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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

903 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Vílchez Líndez, José

Titel/Untertitel:

Tobías y Judit.

Verlag:

Estella (Navarra): Editorial Verbo Divino 2000. 491 S. gr.8= Nueva Biblia Española, Narraciones, III. ¬ 33,06. ISBN 84-8169-363-4.

Rezensent:

Rainer Kessler

Nachdem 1975 die im Alten Testament von Luis Alonso Schökel und im Neuen Testament von Luis Mateos verantwortete und viel gelobte Neuübersetzung der gesamten Bibel ins Spanische, die Nueva Biblia Española, vorgelegt wurde, lag es nahe, daran eine Kommentarreihe anzuschließen. Sie wurde zunächst von Alonso und José Luis Sicre Díaz gemeinsam und wird seit Alonsos Tod von Sicre allein herausgegeben. In dieser schön ausgestatteten Reihe, die sich im Untertitel "theologischer und literarischer Kommentar" nennt, legt José Vílchez nun seinen zweiten Beitrag vor, nachdem 1998 bereits sein Kommentar zu Rut und Ester erschienen war. Der 1928 geborene und in Granada lehrende Autor, der vor allem zu den späteren Schriften des Alten Testaments publiziert hat (Beiträge zur Weisheit allgemein sowie zu Proverbien und Kohelet, davon Etliches ins Italienische und Portugiesische übersetzt), hatte sich gerade für die Kommentierung von Tobit durch den freilich wesentlich kürzeren Kommentar von 1969 in der Biblioteca de Autores Cristianos besonders empfohlen.

Die Kommentierung der beiden deuterokanonischen Bücher ist jeweils so aufgebaut, dass einer vergleichsweise gedrängten, aber gleichwohl gründlichen Einleitung (für Tobit 23 S., für Judit 21 S.) die ausführliche abschnittsweise Kommentierung folgt. In ihr wird der gesamte Text neu übersetzt (in Anlehnung an die Nueva Biblia Española, aber nicht in sklavischer Abhängigkeit von ihr). Auf Probleme der Textüberlieferung wird kurz aufmerksam gemacht.

Das Gewicht der Auslegung liegt, wie die Reihe als Ganze verspricht, auf dem "theologischen und literarischen Kommentar", wobei ein ausführlicher Fußnotenapparat zugleich die wissenschaftliche Diskussion mit der Sekundärliteratur führt. Das Buch wird abgeschlossen durch einen ausführlichen thematischen Index sowie ein Register der zitierten Autoren und erwartungsgemäß wenigen Autorinnen. Gewidmet ist das Werk dem Gedächtnis an Luis Alonso Schökel, den V. als "Maestro de maestros" apostrophiert.

Die Einleitung zu Tobit beginnt V. mit der Frage nach dem Text des Buches, das in die christliche Bibel bekanntlich in seiner griechischen Gestalt Eingang gefunden hat. Seit die hebräischen und aramäischen Fragmente von Tobit aus Qumran veröffentlicht sind, gibt es für V. kaum noch einen Zweifel, dass eine der beiden semitischen Sprachen die Originalsprache des Buches ist.

Bei der Frage, welche der beiden das sein könnte, entscheidet V. sich für das Aramäische. Den Autor des Büchleins vermutet er in der östlichen Diaspora. Da die Makkabäeraufstände offenbar noch nicht bekannt sind, setzt V. die Entstehung mit vielen um das Jahr 200 v. Chr. an. In Abgrenzung zur älteren katholischen Exegese, die an der Historizität des in Tobit Erzählten meinte festhalten zu müssen, betont er den fiktionalen Charakter der Erzählung. Näherhin bezeichnet er sie als "weisheitliche Erzählung" (37). In der ästhetischen Bewertung schließt sich V. nicht dem sehr negativen Urteil Alonsos an ("als literarisches Werk ist es ein Buch, das nicht überzeugt", zit. 38), sondern kommt zu einer positiveren Sicht: "Das Buch Tobit ist kein glänzendes literarisches Werk; aber es ist auch nicht unwürdig, unter den Werken religiöser Literatur zu erscheinen, die die jüdische Gemeinschaft der hellenistischen Epoche der Menschheit hinterlassen hat" (38).

