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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

889–895

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glauben und Verstehen. Perspektiven hermeneutischer Theologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. VII, 99 S. 8. Kart. ¬ 19,90 ISBN 3-7887-1788-2.

Rezensent:

Hans Hübner

1998 hat sich die Rudolf-Bultmann-Gesellschaft konstituiert, in gewisser Weise die Nachfolgeorganisation der renommierten "Alten Marburger". Sie hat sich in besonderer Weise der Hermeneutik verschrieben. Deshalb lautet ihr voller Name Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie. Auffällig ist die Großschreibung des Adjektivs "Hermeneutisch". Man ist also der Meinung, dass die Hermeneutische Theologie in sachlicher Hinsicht eine bezeichnende, eine von ihrem Selbstverständnis her bezeichnete und gerade darin dominante Richtung der Theologie sei. Ich kann dies nur begrüßen und der Gesellschaft wünschen, dass sie ihre Stimme in einer Zeit, in der nicht wenige der Hermeneutik in der Theologie uninteressiert, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstehen, so laut zu Gehör bringt, dass sie gehört wird. Selbst nicht Mitglied der Gesellschaft und somit in der Lage, mich unbefangen zu ihr zu äußern, bin auch ich - mit ihr - der Meinung, dass eine christliche Theologie, die doch ihrem Wesen nach Offenbarungstheologie ist, mit einer Absage an die Hermeneutik ihr eigenes Fundament beseitigt. In aller Deutlichkeit: Theologia aut theologia hermeneutica est aut non est theologia. Der vorliegende Sammelband enthält die Vorträge der ersten Jahrestagung vom 2.-4. Januar 1999 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Der erste Satz des Vorworts, geschrieben von Ulrich Körtner, lautet lapidar: "Die Hermeneutik befindet sich in der Krise." In der Tat, der offensichtlich recht dramatische Verlust des hermeneutischen Bewusstseins in der Theologie ist nicht nur einer der üblichen Paradigmenwechsel im Laufe der Theologiegeschichte, die man mit Gelassenheit zur Kenntnis nehmen könnte.

Zunächst die Übersicht über die Beiträge zu dem Buch: Ulrich H. J. Körtner, Zur Einführung: Glauben und Verstehen. Perspektiven Hermeneutischer Theologie1 im Anschluss an Rudolf Bultmann; Helmuth Vetter, Hermeneutische Phänomenologie und dialektische Theologie. Heidegger und Bultmann; Oswald Bayer, Hermeneutische Theologie; Hans- Peter Müller, Handeln, Sprache, Religion, Theologie; Eberhard Hauschildt, Seelsorge und Hermeneutik. Mit einer Kurzdarstellung der Viten und Publikationen der Autoren schließt das Buch. Es ist nicht uninteressant, welche Disziplinen diese Autoren vertreten und lehren: Körtner und Bayer sind Systematische Theologen, Müller ist Alttestamentler und Hauschildt Praktischer Theologe. Erfreulich ist, dass sich auch ein Philosoph zu Wort meldet, nämlich Helmuth Vetter. Durch diesen Beitrag wird Wesentliches zum Fundament des Denkens Bultmanns gesagt. Dieser war Neutestamentler, doch erstaunlicherweise ist kein Neutestamentler unter den Autoren. Schade! Trotzdem: Dass sich die Systematische Theologie gleich mit zwei Stimmen zu Wort meldet, ist angesichts der Tatsache, dass der Neutestamentler Bultmann auch entschieden systematisch-theologisch denkt, zu begrüßen. Wenn Rezensenten von Sammelwerken immer wieder nur einen Teil der Beiträge für eine etwas genauere Besprechung auswählen, so impliziert ein solches Verfahren sicherlich eine gewisse Ungerechtigkeit. Andererseits ist es so angesichts des zur Verfügung stehenden Platzes möglich, wichtigen Gedanken das ihnen zukommende Gewicht zu schenken. Ich schließe mich daher dieser Praxis an und wähle die Beiträge von Körtner, Vetter und Bayer aus.2

