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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

907–909

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Michael

Titel/Untertitel:

Der Tod Johannes' des Täufers. Eine exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studie auf dem Hintergrund narrativer, intertextueller und kulturanthropologischer Zugänge.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2001. 399 S. 8 = Stuttgarter Biblische Beiträge, 45. Kart. ¬ 45,90. ISBN 3-460-00451-7.

Rezensent:

Michael Tilly

Die Erzählung von Gefangenschaft und Tod Johannes' des Täufers in Mk 6,17-29 birgt Traditionsgut, das zum vorredaktionellen, vielleicht sogar zum vorchristlichen Überlieferungsbestand gehört und von dem Evangelisten im Sinne seiner christologischen Gesamtkonzeption ausgestaltet wurde. Die Hoflegende hat ihre sachliche Entsprechung in der Geschichtsdarstellung des Flavius Josephus in Ant. 18,116-119. In seiner von M. Theobald betreuten, im WS 1999/2000 von der kath.-theol. Fakultät der Universität Tübingen angenommenen und für den Druck überarbeiteten Dissertation unternimmt H. eine historisch-kritische Untersuchung beider antiker Texte, die neben dem üblichen exegetischen Instrumentarium auch narrative, intertextuelle und kulturanthropologische Methoden zur Anwendung bringt, um deren "literarisches und theologisches Profil" zu erheben (19). In diesem Sinne fragt H. zunächst nach der literarischen Gestaltung und den damit intendierten narrativen Funktionen, nämlich der sich zwischen Identifikation und kritischer Distanzierung bewegenden Wahrnehmung sämtlicher Sachverhalte und agierenden Charaktere der Erzählung durch ihre antiken Leser (22). Eingebettet sei eine solche Wahrnehmung in die "normierende kulturelle Matrix" der Epoche (23), als deren bestimmendes Kennzeichen er die Orientierung "an den Werten der Ehre und Scham/Schande" erkennt (34). Die auf der narrativen und kulturanthropologischen Untersuchung aufbauende intertextuelle Analyse definiert er als "systematische Erfassung und Beschreibung der bewußten, intendierten sowie in irgendeiner Weise markierten Bezüge" (38) zwischen dem Referenztext und allen Texten, die als dessen Zitatenspender fungieren. Dieser Analyseansatz ermögliche Aussagen über das "Bedeutungspotential" des fokussierten Textes: "Verwendet ein Autor geprägte Elemente, so will er beim Leser traditionelles kulturelles und religiöses Wissen abrufen" (47).

Der I. Hauptteil beginnt mit der Auslegung von Mk 6,14-16 (49-100). Als traditionelles Element des Abschnitts, den H. als redaktionell gestaltetes "Apophthegma" versteht (69), lasse sich auf Grund seiner relativen Differenz zur leitenden christologischen Konzeption des Evangelisten das populäre Urteil über die Identität Jesu bestimmen (98 f.). Die eigentliche Exegese von Mk 6,17-29 (101-246) setzt ein mit der Diskussion der textkritischen Varianten des Textes (101-103), seiner kolometrischen Gliederung und Übersetzung (103-107). Die formkritische Analyse (109-138) umfasst auch eine Skizzierung der Ergebnisse der neueren einschlägigen Arbeiten. Die narrative Analyse (138-168) beschäftigt sich zunächst mit dem Erzählertypus (138) und der vom Autor beabsichtigten Leserlenkung (144), die Fragen der "Ehre" eine zentrale Bedeutung zukommen lasse (145 mit Anm. 308). H. vergleicht die geschilderte Mahlszene als "ein mit großer Symbolkraft behaftetes soziales Ereignis" (153) mit anderen literarischen Darstellungen antiker Gastmähler. Die Funktion der kompositionell nahen Anordnung des Textes vor der Speisung der Fünftausend (Mk 6, 32-44) sei die Betonung des Kontrastes zwischen den beiden Gastgebern Herodes Antipas und Jesus (162). Die Darstellung des Tanzes der Herodiastochter in Mk 6,22 lasse "keine offen erotische Komponente" erkennen (166). Die Untersuchung "geprägter Bedeutungssyndrome" in Mk 6,17-20 (168-198) deckt sich zwar weitgehend mit dem, was traditionell als "Motivkritik" bezeichnet wird, will diese aber dadurch ergänzen, dass sie die Motive nicht nur literarisch, sondern auch "als Bestandteil eines kulturell verankerten Interaktionsschemas" wahrnimmt (183), deren eingehende Analyse H. zu der These führt, dass "im Hintergrund der Geschehnisse [...] verschiedene, jedoch miteinander verknüpfte Auseinandersetzungen um Ehre stehen" (196 f.).

