die Lukas ihnen anbietet, Werkzeug Gottes zur Errettung zu sein, annehmen wollen" (305).

Auch den letzten Beitrag von L. Bormann ("Reflexionen über Sterben und Tod bei Paulus", 307-330) habe ich mit Kopfschütteln gelesen. Die "Reflexionen" des Paulus sind danach nicht auf Grund von Jesu Ruf in die Nachfolge, Kreuzestod und Auferstehung und der urchristlichen Mission umgewandelte Einsichten der frühjüdischen Märtyrertheologie (auf die B. nie eingeht), sondern "[d]er Mimus steht in besonderer Nähe zum paulinischen Verständnis von Mimesis" (314) - man vgl. dagegen den Art. "Mimos" im Neuen Pauly. Die "mimetische Zuordnung stellt eine sich in allen paulinischen Briefen durchhaltende [...] theologische Bewertung christlicher Existenz dar (so Horn zum Beitrag von B., 13), aber die direkte Herleitung vom antiken Straßentheater ist grotesk. Völlig übersehen sind die engen Bezüge zwischen 4Makk und der Sprache des Paulus.

Die "Register in Auswahl" sind leider fehlerhaft und erschließen den Band unzureichend. Identische Werke werden trotz der gebotenen Knappheit doppelt aufgenommen, so die Actus Vercellenses und Actus Petri cum Simone (341).

Das Ziel, den Untersuchungen über die Anfänge des Paulus "Arbeiten zum Ende des Paulus auf einem entsprechenden Niveau" gegenüberzustellen und "über den bisherigen Forschungsstand" hinauszugehen (s. o.), erreichen nur die Beiträge von Reiser, Wander und Löhr. Hilfreich angesichts der Probleme wäre eine begründete, klare Linie zur Datierung der frühchristlichen Schriften und der Einschätzung ihres historischen Werts: Die Apg gehört in die Jahre 80-85, der 1Clem in die Zeit um 96, die Pastoralbriefe in die Jahre 110-120, denn sie bieten den "Paulus", den man in der Auseinandersetzung mit der frühen Gnosis so dringend brauchte. Die Actus Vercellenses enthalten neben vorwiegend Legendärem noch historische Nachrichten, die vom Muratorischen Fragment bestätigt werden. Die Acta Pauli waren dagegen schon für Zeitgenossen als "Fälschung" erkennbar. Besonders bedauerlich erscheint mir in vielen Abschnitten zum Martyrium des Paulus die unzureichende Quellen- und Literaturkenntnis, aber auch die moderne Tendenz, die Nöte der frühen Christen als literarisches Phänomen und theatralisches Schauspiel zu betrachten.