Von programmatischem Gewicht ist die von Ulrich Körtner (K.) geschriebene Einführung. Sie bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. K. skizziert im 1. Abschn. "Konsequente Exegese" zunächst Bultmanns Intention, der "als Exeget ein Systematischer Theologe" war und "Systematische Theologie [...] als konsequente, d. h. auf die Existenz des gegenwärtigen Menschen ausgerichtete Exegese" verstand (1 f.). Mit Recht sagt K., dass Bultmanns "theologisches Programm [...] nicht nur einen gängigen Begriff von Systematischer Theologie in Frage [stellt], sondern auch das Selbstverständnis der Exegese"; Bultmann wolle "eine theologische Exegese der biblischen Texte, d. h. ihre Interpretation als Heilige Schrift" (2). In der Tat, es ist Bultmanns großes Verdienst, mit dieser Absicht eine die Theologie im hohen Maße bereichernde Innovation substantieller Art geschaffen zu haben. Es mindert dieses Verdienst nicht, dass - natürlich aus dem Rückblick von Jahrzehnten! - der Vollzug seiner Exegese einige nicht geringe Schwächen aufweist, vor allem in religionsgeschichtlicher Hinsicht, in historischen Urteilen und in seiner z. T. unklaren Heidegger-Rezeption. Und noch eine weitere Zustimmung: Zutreffend stellt K. heraus, dass für Bultmann der praktische Charakter der Theologie "in ihrem Lebensbezug [besteht], dem lebensmäßigen Verhältnis zu den biblischen Texten und ihrem Gegenstand, der die Möglichkeit zum Praktisch-werden enthält"; praktisch werde die Theologie nicht dadurch, dass "sie die Einsichten historisch-kritischer Exegese irgendwann hinter sich läßt [...], sondern sie ist es oder ist es nicht im Vollzug historisch-kritischer Auslegung" (3).

Mit vollem Recht verweist K. auch darauf, dass für Bultmann "theologische Exegese [...] Schriftinterpretation des Glaubens [ist], d. h. eine solche, die im Glauben als der Beziehung zum Gegenstand, zur Offenbarung klarstellt, was die Schrift sagt" (3). Was K. dazu weiter ausführt, ist die sachgemäße Darstellung der Konzeption Bultmanns. Müsste aber nicht an genau dieser Stelle der kritische Dialog mit seiner Hermeneutischen Theologie einsetzen? Bultmanns Grundintention habe ich zwar voll zugestimmt. Doch hängt alles daran, wie er das hermeneutische Verhältnis von Theologie, Wahrheit, Geschichte und Glaube bestimmt. Folgen wir aber zunächst noch einmal K.s Referat!

Nach Bultmann ist es die einzige Vorbedingung einer theologischen Interpretation, dass wir die Neutralität dem Text gegenüber aufgeben; dadurch beherrsche die Wahrheitsfrage die Exegese. Den biblischen Text versteht also nur, wer sich dem von ihm erhobenen Anspruch öffnet. Der Glaube ist nach Bultmann die notwendige Weise, den Text zu verstehen und so in diesem Verstehen sich selbst zu verstehen. Also: Das Verstehen des Textes ist das glaubende Verstehen seiner selbst. Den biblischen Text hat nur verstanden, wer sich selbst darin neu versteht. Insofern konvergieren, wenn ich K. richtig verstehe, sein und mein Bultmann-Verständnis. In dieser Intention zitiert K. eine Stelle aus seiner "Theologischen Enzyklopädie"3 (4):

"Theologie ist eigentlich und immer historische Theologie. Die Rückwendung der Theologie zur Geschichte ist dabei keine grundsätzlich andere als in jeder Geschichtswissenschaft, d. h. sie ist die unter dem in der Gegenwart vernommenen Anspruch der Zukunft erfolgende kritische [!]4 Rückwendung zur eigenen Geschichte. Zum Glauben wird [!] diese Rückwendung, wenn sie den Anspruch dieses geschichtlichen Faktums (Faktums meiner Geschichte), der Schrift, anerkennt, was nicht als Voraussetzung vor der Interpretation erledigt sein kann, sondern sich nur in ihr vollzieht."