Insgesamt ließen sich die Motive vom Prophetentum Johannes des Täufers und seiner Grablegung dem jüdischen Traditionsbereich (insb. jüdischen Märtyrerberichten) zuordnen, das den Täufer entehrende Auftragen seines abgeschlagenen Hauptes hingegen dem Bereich der hellenistischen Literatur. Die Motive der Freistellung eines Wunsches und der Entehrung der Herrscherfrau begegneten in beiden Traditionsbereichen (189). Die intertextuelle Lektüre des untersuchten Textes (199-221) habe davon auszugehen, "daß Markus mit einer aktiven Rolle seiner Leser rechnet" (199), was heißen soll, dass der Evangelist deren "Allusionskompetenz" (42 mit Anm. 68) kennt und berücksichtigt. H. fragt danach, "welche Sinnerweiterung der markinische Text durch die Hereinnahme der Intertexte erfährt" (200). Der strukturelle und inhaltliche Vergleich von Mk 6, 17-29 mit 1Kön 17-2Kön 2; Lev 18,16 und Est 1; 5; 7 stelle unter Beweis, dass Mk "ein biblisch geschultes Lesepublikum" im Blick hat (220). Auch ein Vergleich mit Herodot, Historiae IX 108-113 ergebe "erstaunliche Vergleichsmomente" (228), die darauf zurückzuführen seien, dass beide Autoren auf vorgeprägte literarische Motive, Motivreihen und Züge zurückgriffen (234). Die Bestimmung des Verhältnisses von Redaktion und Tradition ergibt, dass sich in dem Text eine knappe mündliche Erzählung über die Hinrichtung Johannes' des Täufers erkennen lasse, an die die narrative Entfaltung des Grundes seines Todes angefügt worden sei und die schließlich innerhalb des markinischen Makrokontextes ihre redaktionelle Prägung durch die Bezeichnung des Täufers als Elias redivivus erfahren habe, der Jesus auch in seinem Leidens- und Todesgeschick vorausgehe (237). Als historisches Ergebnis der Exegese könne allein festgehalten werden, dass Herodes Antipas den Täufer (wahrscheinlich wegen dessen öffentlicher Herrscherschelte, die er als möglichen Anlass zu Unruhen in der Bevölkerung interpretierte) habe hinrichten lassen (238 f.). Die Rezeption von Mk 6, 14-29 durch Matthäus akzentuiere die Feindschaft des Tetrarchen von Galiläa und Peräa. Lukas hingegen betone vor allem die Popularität des Wirkens und der Verkündigung des Täufers (251 f.).

Das Ziel des II. Hauptteils seiner Arbeit, der sich mit Josephus, Ant. 18,116-119 beschäftigt, sieht H. darin, "das spezifische, von Josephus im Blick auf seine Leser und im Kontext seines apologetischen Werkes entworfene Bild" von Johannes dem Täufer zu erheben (255). In Entsprechung zu seiner bisherigen Methode unterzieht H. den Text einer syntaktisch-stilistischen und semantischen Untersuchung, einer narrativen Analyse, die die implizite "Wertestruktur" und deren kulturanthropologische Verankerung thematisiert, einer Erhebung seiner intratextuellen Einbettung und seiner intertextuellen Beziehungen sowie einer überlieferungsgeschichtlichen Analyse. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die planvoll gestaltete "digressio" (303) Ant 18,116-119 der hellenistisch-römischen Leserschaft der Antiquitates Iudaicae Johannes den Täufer als "Promotor jüdischer Tradition" (305) bzw. als "Sachwalter traditioneller sozio-religiöser Gehalte" (318) vorstelle, währenddessen Herodes Antipas hier als machtgieriger Despot charakterisiert sei, der sowohl den Willen Gottes als auch das Wohl des Volkes völlig außer acht lässt (329). Hierbei sei zu erkennen, dass Josephus zwar vom eschatologischen Gehalt der Täuferpredigt gewusst, ihn aber verschwiegen habe, um ihn von den "theokratischen Idealen" der Zeloten abzugrenzen (355). In seinem "Ausblick" (356- 364) betont H. die Bedeutung der Rezeptionsgeschichte der untersuchten Texte für die Erhellung des eigenen Vorverständnisses des modernen Lesers bei deren Lektüre. Der Schluss (365-367) fokussiert noch einmal die Gestalt des Herodes Antipas, der bei Markus als "tragische Gestalt" (365) erscheine, bei Josephus hingegen als "Widerpart" des Täufers (367). Die Arbeit schließt mit einem Literaturverzeichnis. Verzeichnisse der Bibelstellen und Sachen fehlen.

