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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

895–897

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Reventlow, Henning Graf

Titel/Untertitel:

Epochen der Bibelauslegung. I: Vom Alten Testament bis Origenes. II: Von der Spätantike bis zum ausgehenden Mittelalter. III: Renaissance, Reformation, Humanismus. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert.

Verlag:

München: Beck 1990/94/97/2001. 224 S., 324 S., 271 S., 448 S. gr.8. Lw. ¬ 29,90, 29,90, 34,90, 44,90. ISBN 3-406-34663-4, 3-406-34986-2, 3-406-34987-0, 3-406-34988-9.

Rezensent:

Rudolf Smend

Der Abschluss eines verdienstvollen Werkes ist anzuzeigen. Henning Graf Reventlow hat in vieljähriger emsiger Arbeit einen Gang durch die Geschichte der Bibelauslegung von ihren ersten Anfängen bis zur Gegenwart unternommen und darüber in vier handlichen Bänden berichtet. Er konnte auf mehr oder weniger umfangreiche eigene Vorstudien zurückgreifen, so besonders sein Opus magnum "Bibelautorität und Geist der Moderne" (1980), aber die im letzten Stadium der Lehrtätigkeit und neben einer vielfältigen anderweitigen literarischen Produktion erbrachte Gesamtleistung verdient hohe Anerkennung. Ähnliches gelingt heute fast nur noch in Gemeinschaftsarbeiten mehrerer auf Teilgebiete spezialisierter Autoren und daher um den Preis der Geschlossenheit. R.s Werk trägt in der Arbeitsweise und den Maßstäben ein einheitliches Gepräge. Es erhebt keine wissenschaftlichen Ansprüche im engeren Sinn, bietet keine Neuentdeckungen und besticht nicht durch kühne Perspektiven, füllt aber eine schon oft beklagte Lücke.

Der erste Band beginnt, wo R. ganz zu Hause ist, nämlich mit dem AT, das, wie heute immer mehr gesehen wird, schon viel Auslegung enthält. Es folgen die Septuaginta, die Qumran-Texte und Philo als Repräsentanten der Zeit "zwischen den Testamenten", in einem ausführlichen Kapitel "das AT im NT" und endlich unter der Überschrift "Die ersten nachchristlichen Jahrhunderte" die frührabbinische Schriftauslegung, die Apostolischen Väter (Barn, 1Clem), Justin, Marcion, Irenäus und Origenes. R. zielt darauf ab, "durch ausführliche Einzelbeispiele und reichliche Zitate" dem modernen Leser "die Möglichkeit zu bieten, für sich die dort entwickelten Auslegungsschritte nachzuvollziehen und so ein echtes Verständnis für ihre Anliegen und Methoden zu gewinnen"; er werde dann "mit neuer Achtung diesen Exegeten und ihren Werken gegenübertreten" (I, 201).

Der zweite Band beginnt mit Theodor von Mopsuestia und schließt mit Nikolaus von Lyra, dessen "hohe Wertschätzung" R. wegen seines Interesses am Wortsinn und seiner Anknüpfung an die jüdische Exegese "in vollem Ausmaß berechtigt" findet (II, 271), und John Wyclif, dessen durch "seinen metaphysischen, platonisch-aristotelisch geprägten Denkansatz" beeinflusstes Bibelverständnis auf ihn "abseitig" wirkt (II, 293). Auf dieser von ihm mutatis mutandis auch sonst eingehaltenen Linie verficht R. beim Durchgang durch die Schulen und Theologien die These, dass Theologie "nach dem bis ans Ende des Mittelalters gültigen Verständnis sacra pagina, Studium der Heiligen Schrift" ist und ihr auf ihre humanistischen Gegner zurückgehender "Ruf einer weitgehend verstandesmäßig argumentierenden Scholastik" sie nicht trifft (II, 289).

Ebenso verteidigt R. die Orthodoxie anhand von Abraham Calov gegen die Behauptung ihrer Gegner, sie sei "ohne Leben" gewesen (III, 233). Das geschieht am Ende des dritten Bandes, der, weil sein Thema trotz kürzerer Dauer bunter und abwechslungsreicher ist als das des zweiten, auch seinerseits lebendiger wirkt. Dem Hauptteil, der natürlich von der Reformationszeit handelt, geht voran "Die Bibel in Renaissance und Humanismus" und folgt "Die Bibel zur Zeit von Gegenreformation, Späthumanismus und Orthodoxie", wobei für diese drei Größen die Namen Maldonatus, Grotius und Calov stehen.