Mit K.: Für die Theologie als historische Wissenschaft (wozu auch die Exegese zählt) wie auch für die Geschichtswissenschaft gilt, nicht "Historie mit neutraler Beobachtung der Vergangenheit" zu verwechseln. Die praktische Konsequenz aus diesen Überlegungen ist Bultmanns Programm der existentialen Interpretation mit ihrer Kehrseite, der Entmythologisierung. Diese Art des Vollzugs der Schriftauslegung werde als Schriftauslegung des Glaubens praktisch, und dieser Begriff und die Durchführung der Sache seien in starkem Maße durch das intensive Gespräch mit Martin Heidegger angeregt worden. Bultmann sei weder von Heidegger abhängig gewesen noch dessen Epigone, auch nicht der Diltheys. In der Tat wird aus seinem Jesus-Buch (1. Aufl. 1925), das er nach eigenem Zeugnis vor seinem ersten Kontakt mit Heidegger geschrieben hat, ersichtlich, dass er schon damals geschichtlich dachte. Diltheys Werke hat er zu dieser Zeit schon (zumindest partiell) gekannt und wohl auch aus ihnen philosophisch zu denken gelernt, ohne dass man ihn, wie K. richtig sagt, zu seinem Epigonen machen dürfte.

Weithin stimme ich also K. in seiner programmatischen Einführung zu. In einem solch einführenden Abschnitt hätte ich mir allerdings gewünscht, dass er auch auf die schwierige Problematik der Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Theologie als Wissenschaft bei Bultmann zumindest hingewiesen hätte. So wäre es hilfreich gewesen, in diesem Zusammenhang auf seinen Aufsatz "Theologie als Wissenschaft" (ZThK 81, 1984, 447-469) kurz einzugehen. Die Problematik besteht ja darin, dass Theologie als Wissenschaft nach Bultmann ein objektivierendes Verfahren ist, in dem begründendes begriffliches Denken konstitutiv ist. Nun geht es ja nach Bultmann in der Theologie um die begriffliche Explikation des Glaubens (als fides quae creditur und fides qua creditur), der aber - wiederum nach Bultmann - essentiell nicht objektivierbar ist. Wie ist aber Theologie - für Bultmann Glaubenswissenschaft! - als begrifflich begründendes und objektiviertes Denken möglich, wenn die fides quae nur im Glauben verstehbar ist? Kann dann auch die begrifflich definierte theologische Aussage über die Glaubensaussage nur vom Glaubenden oder von jedem Denkenden verstanden werden? Ist aber Gott kein definierbarer Begriff, weil Gott nicht begrifflich de-fin-ierbar ist, kann dann der Nichtglaubende - als Realität! - überhaupt verstehen, was im Neuen Testament mit ho logos ausgesagt ist? Bultmann selbst sagt, dass der Gegenstand der Theologie dem außergläubigen Dasein nicht sichtbar sei (ib. 467). Andererseits aber sagt er, Theologie sei nicht die Wissenschaft von Gott. Wohl habe nämlich das menschliche Dasein [als solches] den Begriff Gott; lasse sich doch dieser wissenschaftlich klären und ausarbeiten. Aber "eben solches Wissen um den Gottesbegriff wäre nur ein Wissen vom Menschen, zu dem die Gottesfrage gehört, also keine Theologie als Wissenschaft von Gott" (ib. 452). Wenn es also nach Bultmann unmöglich ist, Gott zu objektivieren, so bleibt Theologie eine rein innerkirchliche Angelegenheit, die auf Begrifflichkeit für ihre zentralen Aussagen, in denen es um Gott geht, weder angewiesen ist, noch solche Begriffe im strengen Sinn des Wortes überhaupt bilden kann. Ist aber Theologie Explikation der nur vom Glaubenden kraft seiner fides qua verstehbaren fides quae, so ist diese fides quae auf Explikation für ein vertieftes Verstehen des bereits im Glauben Verstandenen angewiesen, aber eben nicht auf begriffliche Explikation. An dieser Frage sollte auch die Bultmann-Gesellschaft weiterarbeiten.