Das große Verdienst der gründlichen Untersuchung liegt in der Anwendung literaturwissenschaftlicher Methoden, die den herkömmlichen Rahmen des exegetischen Instrumentariums sprengen. Gerade die ausführliche hermeneutische Grundlegung ermöglicht die Wahrnehmung der untersuchten Texte aus ungewohnten Perspektiven und lässt sich für die neutestamentliche Exegese weithin fruchtbar machen. Einige kritische Anfragen sollen dies keinesfalls schmälern:

Dass Herodes Antipas versuchte, jeden Aufruhr im Volk im Keim zu ersticken, um gegenüber Rom die Stabilität seiner Herrschaft unter Beweis zu stellen, war nicht vordringlich eine Frage der "Ehre" (145), sondern doch wohl vor allem Ausdruck seines Machtstrebens. In Abschnitt 2.5.1 verliert H. die typisierende Gestaltung des in der Hoflegende Mk 6,17-29 erzählten Geschehens aus dem Blick, wenn er nach sachlichen Bezügen zum Ablauf antiker Gastmähler fragt. Überhaupt hätte hier die einschlägige Monographie von M. Klinghardt (Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft [TANZ 13], Tübingen, Basel 1996) noch wesentliche Informationen beisteuern können. Liegt die von H. als Vergleichsmaterial herangezogene antike Literatur (z. B. Ovid, Plutarch, Apollonius von Tyana) innerhalb des Horizontes der Adressaten des Markusevangeliums? In ihrer Bedeutung höher zu veranschlagen erscheint mir die Rezeption der biblischen Überlieferung. Hinsichtlich der Pflicht, Tote zu bestatten, muss man z. B. nicht Sophokles bemühen (198 Anm. 415), sondern kann auch auf die Verständnistradition von Dtn 21,23 verweisen.

Der moderne Leser von Mk 6,17-29 und Josephus Ant. 18,116-119 entspricht nicht dem antiken "Erstleser" dieser Texte. H. ist sich der Schwierigkeiten bewusst, die mit der Profilierung dieses "Erstlesers" einhergehen (199 f., Anm 419). Um den von H. eingeschlagenen methodischen Weg zu ebnen, wären m. E. verstärkt die Fragen zu stellen, welchen geschichtlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen dessen Lektüre unterworfen war. Kann hier durchweg ein "biblisch geschultes Lesepublikum" (220) vorausgesetzt werden? Auch inwieweit der Kontext eines Referenztextes bei der intertextuellen Analyse zu berücksichtigen ist (so 202), wäre von Fall zu Fall zu überprüfen. Zumindest in der späteren rabbinischen Exegese ist es durchaus möglich, eine Aussage aus ihrem eigentlichen Kontext zu lösen, um sie zu deuten und zu applizieren. Die Latinismen in Mk 6 müssen nicht unbedingt auf eine "traditionelle Vorgabe" hinweisen (236), sondern können auch themenbedingt sein. Die methodische Vorentscheidung, dass Josephus jedes Partizip, jede Partikel, jede Konjunktion absichtsvoll genau an diese oder jene Stelle setzte (262 ff.), erscheint spekulativ.

H. hebt sich durch seine interessante Arbeit eindrücklich von manchen exegetischen "Beckenrandschwimmern" ab. Seine Untersuchung stellt einen diskussionswürdigen, zwar mitunter zu Widerspruch herausfordernden, aber durchweg mit Gewinn zu lesenden Beitrag zur neutestamentlichen Forschung dar.