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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

898 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hanspach, Alexander

Titel/Untertitel:

Inspirierte Interpreten. Das Prophetenverständnis der Chronikbücher und sein Ort in der Religion und Literatur zur Zeit des Zweiten Tempels.

Verlag:

St. Ottilien: EOS 2000. VIII, 234 S. 8 = Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament, 64. Kart. ¬ 19,50. ISBN 3-8306-7049-4.

Rezensent:

Thomas Willi

Die bei Walter Groß in Tübingen entstandene Dissertation füllt mit der Darstellung des Prophetenbildes der Chronik und ihres frühjüdischen Umfeldes eine Lücke, die die umfassende Studie von Sara Japhet1 noch offen gelassen hatte. Ihr Lehrer Isaak Leo Seeligmann griff die Thematik 1977 am IOSOT-Kongress in Göttingen mit seinem Vortrag über "Prophetie in der dtr und chr Geschichtsschreibung" auf.2 Nachdem Hanspach im ersten der vier Teile als Einleitung (1-38) knapp die Voraussetzungen seiner Untersuchungen formuliert hat, setzt er sich - eher positiv - mit den inzwischen erschienenen Untersuchungen von Rosemarie Micheel3 und - eher (vielleicht zu) negativ - von William Schniedewind4 auseinander und formuliert dann seine eigenen Ziele. Er siedelt seine Studie im Schnittpunkt zwischen literaturwissenschaftlicher (T. Willi, P. Welten, R. Mosis), theologischer (H. G. M. Williamson) und - hier ohne eindeutig bestimmbare Vorgänger - religionsgeschichtlicher Fragestellung an (38).

Der zweite Teil, für dessen Lektüre stets der Anhang (189- 215) mit den nach W. Richters Biblia hebraica transcripta satzabgegrenzten einschlägigen Texten zu konsultieren ist, entwirft anhand einer soliden Analyse der Texte das Prophetenbild der Chronikbücher (39-165). Der Fortschritt, den die Arbeit gegenüber früheren Unternehmungen darstellt, liegt nicht zuletzt in der sorgfältigen Abwägung zwischen der Konzeption der synoptischen Prophetenerzählungen (51-98) und jener der Partien ohne Parallelen (99-156). Der Chronist gibt trotz seines nach Ausweis des Sondergutes anders gelagerten Prophetenbildes die Vorlage "nahezu wörtlich" (161) wieder. Sowohl in den synoptischen Partien wie im Sondergut erscheinen die Propheten als "(reine) Funktionsträger" (161.162). Im chronistischen Sondergut ist hingegen nicht die geringste Spur jenes im DtrG so allgegenwärtigen "Schemas von Verheißung und Erfüllung [...] zu finden" (164, Anm. 3). Die Propheten beziehen sich hier "normalerweise nicht auf die Zukunft, sondern [...] auf die Vergangenheit oder die gegenwärtige Situation" (163). Der chronistische Prophet "interpretiert die Ereignisse theologisch", "erklärt", "deutet" sie (165): also nicht nur, dass die Chronik selber "Auslegung"5 ist - sie findet ihr großes Vorbild in den "inspirierten Interpreten" (Untertitel), als die sie die Propheten sieht.

Der dritte Teil ist der religions- und literaturgeschichtlichen Einordnung gewidmet (166-186) und enthält einen instruktiven tour d'horizon über Prophetie und Prophetiereflexion in der Zeit des Zweiten Tempels, angefangen mit Haggai und Sacharja, über die - mehr erschlossenen als tatsächlich bezeugten - Kultpropheten, die "schriftgelehrte Tradentenprophetie" (O. H. Steck), den Glaubenssatz von der erloschenen Prophetie,6 die Einstellung zur Prophetie in Esr-Neh, in der Apokalyptik, in Qumran, bei Philo bis hin zu Josephus, der laut Bellum III, 350-354.399-408 von seinen eigenen prophetischen Fähigkeiten überzeugt ist. Das nüchterne, aber durchaus valable, Ergebnis lautet: "... auch die nachexilische Zeit [hat] kein einheitliches Bild von Prophetie" (184), und die rabbinisch bezeugte "Vorstellung vom Ende der Prophetie [...] läßt sich jedenfalls nicht nachweisen; sie kann jedoch auch nicht als rein dogmatisch [...] abgetan werden." (185)

Im Schlussteil (187 f.) tritt als wichtigstes Ergebnis eine Doppelheit der Traditionslinien hervor: Wenn dtr Prophetie von der Spannung zwischen "Verheißung und Erfüllung" lebt, so ist die Prophetie der Chronikbücher "inspirierte Interpretation" (188). Hier stellt sich die im Grunde einzige, aber gewichtige Frage an die sorgfältige Untersuchung: Ist eine solche Dichotomie geistes- und theologiegeschichtlich wahrscheinlich, gerade wenn man H.s Beobachtung von der wörtlichen Aufnahme der Vorlage und ihrer Konzeption durch den Chronisten ernst nimmt? Verlagert sich in der so kreativen Zeit des Zweiten Tempels nicht einfach die theologisch fundamentale Konzeption von der Worthaftigkeit des Geschehens auf die neue Ebene der Schrifthaftigkeit der Geschichte? Die Resultate der vorliegenden Studie regen jedenfalls dazu an, in dieser Richtung weiterzudenken.7

An Druckfehlern seien hier nur der Zeilenumbruch S. 80 Anm. 21; "postiv" S. 104 Mitte und fehlendes "auf" S. 187, Z.2 v. u. notiert.

Fussnoten:

1) The Ideology of the Book of Chronicles and Its Place in Biblical Thought: BEATAJ 9, 1989.

2) Erschienen als "Die Auffassung von der Prophetie in der dtr und chr Geschichtsschreibung", in: Congress Volume, VT.S 29, Leiden 1978, 254-279.

3) Die Seher- und Prophetenüberlieferungen in der Chronik: BBETh 18, Frankfurt (1983).

4) The Word of God in Transition. From Prophet to Exegete in the Second Temple Period (JSOT.SS 197). Sheffield Academic Press, Sheffield (1995).

5) So der Titel von FRLANT 106, Göttingen 1972.

6) Hier hätte man sich eine intensivere Beschäftigung mit Robert Hanhart gewünscht, der nur für Text und Textgeschichte von 1Esr konsultiert wird, dessen früher oft an entlegenen Stellen begegnenden Überlegungen zum Frühjudentum nun aber in seinen Studien zur Septuaginta und zum hellenistischen Judentum, FAT 24, Tübingen 1999, gut zugänglich sind.

7) Vgl. dazu vorläufig "Kakkatuv. Die Tora zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit", in: W. Stegmaier [Hrsg.], Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition: stw1499, Frankfurt a. M. 2000, 43-61.