Auf Theologie als solche kommt K. erst im 2. Abschnitt "Hermeneutische Theologie oder theologische Hermeneutik?" zu sprechen. Mit Recht sagt er, dass Bultmann die fundamentaltheologische Bedeutung der Hermeneutik für alle theologischen Disziplinen zum Bewusstsein gebracht habe. Er spreche von theologischer Hermeneutik, während der Begriff hermeneutische Theologie aus seiner Schule stamme. Bultmanns Begriff sei "freilich vor dem Mißverständnis geschützt [...], eine Hermeneutica sacra vormodernen Zuschnitts zu sein" (6). Zum Begriff hermeneutica sacra wäre zwar einiges zu sagen, ebenso zu anderen Überlegungen K.s im 2. Abschnitt; es würde aber den Rahmen dieser Rez. zu sehr sprengen. Zitiert sei nur noch ein bezeichnendes Urteil von Klaus Scholder aus dem Jahre 19715, das K. anführt: "Die Hermeneutik wurde von ihrem Thron gestoßen, und wer heute noch nach ihr fragt, beweist damit nur, daß er von gestern ist."

Der 3. Abschnitt "Religion des Wortes - Zur Zukunft der Wort-Gottes-Theologie" bringt Überlegungen von eminenter Wichtigkeit. Er nennt als radikalen Kritiker der Wort-Gottes-Theologie den verstorbenen Wiener Systematiker Falk Wagner, der - wie auch andere - ihr gegenüber den Vorwurf erhebt, sie habe "den deutschsprachigen Protestantismus in eine Sackgasse geführt und mit dem Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts eingeleitete notwendige Transformationsprozesse unterbrochen" (14). Deshalb sei sie ein Teil der Krise des Christentums in der Moderne, sogar Ursache für ihre Verschärfung. K. nennt auch noch Trutz Rendtorff, der der Wort-Gottes-Theologie das Programm einer ethischen Religion gegenüberstellt. K. hält diesem den Kern der reformatorischen Theologie negierenden Theologieverständnis u. a. mit Recht Folgendes entgegen; ich zitiere bewusst etwas ausführlicher (16 f.):

"Der Begriff des Wortes Gottes bzw. des Kerygmas im Sinne Bultmanns bezeichnet den Sachverhalt, daß im Christentum sprachliche Vollzüge mit Anredecharakter der Ort von Gotteserfahrungen sind. Insofern kann der Begriff des Wortes Gottes durchaus undogmatisch rekonstruiert werden. Bultmanns Theologie, insbesondere sein Programm der existentialen Interpretation des Neuen Testaments bleibt für eine undogmatische, zugleich der Ethisierung widerstehende Theologie des Wortes Gottes vorbildlich. [...] Was aber heutige Versuche betrifft, im Anschluss an Troeltsch neue Programme eines Kulturprotestantismus aufzulegen, so gibt noch immer das Urteil Bultmanns über Troeltsch als den großen Aporetiker der liberalen Theologie zu denken."

Da der Rez. vom Neuen Testament und als lutherischer Theologe von der reformatorischen Theologie aus denkt, kann er K. für diese klare Stellungnahme gegen eine der Wort-Gottes-Theologie substantiell widersprechende Auffassung nur sehr dankbar sein!6 Welches - unverzichtbare! - Menschenbild liegt der Wort-Gottes-Theologie zu Grunde? Es ist das Bild des Menschen, der von seinem Wesen her angeredet werden kann und gerade darin Mensch ist, der in Korrespondenz dazu von seinem Wesen her andere anreden kann. Kurz, der Mensch ist das wesenhaft dialogische Wesen (man denke an Martin Bubers Grundworte Ich-Es und Ich-Du!). Ist aber Gott der, der als Ich und als Du dem Person-Sein des Menschen ent-"spricht", so ist Offenbarung - also Wort Gottes - derjenige theologische "Begriff", der in der personalen Begegnung von Gott und Mensch seine Voraussetzung hat.

Der Wiener Philosoph Helmuth Vetter (V.) hat seinem Beitrag den Doppeltitel "Hermeneutische Phänomenologie und Dialektische Theologie - Heidegger und Bultmann" gegeben. Die Zuordnung "Hermeneutische Phänomenologie - Heidegger" ist zutreffend, die Zuordnung "Dialektische Theologie - Bultmann" lässt jedoch fragen, ob sie ganz angemessen ist. Denn gerade derjenige Theologe, der die Dialektische Theologie schuf, Karl Barth, hat bekanntlich von der hermeneutischen Phänomenologie wenig wissen wollen. Die Zusammenarbeit zwischen Bultmann und Heidegger war ihm stets suspekt.

