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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

899–901

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Jürgens, Benedikt

Titel/Untertitel:

Heiligkeit und Versöhnung. Levitikus 16 in seinem literarischen Kontext.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2001. XII, 518 S. m. zahlr. Tab. gr. 8 = Herders Biblische Studien, 28. Lw. ¬ 60,00. ISBN 3-451-27557-0.

Rezensent:

Wolfram Herrmann

Der Leser hält ein voluminöses Werk von weit über vierhundert Seiten Text in seinen Händen und reagiert überrascht, da nur ein einziges Kapitel als Gegenstand der Untersuchung auf dem Titelblatt erscheint. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings sogleich, dass es damit nicht sein Bewenden hat. Denn der Vf. bearbeitet Kap. 16 im Kontext des gesamten Buches Levitikus und geht dabei auf einen großen Teil davon in gebührendem Umfang ein. Seiner Auffassung nach hat das sechzehnte Kapitel eine zentrale Funktion im Aufbau dieses biblischen Buches, obwohl in ihm Teile recht unterschiedlicher Provenienz zueinander geordnet sind. Der Untertitel will betonen, Lev 16 komme eine entscheidende Rolle im Gefüge der auf das Heiligtum und den Kultus bezogenen Texte zu.

Hier setzt J. an, indem er das Kapitel in den Gesamtrahmen des israelitischen Kultes eingebettet und ihn als ein aufeinander bezogenes Beziehungsgeflecht versteht. Dem kann man grundsätzlich nicht widersprechen, wenngleich die einzelnen Überlieferungen aus unterschiedlichen Zeiten und Umständen herrühren. Literarisch hat man speziell die Beziehung von Lev 16 zu Kap. 10 schon lange erkannt.

Die Arbeit erfasst freilich nicht sämtliche auf den Kult Bezug nehmende Einheiten, sondern registriert nur die unmittelbare literarische Umgebung. Unbestritten enthalten die besprochenen Teile in der Hauptsache die kultische Gesetzgebung.

Eingangs erörtert der Vf. umfänglich die jüngere Auslegungstradition von Lev 16, nachdem er vorher einen kurzen Blick auf das jüdische und frühchristliche Verständnis geworfen hatte. In einem nächsten Schritt legt J. sein eigenes methodisches Vorgehen offen und entfaltet ausführlich nach dem geschilderten Verfahrensmuster seine Analyse der Einheit Lev 16, eines, wie er konstatiert, vielschichtigen und komplexen Textes. Tatsächlich ist das Stück mehrschichtig und hat zu differierenden kritischen Urteilen geführt.

Bei der Analyse spielt die Struktur des vorliegenden Textgefüges eine wesentliche Rolle. Der Vf. fragt nach der grammatischen Kohärenz der Teile, nach syntaktischen und semantischen Verknüpfungen. Auf der sprachlichen Ebene geht es ihm um Probleme der Gliederung und die Einordnung in den größeren Zusammenhang und um das Verständnis der Rituale. Schließlich bedenkt er die thematische Ebene, d. i. den behandelten Gegenstand.

Die Elemente eines Rituals sind nach J. in Abwandlung der von F. H. Gorman, The Ideology of Ritual, 1990, aufgestellten Kategorien die folgenden: Der Name, will heißen, die Bezeichnung des jeweilig beschriebenen Opfers, der Anlass, d. i. die Frage danach, wodurch ein Opfer bedingt oder ausgelöst wurde, der Ort, nämlich der Platz, an dem man ein Opfer darbringt, die Rollen, bezogen auf die von einer Kulthandlung betroffenen oder an ihr beteiligten Personen, die Objekte, womit die Opfermaterie, auch Gerätschaften und Kleidung gemeint sind, die Handlungen, mit anderen Worten die rituelle Vorgehensweise, und schließlich die Funktion, die Absicht, die im Vollzug eines Opfers liegt. Mehrfach nennt der Wortlaut nichts Konkretes dazu. Dann biete sich eine Vermutung oder eine aus dem Kontext erhobene Bestimmung an.

In der Folge bearbeitet der Vf. entsprechend dem gleichen Schema aus dem Buch Levitikus Kap. 17; 8-10; 4; Teile von 5 und 6; 14; 1; 23, das bedeutet, die hier vorkommenden Riten, Rituale und Opferarten, endlich den Festkalender, der neben anderem auch auf den Versöhnungstag eingeht. J. vertritt die Meinung, die Kapitel 16 und 17 bildeten die Mitte des Buches und gehörten eng zueinander. Für beide sei das Thema Blut relevant, und zu Gunsten der Verbindung spreche der Gebrauch der Wurzel kpr und anderes. Die behandelten Texte und Rituale hält er für Bestandteile eines in Levitikus eingerichteten rituellen Systems.

Der vorletzte Abschnitt ist überschrieben: "Resümee. Heiligkeit und Versöhnung als Elemente einer schöpfungstheologisch inspirierten Ethik". Hier zieht J. eine Bilanz seiner Ausführungen zu den Jahwereden des gesamten Levitikus-Buches. Er meint, sie wollten klarlegen, dass Israel zu einem heiligen Volk werden kann, um seinem Gott zu begegnen, wenn das Heiligtum immer erneut durch Opferriten entsühnt wird und Versöhnung geschieht. Die Sühnerituale sollen ihm zufolge dazu beitragen, die ursprüngliche Schöpfungsordnung im Heiligtum wiederherzustellen, das selbst ein Bestandteil dieser Ordnung sei. Man wird wenigstens fragen dürfen, ob eine solche Interpretation religionsgeschichtlich nicht zu hoch greift. Aus alledem folgert der Vf. die Notwendigkeit, ethische Regeln einzuhalten, weil menschliche Verfehlungen der Heiligkeit des Heiligtums Schaden zufügen. Ihn zu beheben, sei die Aufgabe der Rituale. Und die Einhaltung der Gebote führe zur Restituierung der originären Schöpfungsordnung. Es fällt nicht leicht, solche Gedankengänge nachzuvollziehen.

Ein letzter Abschnitt bietet die behandelten Texte strukturalistisch aufgegliedert in Wortlaut und Übersetzung. J. bearbeitete, wie er selbst sagt, die Endgestalt der Texte. Deshalb geht er wiederholt von der biblischen Darstellung im Mittelteil des Pentateuchs aus, ohne sie kritisch zu hinterfragen, ebensowenig die historische Verankerung des P-Stoffes. Er schließt eine Vorgeschichte von Lev 16 und den anderen Einheiten nicht aus, geht aber darauf bewusst nicht ein. Sein Opus kennzeichnet strukturalistische und literaturwissenschaftliche Denkweise, orientiert an K. Brinker, Linguistische Textanalyse, 1985, mit all den bei ihm gebrauchten Spezialausdrücken.

Eine solche Begrifflichkeit erscheint dem historisch-kritisch geschulten Forscher schwerlich verständlich und hilfreich und lässt die Frage aufkommen, ob sie der Erschließung des biblischen Textes förderlich ist.

Im Blick auf das Buch ingesamt, muss man eine immense Arbeitsleistung des Autors konstatieren. Er hat viel Literatur gründlich ausgewertet und zur Argumentation herangezogen, m. E. freilich oftmals zu viel aus anderen Publikationen zitiert. Das sachlich zum Thema Gehörende sollte man zumeist mit eigenen Worten sagen. Und viele der seinerseits skizzierten Details passen gut in ein biblisches Reallexikon.