Großes Gewicht legt V. schon in der Einleitung und dann auch eindrucksvoll in der Einzelkommentierung auf die intertextuellen Beziehungen von Tobit zu anderen Büchern des Alten Testaments. Die Einflüsse reichen von den Patriarchengeschichten (bes. Gen 24) über die Königebücher, die den historischen Rahmen bereit stellen, bis zu Anklängen an Propheten, Weisheit und Psalmen. Besondere Aufmerksamkeit widmet V. darüber hinaus der Tatsache, dass der Achikarstoff dem Autor von Tobit bekannt ist.

Die Einleitung schließt mit der Frage nach der Kanonizität des Buches. Dass es in den jüdischen Kanon keinen Eingang gefunden hat, ist auffällig, wenn es ursprünglich in einer semitischen Sprache geschrieben war, jedoch nicht singulär, weil es auch für Sirach zutrifft (und nach V. auch für Judit, siehe das Folgende). Abschließend macht V. darauf aufmerksam, dass, obwohl Hieronymus mit der jüdischen Tradition das Buch nur unter die Apokryphen oder Hagiographen zählen wollte, es im Westen doch - v. a. unter dem Einfluss von Augustinus - zu voller Kanonizität gelangt ist.

Wie für Tobit nimmt V. auch für Judit eine semitische Vorlage an, ohne dass dies durch Textzeugen gestützt werden könnte. Deshalb ist auch eine Entscheidung zwischen Hebräisch oder Aramäisch als Originalsprache nicht möglich. Obwohl Judit viel stärker als Tobit den historischen Kontext betont, ist auch dieses Buch eine "erbauliche Erzählung" (238) fiktionalen Charakters. In schönen Worten beschreibt V., wie sich das, was als "königliche Chronik" in weltweitem Horizont beginnt, immer mehr in der Perspektive verengt, bis man in einem kleinen Ort in Juda angelangt ist. Zugleich kommt der gewaltige Zug des assyrischen Heeres zum Stehen. "Von diesem Augenblick an verwandelt sich die königliche Chronik in eine Romanze, deren zentrale Aufmerksamkeit bis zum Schluß eine Frau einnimmt, die alles übrige in den Schatten stellt" (236). Den literarischen Wert des Buches schätzt V. höher ein als den von Tobit, besonders wegen der Ironie, die für ihn "zum größten Teil ein Schlüssel zur Interpretation von Judit" ist (239).

Während V. bei Tobit viele einzelne Bezüge zu den älteren Schriften des Alten Testaments herausarbeitet, unterstreicht er bei Judit besonders den modellhaften und topischen Charakter des Buches. Judit ist eine Retterin wie Rahab (Jos 2) oder Jael (Ri 4). Die Botschaft des Buches ist, dass Gott sein Volk rettet, wobei als typische Topoi auftauchen: "die überraschende Macht des unterdrückerischen Feindes, die offenkundige Machtlosigkeit des unterdrückten Volkes und die offenbare Schwäche des Mediums, das erwählt ist, die Rettung zu bewirken: eine vereinzelte und unbewaffnete Frau" (241).

Die Entstehung des Buches sieht V. im engen Zusammenhang mit den Makkabäeraufständen. Er vermutet, dass es in der Zeit unmittelbar nach 166 abgefasst wurde - dem Beginn der Aufstände -, und zwar in Palästina, genauer noch: in Jerusalem. Auch bei Judit sind es die Kirchen des Westens, die dem Buch zur Kanonizität verhelfen. Ein Exkurs zum Chanukka-Fest beschließt die Einleitung zum Kommentar, weil einige mittelalterliche Rabbinen das Judit-Buch zu diesem Fest in Beziehung bringen.

Mit den Kommentaren von Erich Zenger zu Judit (JSHRZ, 1981), von Heinrich Groß zu Tobit und Judit (NEB, 1987, 21994) und von Helen Schüngel-Straumann zu Tobit (HThKAT, 2000) liegen mittlerweile auch in deutscher Sprache Arbeiten vor, die gründlich in die beiden Bücher einführen. Dennoch werden besonders die Liebhaberinnen und Liebhaber des kastilischen Idioms dankbar die umfangreiche und - in der Schule Alonso Schökels - besonders die literarische Gestalt würdigende Kommentierung durch José Vílchez zur Hand nehmen.