Nach biographischen Vorbemerkungen thematisiert V. die Bedeutung der Gottesfrage für Heidegger. Damit hat er das anstehende Problem in die richtige Richtung gelenkt. Denn es stimmt schon, dass Heideggers Bruch mit dem System des Katholizismus - so Heidegger am 9. Januar 1919 an Engelbert Krebs - nicht einen Bruch mit dem theologischen Denken implizierte. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass er zeit seines Lebens mitten in seinem philosophischen Denken ein theologischer Denker blieb. V. ist darin zuzustimmen, dass "Heideggers Begegnung mit Nietzsche [...] von Anfang an unter dem Vorzeichen der Suche nach einer ursprünglichen religiösen Erfahrung" stand (23). Er zitiert Gadamer, der, ebenso mit Recht, erklärt, dass es "ganz irreführend [sei] zu denken, daß Nietzsche wegen der atheistischen Implikationen seines Denkens für Heidegger bedeutsam wurde"; das Gegenteil sei der Fall (24).

Dem Wiener Philosophen ist wichtig, dass für Bultmanns theologische Arbeit die frühen Freiburger Vorlesungen Heideggers wichtig waren. Er vermutet, dass es diese Vorlesungen waren, die Heidegger in der gemeinsamen Marburger Zeit mit Bultmann erörtert hat. Er sieht folgende Parallele zwischen beiden: Während Heidegger mit der Frage nach der philosophischen "Urwissenschaft" begonnen und sich gegen "Weltanschauung" und "Wissenschaft" abgegrenzt habe, habe aus Bultmanns Sicht die historisch-kritische Theologie zumeist unreflektiert weltanschauliche Wurzeln, weshalb sie die Christenheit als kultursoziologisches Phänomen interpretiere (27).

V. behandelt dann die Hermeneutik der Faktizität bei Heidegger und die Faktizität und Historizität bei Bultmann. Er spricht von dessen "dialektischer" Interpretation des Neuen Testaments, auch im Blick auf Kierkegaards "Dialektik der Mitteilung". Vor allem thematisiert er Bultmanns Auslegung des Neuen Testaments unter dem Gesichtspunkt von Geschichte und Geschichtlichkeit des Daseins als Sein-Können.

Der Beitrag endet mit abschließenden Bemerkungen zum Verhältnis von Heidegger und Bultmann. V. wehrt sich gegen die Auffassung, Bultmann sei einseitig von Heidegger abhängig. Es gebe vielmehr Wechselwirkungen der beiden aufeinander. Damit dürfte er auf jeden Fall recht haben. Vor Heidegger hatten Kierkegaard und Dilthey Einfluss auf sein Denken - freilich so, dass Bultmann in theologischer Intention der eigenständige Denker blieb. V. stellt dann noch die Frage, warum Heidegger nicht den Weg des christlichen Glaubens gegangen sei. Seine Antwort (37): "Gewiß nicht, weil er um jeden Preis an der Philosophie festhalten wollte, sondern weil ihm der Gottesbegriff aus der Erfahrung des Zeitalters zutiefst fragwürdig geworden war, vor allem aus der Begegnung mit der von Nietzsche artikulierten Erfahrung vom Tod Gottes."

An dieser Antwort ist Wesentliches richtig. Aber die eigentliche Antwort müsste den 1936-1939 geschriebenen und erst postum veröffentlichten Schriften Heideggers entnommen werden. In ihnen erweist er sich als ein vom seinsgeschichtlichen Denken aus die Gottesfrage thematisierender Philosoph, der gerade als Philosoph Theologe ist.7 Allerdings geht dies über die Thematik, die sich V. gestellt hat, hinaus. Ich habe aber auf sie aufmerksam gemacht, weil nur der Blick auf den späten Heidegger die Frage beantworten kann, die V. selbst gestellt hat. Kritisch ist aber meine Frage gemeint, warum V. nicht näher auf diejenigen Aufsätze Bultmanns eingegangen ist, in denen Bultmann seine Sicht der Philosophie Heideggers ausdrücklich thematisiert hat. Ich nenne hier nur: Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube. Antwort an Gerhardt Kuhlmann (1930) und, wenn auch ohne thematischen, wohl aber sachlichen Bezug auf Heideggers Philosophie, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments (1925). Insgesamt ist die Studie V.s für den Theologen insofern instruktiv, als in ihr die Perspektive dessen deutlich wird, der von der Philosophie her - V. ist exzellenter Kenner Kierkegaards und Heideggers- die Hermeneutik Bultmanns in den Blick nimmt. V. lässt also den Theologen Bultmann mit den Augen des Philosophen verstehen. Er lässt ihn über den Tellerrand eines "bloß" theologischen Horizontes hinausblicken. Dafür gebührt ihm Dank.