Mit Abstand am umfangreichsten und doch kaum umfangreich genug ist der vierte Band. An seinem Anfang überschneidet er sich mit dem dritten: Matthias Flacius Illyricus, mit dem er beginnt, ist ein Jahrhundert älter als Calov, mit dem der dritte geschlossen hat. Durch Aufklärung und Pietismus führt der Weg ins 19. Jh., dem knapp 100 Seiten gewidmet sind, worauf nach einem Zwischenkapitel von 40 Seiten über die Religionsgeschichtliche Schule das 20. Jh. gerade noch 30 Seiten bekommt: 25 Seiten über Barth und Bultmann und 5 mit einem "Ausblick". Das ist schade. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren Barth und Bultmann nicht allein auf weiter Flur, und mag die folgende Generation "für den Verfasser noch weitgehend zu den Zeitgenossen" gehört haben, für deren angemessene Würdigung "ein größerer Zeitabstand geboten" scheint (IV, 9), so lässt sich dem doch entgegenhalten, dass den heute Studierenden gerade hier eine Orientierung gut täte, zu der gerade R. durchaus imstande wäre; seine vorwiegend gewählte Methode der Darstellung ließe sich auch im geringen Zeitabstand unschwer anwenden.

Diese Methode verfährt individualisierend. In kurzen Abschnitten werden das Leben und die Werke derjenigen Theologen vorgeführt, die R. als besonders repräsentativ erachtet. Diese Portionierung hat sicherlich die Arbeit erleichtert, und sie erleichtert auch die Lektüre, vor allem wenn sie nicht in einem Zuge zu geschehen braucht und man sich eher über einzelne Figuren informieren möchte.

Eine auch didaktisch nützliche Orientierungshilfe sind die pointierten Überschriften, die vom dritten Band an durchgehend das gleiche Schema haben: "Vom Judentum lernen" (Reuchlin), "Die Bibel als inspiriert verteidigen" (Calov), "Ethische Gebote aus dem Neuen Testament schöpfen" (Locke), "Nur Vernünftiges in der Bibel finden" (Toland), "Den Geist gegen den Buchstaben hochhalten" (Lessing), "Die Bibel menschlich verstehen" (Herder), "Den neutestamentlichen Text verbessern und die synoptische Frage voranbringen" (Griesbach), "Wunder natürlich erklären" (Paulus), "Auf Hegel und de Wette eine Biblische Theologie begründen" (Vatke), "Das Alte Testament vom Rationalismus befreien" (Hengstenberg), "Die Quellen der Evangelien historisch-kritisch ermitteln" (Holtzmann), "Die Religionsgeschichte Israels erforschen und eine alttestamentliche Literaturgeschichte entwerfen" (Gunkel), "Die Botschaft des Neuen Testaments existential auslegen" (Bultmann) usw. In einem Zuge vollständig hintereinander gelesen ergeben diese Überschriften eine Geschichte im Zeitraffer und laden dazu ein, sich vorzustellen, wie etwa eine einbändige Darstellung aussehen könnte, an die R. zunächst gedacht hat, die er aber dann nicht geschrieben hat, weil sie "wenig anschaulich gewesen wäre" (I, 201) - was indessen nicht notwendig so sein muss.

Das Nacheinander (manchmal auch Ineinander) von Kurzbiographie und Referat über die Hauptwerke soll die Verbindung andeuten, "die zwischen Lebensumständen, geistig-kulturellem Hintergrund und der jeweiligen Sicht der Bibel besteht" (IV, 9). Muss man dafür aber die bevorzugte Lektüre des Vaters von D. F. Strauß (IV, 240), Frau Wellhausens Krankheit (IV, 303) oder die Vornamen von de Wettes zweiter und dritter Frau (IV, 240) kennen, die dann im Register wieder auftauchen, in dem man umgekehrt Namen wie Bonhoeffer, Buber, Geddes, Geiger, v. Hofmann, Kittel, W. R. Smith oder W. Vischer vergeblich sucht? Dem "geistig-kulturellen Hintergrund" und den größeren Zusammenhängen - sie fehlen nicht - hätte man mehr Raum gegönnt, wodurch das Ganze auch noch mehr Linie bekommen hätte.

Dass es immer wieder unter verschiedenen Vorzeichen und über verschiedene Einzelfragen einen oft hochdramatischen Streit um die Bibel gegeben hat und hoffentlich auch in Zukunft geben wird, der über die Grenzen von Theologie und Kirche hinaus in die Öffentlichkeit hineinwirkt, wird vielleicht manchem bei der Lektüre kaum zum Bewusstsein kommen - und angesichts der im "Ausblick" (IV, 391-396) geübten Askese auch nicht, dass die Bibelauslegung gerade heute eine ziemlich aufregende "Epoche" erlebt.

Man wünscht dem reichhaltigen, stets um Gerechtigkeit bemühten Buch, dass es benutzt wird, sowohl von dem "interessierten Leser" ohne "Spezialkenntnisse in Exegese oder Kirchengeschichte" (I, 5, III, 8), der hoffentlich bei der Lektüre nicht erlahmt, als auch von der Theologin und dem Theologen; ihnen werden am Ende jedes Bandes "jeweils die benutzten Quellen und einige wichtige Sekundärliteratur genannt, die eine Weiterarbeit ermöglichen" (III, 8).