Oswald Bayer (B.) hat seinem Beitrag die kürzeste, aber zugleich programmatischste Überschrift gegeben: Hermeneutische Theologie. Ebenso kurz und bündig formuliert er sein theologisches Programm (39): "Christliche Theologie ist hermeneutische Theologie." Er sagt damit genau das, was ich zustimmend zu K. gesagt habe. Die verbale Übereinstimmung zwischen uns geht aber noch weiter. Unabhängig voneinander haben wir Gott mit demselben Prädikat bedacht, er in deutscher Sprache "Gott selbst [ist] Hermeneut" (45), ich mit der lateinischen Wendung "Deus hermeneuticus".8 In diesem Sinne kann B. sagen (45): "Weil Gott selbst Hermeneut ist, muß Theologie hermeneutische Theologie sein." Besser kann das Wesen christlicher Theologie nicht zum Ausdruck gebracht werden! B. begründet diese Bestimmung der christlichen Theologie zutreffend mit Joh 1, 14. Denn der Logos, dessen Gott-Sein bereits in Joh 1,1 f. mit Nachdruck herausgestellt wird und so das personhafte Wort Gottes an die Menschen ist, wurde nach Joh 1,14 Mensch. Ich sage es einmal so: Gottes Ewigkeit wurde Zeit und Geschichte. Mit Joh 1,14 hat B. also eine bestens geeignete neutestamentliche Aussage zum theologischen Ausgangspunkt gewählt.

Nun geht es B. bei seiner Auffassung von der christlichen Theologie als hermeneutischer Theologie im Rahmen der ersten Tagung der Bultmann-Gesellschaft um das Verhältnis seines Theologie-Verständnisses zum Theologie-Verständnis Bultmanns. Sein eigenes Hermeneutik-Verständnis sieht B. im Gefälle vom deus dicens zum homo recipiens und spricht in diesem Zusammenhang von der Asymmetrie von Empfangen und Überliefern (39f.). Entscheidend für B.s Anliegen ist seine Charakteristik der Hermeneutik Schleiermachers: Das "unmittelbare religiöse Selbstbewußtsein" in der Subjektivität des Menschen und sein subjektives "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" führen in die reine Immanenz zurück. So versteht B. dessen Hermeneutik als "Hermeneutik des Rückgangs" oder "Hermeneutik des Ausdrucks" (41). Bultmanns Hermeneutik wiederhole nur diese Hermeneutik. Ihr stellt B. seine Hermeneutik gegenüber, die von dem als promissio widerfahrenen Wort und nicht vom gläubigen Selbstverständnis ausgeht. Eine so verstandene Theologie "macht als Analytik der Sprache der Verkündigung das Ende des Leitfadens alles theologischen Fragens dort fest, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt" (43). Als die beiden Elemente dieser Theologie nennt B. Gott und Wort. Eine so konzipierte hermeneutische Theologie werde "ihrer Weite und Tiefe nur in einer schöpfungstheologischen Besinnung inne", und zwar unter der Voraussetzung, "daß die Schöpfungslehre als Worttheologie entwickelt und sprachphilosophisch reflektiert ist" (45). Bleibe die Identität von Gottes Reden und Gottes Handeln gewahrt, so komme Gott der Titel des "Poeten" zu (46): "Gott - ein Schriftsteller!"9

So sehr ich der bereits skizzierten Voraussetzung B.s folge, mehr noch: sie selbst vertrete, wonach Theologie ihrem Wesen nach hermeneutische Theologie ist, so wenig kann ich Bultmanns Theologie der existentialen Interpretation im Gegensatz zu einer Theologie sehen, deren Konstituenten Gott und Wort sind. Man mag über Bultmanns Verständnis vom Wort als Wort Gottes diskutieren. Und sicherlich sind hier kritische Anmerkungen möglich und auch erforderlich. Aber dass Bultmann seine theologischen Wurzeln auch in Luthers Theologie hat (dessen Römerbriefvorlesung!) und in diesem Sinne das Wort als Gottes an uns wirkendes Wort versteht, lässt sich nicht bestreiten. Nun gibt es allerdings eine lange Zeit zurückliegende, freundschaftlich geführte Kontroverse zwischen B. und dem Rez. aus der gemeinsamen Zeit der Forschung und Lehre an der Bochumer Fakultät über die frühe Theologie Luthers: Ich habe in meiner Dissertation "Rechtfertigung und Heiligung in Luthers Römerbriefvorlesung" (Witten 1965) diese Vorlesung schon als Dokument des reformatorischen Durchbruchs transparent zu machen versucht, B. jedoch im Gefolge von Ernst Bizer und Kurt Aland in "Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie" (Göttingen 1971) die Spätdatierung vertreten. Diese Spätdatierung basiert entscheidend auf einer bestimmten Interpretation des Wortes bei B. als promissio.

Ich frage nur, ohne die Diskussion hier führen zu können: Könnte die unterschiedliche Wertung der Theologie Bultmanns auch auf einem unterschiedlichen Verständnis der Rolle des Wortes für die Genese der refomatorischen Erkenntnis Luthers zusammenhängen? Greifen hier die unterschiedlichen Auffassungen über die Hermeneutik Luthers und die Hermeneutik Bultmanns beim unterschiedlichen Urteil über das Wort bei Bultmann ineinander? Zeigt sich hier wieder einmal, dass Hermeneutik, neutestamentliche Theologie und Lutherforschung in einem engen, inneren Zusammenhang stehen?

Ich hätte noch eine Reihe von Fragen an B., u. a. an seine Ausführungen über die Eigenschaften Gottes, doch dürfte mit dem Gesagten die Kernfrage an B.s Denkrichtung hinreichend zum Ausdruck gebracht sein. Rückblickend sei gesagt: Ich werte die Übereinstimmung in der Auffassung von Theologie als Hermeneutischer Theologie höher als die Differenzen über die Hermeneutik Bultmanns, zumal über sie noch großer Diskussionsbedarf besteht.

Fussnoten:

1) Warum heißt es aber im Untertitel des Buches "Perspektiven hermeneutischer Theologie"? Ist die Kleinschreibung des Adjektivs ein Druckfehler?

2) Bei Eberhard Hauschildt habe ich deshalb ein gutes Gewissen, weil ich seine - gute! - Dissertation in einer Sammelbesprechung von Bultmann-Publikationen bereits ausführlich gewürdigt habe: ThLZ 120, 1995, 7-12.

3) R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hrsg. von E. Jüngel u. K. W. Müller, Tübingen 1984, 169.

4) Beide Ausrufungszeichen in eckigen Klammern von Körtner gesetzt.

5) K. Scholder, Einführung, VF 16, 1971, (1-4)1.

6) Inzwischen hat er seine Auffassung von einer Wort-Gottes-Theologie in einer diskussionswürdigen und einer der Diskussion bedürftigen Monographie ausführlich expliziert: U. H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen - Probleme - Perspektiven, Göttingen 2001.

7) S. meine Aufsätze in Schriften der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Bd. 5, und in: Heidegger Studien, 1999 und 2002, auch meinen Beitrag auf dem Hermeneutik-Kongreß der Tschechischen Akademie der Wissenschaften im Herbst 2001: Die Spätphilosophie Martin Heideggers und die Hermeneutik des Neuen Testaments. Zuspruch des Seyns und Zuspruch Gottes, jetzt in: P. Pokorny' [Hrsg.], Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis, Tübingen 2002.

8) S. zu dieser Formulierung H. Hübner, Deus hermeneuticus, in: Th. Söding [Hrsg.], Der lebendige Gott, FS Wilhelm Thüsing (NTA 31), Münster 1996, 50-58.

9) S. dazu von seinen Publikationen vor allem O. Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999.